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Die alten Steine der Außenmauer stehen noch, manche etwas verstreut zwar, trotzen sie doch widerwillig dem Alter und auch dem Auge, starren immer noch zurück, hüten ihre Geheimnisse wohl unter der Patina von grünem Moos.
Der alte Kaminzug, längst verfallen, umgestürzt und niedergebeugt, teilt seinen Platz mit Löwenzahn und wildem Efeu, dass ihn durchrankt und ihn wie in einer Umarmung zu halten scheint. Er hat nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu geben, nur noch den Stolz eines erlegten Tieres aufzubieten, und nur tote Erinnerungen rinnen aus den weiten Rissen im Gemäuer.
Erbaut, so sagen die Leute im Dorf, wurde es vor langer Zeit, das Bauernhaus, in dem dunklen Kriege, der das Land einst vom Meer bis an die großen Berge im Süden ertränkte, lange ist das her, sehr lange, die Menschen nennen es die dunkle Zeit, wenn sie doch einmal davon reden, sie sprechen nicht gern davon.
Die Steine erzählen nichts von dunklen Zeiten, sie sprechen nicht mehr, halten trotzig jeder Beobachtung stand und verraten nichts, und ihr sommertagsheißes Schweigen mischt sich mit den Geräuschen von Vögeln und Insekten, die den Ort erobert haben wie einst die Soldaten in eben diesem Kriege.
Der fleißig und aufmerksam aus ehemals weißen Kacheln gebaute Fußboden, von Rissen durchlöchert, die der Wildwuchs lange schon für sich eingenommen hat, dient nun nur noch den Ameisen aus dem nahen Wald als Heimstatt. Auch er schweigt, lässt die Ameisen ruhig gewähren, und auch wenn die Kinder im Dorf unten manchmal angstvoll den Geschichten über Hexen und Dämonen lauschen, die hier lauern sollen, so ist der Boden und das ganze Haus doch starr und still, tot, gefangen in einer Art Verachtung für die, die es vergessen, dem Verfall preisgegeben haben.
Würde man hier graben, leicht würde man auf Spuren stoßen, Spuren aus Hunderten von Jahren, Spuren vom Haus und seinen Bewohnern.Viele Generationen von Familien haben es bewohnt, Hunderte von Kindern auf seinem ehemals stolzen Dachboden geträumt, Dutzende Eheleute sich unter seinen Türbalken geküsst. Und ein wenig von jedem Bewohner steckt in diesem Haus und im Boden darum, viel ist es nicht, denn viel ist bereits verloren, viel verrottet oder weit davon gespült. Manchmal nehmen die Kinder aus dem Dorf etwas mit, den kleinen Löffel eines uralten kleinen Buben mit blonden Haaren etwa, der im Boden geglänzt hat, sie verstehen seine Geschichte nicht, und so geht auch er verloren. Auch über das Haus selbst könnte der Boden viel erzählen, so etwa von den Feuersbrünsten, die das Haus oftmals niedergebrannt haben, und deren Spuren noch in den schwarz-kohlenden Holzsplittern zu finden sind, tief verborgen im sandigen Grund.
Die Steine, sie erinnern sich genau an jeden der Bewohner. Jedes Gesicht, längst schon kalt und verrottet, ist für sie noch lebendig. Der Gram lässt sie darüber schweigen, doch an einem schönen Tage kann man es an ihnen ablesen, in den tief verrunzelten Scharten im Stein erkennen, die vielen sorgsam gehüteten Erinnerungen, soviele Willkommensgrüße und Abschiede, soviel Freude und auch Trauer. Und auch die Ältesten im Dorf könnten sich niemals messen mit der Weisheit, die diese Steine besitzen.
Doch sie sprechen nicht mehr, nicht etwa aus der kindischen Verletztheit eines jungen Menschen heraus, nein, es ist die abweisende Verachtung eines Alten, der eine schwere Mißachtung ahndet, ruhig, mit aller Zeit der Welt.
Bald werden auch die Steine verschwunden sein. Jedes Jahr werden sie weniger, einige zerbröckeln einfach, werden vom Wind davon getragen, andere werden von den Dorfbewohnern geraubt, und so geht in stürmischen Nächten oft ein Seufzen durch die alten Mauern, denn auch die vielen Bewohner, die vielen Menschen, denen dieser Ort einst Schutz oder gar einen Platz zum Leben bot, auch sie werden mit den Steinen und dem Seufzen verschwinden.
Hunderten von Jahren hat das Haus standgehalten, hat oft Unheil abgehalten und viel eingesteckt, wortlos, zufrieden. Und immer ist es lebendig geblieben, hat niemals nachgegeben. Bis das Vergessen kam.

„Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ – Bertolt Brecht

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