Master/Slave (1) Diesen Artikel drucken

Der Frühstückstisch war gedeckt, präzise, akkurat, scheinbar mühelos in Perfektion zusammengestellter Chromglanz, dazwischen weiße Porzellanteller, poliert, das Licht müde spiegelnd. Ein hoher Raum, identitätslos, nur ein stilles weißes Grinsen an den Wänden, eine nichtssagende Kücheneinrichtigung, leer, sauber. Er saß auf seinem Stuhl, sie auf ihrem, es war 9:03 Uhr, das wusste er genau, denn er schlug gerade sein Ei auf, schlug immer sein Ei auf um 9:03 Uhr.
Die Zeitung lag auf dem Tisch, sauber gefalzt, die Titelseite nach oben, die Schrift zu ihm gerichtet, drei Zentimeter von dem dunkel eingefassten Rand der Tischplatte entfernt. Er nahm einen Bissen von seinem Ei. Erst essen, dann lesen, beides zugleich konnte er nicht..
Kleine, glänzende Löffel, Messer, die über das Porzellan rasen, ein stummer Tanz von Händen, die Buchstaben in die Luft zeichnen, eine technische, scharfkantige Schrift.
Kein Wort wurde gesprochen, es war auch nicht nötig, dachte er, es war nicht notwendig, dies hier war der Frühstückstisch, es gab keinen Grund, keine rationalen Erfordernisse, wie er gerne sagte, es keinerlei Grund dazu, hier zu sprechen, er blickte in das ausdruckslose Gesicht ihm gegenüber und erkannte sich selbst, nein, es gab keinen Grund, es war perfekt so, die Funktionalität war perfekt, perfekt.
Er blickte auf die Uhr, orientierte sich an den schleichenden Zeigern, es war Zeit für das Brötchen, er führte das Messer mit einer langsamen, geschmeidigen Bewegung, die Augen fest an die Schnittlinie geheftet. Bissen um Bissen aß er, nicht hektisch, aber auch nicht langsam, er hasste diese Art von Trägheit, die manche Menschen beim Essen an den Tag legten, dieses scheinbare Lebensgefühl, dieses Genießen, hinter der sich eine simple Charakterschwäche verbarg, er dachte kurz an einen Schulfreund, an den er sich noch blaß erinnerte, ein Gesicht unter vielen, die schon gegangen waren, während er zurückgeblieben war, ja, er war so ein Mensch gewesen, müde und träge und unendlich genießerisch. Er hatte immer gelacht und gescherzt und gesprochen beim Essen, immerzu, furchtbar, er sah nicht den Sinn dahinter, es war sinnlos, irrational, es gab nun einmal die Zeit des Amüsierens und die Zeit der Nahrungsaufnahme, es war unlogisch beides zu vermischen, warum sollte man auch, es war kindisch.
Die Frau und er, sie hatten nie Kinder gehabt. Vielleicht hatte sie Kinder gewollt, er wusste es nicht genau, sie hatten nie darüber gesprochen. Er selbst es nie gewollt, Kinder machten ihn unsicher, sie waren unberechenbar, stellte er lakonisch fest, sie wussten nichts von Strukturen und Regeln, auch wenn er nicht daran zweifelte, dass er ein guter Vater gewesen wäre.
Er besann sich zurück auf den Teller vor sich und griff zu dem Behälter, der immer rechts in der Mitte des Tisches stand, mit Kanten, die parallel zu denen des Tisches verliefen.
Er war zu leicht, er sah kurz hinein, leer.
Die Frau sah zu und ließ für einen kurzen Augenblick das Messer in ihrer Hand nach unten kippen, so dass die Schneide fast den Tisch berührte, er befürchtete schon, sie würde das makellose Schwarz des Tisches verunreinigen, dann schien sie sich daran zu erinnern und hob die Klinge in einer steifen Bewegung wieder an, sie hatte wohl wieder diese Schmerzen im Handgelenk, dachte er und sah sie argwöhnisch an.
„Wir haben keine Milch mehr. Ich muss heute einkaufen.“ sagte sie in einem lakonischen Tonfall, ein leichte Vibration schwang darin mit, wie ein Lüfter, der nicht ganz rund lief, es musste ihr Handgelenk sein, schloß er, ja, das war logisch, deshalb war sie so unkonzentriert gewesen, er blickte sie noch einen Augenblick an, dann ließ er das Mißfallen wieder aus seinen Augen weichen und ersetzte es durch die gestrenge Milde, die er zu oft besaß.
„Dann werde ich den Kaffee wohl ohne Milch trinken müssen.“ gab er zurück, kopierte ihren Tonfall und strich nur die Vibrationen heraus, aß weiter, trank den Kaffee mit vorsichtigen, kleinen Schlücken, es war keine Milch darin, nun, das war zu verzeihen, entschied er, trank aus.
Seine Fingerspitzen hoben das Besteck, loteten in einem streng eingeübten Augenblick den korrekten Winkel, die korrekte Lage aus, und legten es dann ab, er war zufrieden damit.
Er zog die Zeitung heran, schlug sie vorsichtig auf.
Die Frau, die ihr Frühstück ebenfalls beendet hatte, saß ihm kerzengerade gegenüber, beobachtete ihn träge, wartete auf das Unvermeidliche.
Seine Lippen bewegten sich, er las einige Titelzeilen vor, modulierte seine Stimme dabei, um dem ganzen einen für sie adäquaten Ausdruck zu geben, zog eine Spur Ärger mit hinein, wenn der Titel „Politiker flog auf Staatskosten“ lautete, eine Spur Witz, wenn sie „Igel zerstört Müllfabrik“ lautete. Dann endete sein Vortrag in Schweigen, er hatte seine Schuldigkeit erfüllt, konnte stumm weiterlesen.
Sie stand auf, nahm seinen Teller und ihren, legte beides in der Spüle ab.
Einen Moment lang sah er ihr hinterher, glaubte ein kurzes Zögern zu erkennen in ihren Bewegungen. Die Frau war alt geworden, entschied er in einer kühlen, distanzierten Überlegung, aber das war folgenlos für ihn, sie lebten schon lange zusammen, und wenn er von der fehlenden Milch heute morgen absah, so war sie immer noch eine gute Ehefrau.
Die Güte, die er so oft zu spüren glaubte, stieg wieder in ihm hoch, ja, es war auch Güte, dass er bei ihr blieb, sie war auf ihn angewiesen, an ihn gebunden, konnte nicht allein leben. Das war es, sie war allein lebensunfähig, brauchte Anleitung, Führung in dieser chaotischen Welt, brauchte Regeln und Strukturen, ja Regeln und Strukturen, ein guter Ausdruck, befand er, er erinnerte ihn an seinen Beruf.
Die Frau hatte ihre Aufgabe fast beendet, die Teller standen wieder steril an ihrem Platz, sie drehte sich um, noch einen der Löffel in der Hand, sah ihn unsicher an. Lächelte.
Er blickte zurück, neutral. Ihre Aufgabe war nicht erfüllt.
Sie drehte sich wieder um, und kurz schien es ihm, sie wollte das Besteck in die Spüle werfen, und er erschrak von dem Gedanken. Nein, er täuschte sich, musste sich täuschen, sie legte auch den letzten Löffel an seinen Platz.
Dennoch, er sah sie weiter an, verfolgte ihre Bewegungen.
Früher, vor vielen Jahren, da war sie schön gewesen, sehr schön sogar. Er dachte daran, wie unpräzise, wie unaufgeräumt ihr Leben damals noch war, und er schüttelte sich innerlich. Dennoch, damals war sie schön gewesen, er korrigierte sich, vielleicht objektiv nicht überdurchschnittlich schön, aber doch attraktiv. Das war lange Zeit her, erinnerte er sich, und nun hatte sie keinen Reiz mehr für ihn. Er hatte sich das schon lange eingestanden, es stellte kein Problem für ihn dar, sagte er sich immer wieder, es berührte ihn nicht weiter, die tägliche Routine funktionierte, und außerdem brauchte sie ihn.
Die Frau kam wieder in den Raum, Jacke und Hut im Arm.
Er faltete die Zeitung, trank seinen Kaffee aus, der ihn immer noch bitter an ihre Fehlbarkeit erinnerte, stand auf. Für einen Moment ließ er seine Gedanken schweifen, sah die Frau an. Sah plötzlich andere Augen, gift-grün, makellose Haut, junge Lippen, die leise Worte ausstießen, Flüche jetzt in seinen Ohren. Sein Verstand fing den Gedanken wieder ein, löschte ihn aus.
Es war nicht seine Schuld, sagte er sich, was geschehen war, war geschehen, er konnte es nicht mehr ändern.
Die Jacke wurde ihm übergeben, er blickte in die Augen der Frau und fühlte keine Verantwortung.
Die andere Frau hatte ihn manipuliert, er hatte beschlossen es so zu nennen, immer wieder und wieder manipuliert, dafür konnte er nicht verantwortlich gemacht werden und seine eigene Fehlbarkeit war zu verzeihen, es würde nicht wieder geschehen.
„Bis heute Abend.“, sagte er in einem genauestens austarierten Tonfall, tausendfach geübt.
„Bis heute Abend.“, gab sie zurück, wollte ihn küssen, aber er hatte sich schon umgedreht.
Die Frau blieb in dem Raum, wartete, bis die Tür sich hinter ihm schloß. Schritt zum Tisch, legte die Händen um den leeren Behälter, ließ ihn auf dem Tisch.
Und drehte ihn um einige Grad.

„Schlimm ist der Zwang, doch es gibt keinen Zwang, unter Zwang zu leben.“ – Epikur

post scriptum: Beginn einer neuen, fortlaufenden Erzählung, angelegt auf etwa vier Teile (bisher).

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