Ein Gebäude (1)
Wenn es etwas leiser ist, nachts etwa, oder auch an Feiertagen, da kann man es atmen hören, kann das millionenfache Drehen der Lüfter und Klimaanlagen, das leise Surren der Neonröhren hören. Es ist noch nicht sehr alt, auch wenn Alter kein Begriff ist in seinen Dimensionen, und so ist es auch recht stolz auf sich, auf seine staatliche Größe etwa, 65 Meter hoch ragt es in den Himmel, oder auf die tausend spiegelnden Fenster mit ihren funkelnden Stahlrahmen. Manchmal, wenn es sich langweilt, da zählt es die Räume in seinem Bauch, betrachtet die kilometerlangen Gänge mit ihrem glänzenden Linoleumboden, die vielen kleinen Winkel. Menschen und ihr Tun finden weniger sein Interesse, auch wenn es glaubt, eine gewisse Ehrfucht bei den Menschen zu wecken. Jeden Tag, jede Stunde verschluckt es viele Hundert Menschen und trägt sie in seinem Bauch durch die Zeit, manche spuckt es nach Stunden oder Tagen aus, andere behält es für immer. Das erscheint ihm sehr merkwürdig, und manchmal fragt es sich, was die Menschen immer wieder in seinen Bauch treibt. Vor einiger Zeit haben die Menschen seine Balkone vergittert, weil manche Menschen wohl heruntergefallen sind, wie es gehört hat, auch wenn es nicht versteht, was ‚fallen‘ in diesem Zusammenhang bedeutet. Es erinnert sich nur an die Lachen, an die roten Lachen in seinen Innenhöfen, und es erinnert sich gerne daran. Aber die Menschen haben jetzt Gitter vor seine Augen legt, und das hat es sehr wütend gemacht, so wütend, dass es in dem Bereich, den die Menschen „Quarantänestation“ nennen, die Luft angehalten hat. Einige Stunden später kam ein Mensch, der den Lüfter austauschte; es hasst, so behandelt zu werden, aber die Menschen haben nun einmal die Kontrolle über seine Teile, das kann es nicht leugnen. Und wenn es sich wieder einmal über diese Menschen mit ihren merkwürdigen Tätigkeiten geärgert hat, dann beruhigt es sich wieder bei dem Gedanken an sein Hobby.
Es weiß natürlich nicht, was die Dinge bedeuten, die die Menschen in seinem Bauch tun. Natürlich hat es aber darüber nachgedacht, und letztlich ist es zu dem Schluß gekommen, das es gar nicht verstehen kann, was die Menschen da tun. Es kennt den Begriff „Konstruktion“ und auch seine Bedeutung, auch weiß es, dass es selbst ein Konstrukt ist; nichtsdestotrotz versteht es keine konstruktive Tätigkeiten, wie es das nennt. Das hat es bemerkt, als auf den anderen Straßenseite ein Haus gebaut wurde. Es konnte einfach nicht den Gesamtzusammenhang dessen, was dort drüben geschah, verstehen und so wachte es eines Morgens auf und sah das neue Gebäude dort stehen. Und so vermutet es nun seit geraumer Zeit, es könnte es sich auch hierbei um konstruktive Tätigkeiten handeln. Es ist keineswegs traurig, dass sein Geist die Menschen nicht gänzlich durchdringen kann; es sei natürlich, nur natürlich, dass eine Konstruktion keine Konstruktion versteht, argumentiert es häufig, es ist ein recht weiser Philosoph geworden. Ein ordentliches Konstrukt habe destruktiv zu sein, glaubt es.
Vor einiger Zeit hat es bemerkt, dass es einen Teil der Menschen in seinem Bauch manipulieren kann. Es fing an, als es unter den Menschen dort unten einige junge bemerkte, die erst freudig und schnell, später träger und älter durch seine Flure huschten und aus großen, schweren Büchern Dinge lernten, die das Gebäude nicht verstand. Zunächst war es verwundert, warum diese kleinen Menschen offensichtlich so viel lernten, dass es ihnen mehr eine Last denn als eine Freude wurde, aber in dem Punkt hat es beschlossen, die Verrücktheiten der Menschen einfach hinzunehmen. Und so versuchte es nun von Zeit zu Zeit, am Morgen so laut wie möglich zu atmen, damit seine kilometerlange Stahlfront noch bedrohlicher und überlegener vor den kleinen Menschen aufragte. Es war ihm eine große Freude zu sehen, welche Wirkung das auf die Menschen hatte, und so fand es ein Hobby. Es fand schnell viele Mittel und Wege, diese kleinen Insekten in seinem Bauch zu manipulieren, so ließ es ab und zu einige Türen offen, so dass der Wind durch seine Adern fegte und ein tief melancholisches Geräusch schuf. Dann sah es zu, wie die kleinen Menschen mit ihren Büchern noch hoffnungsloser in ihre Stühle rutschten und lachte laut auf.
Manche von den kleinen Menschen fielen irgendwann von den Balkonen, es verstand nicht warum, aber eine große Rolle spielte das auch nicht. Sie waren dann weg, und das war gut so, es mochte keinen der Menschen. Sie hatten nicht das Recht, in seinem Bauch ihr verrücktes Leben zu führen, davon war es überzeugt. Jetzt aber haben sie die Balkone vergittert, und sofern das Gebäude richtig verstanden hat, konnte jetzt niemand mehr herunterfallen, wie sie das nannten. Es war sehr erregt darüber gewesen, aber inzwischen hat es sich wieder etwas beruhigt. Es muss ständig darüber nachdenken, ob die Menschen nicht auch von seinem Kopf, dem Dach, fallen könnten, es weiß darüber nicht genau Bescheid, hält es aber für plausibel; es hofft, dass seine Theorie richtig ist, und nach allem, was es erlauschen konnte, wäre das auch gut möglich.
Und so liegt es immer noch jeden Abend zufrieden in der Dämmerung, fast so wie ein großes Raubtier, und schläft langsam ein, dimmt die Beleuchtung, dimmt auch das bienenstockartige Summen der Lüfter etwas, und wenn man genau hinhört, dann kann man es leise im Traum flüstern hören, flüstern hören von Lachen in seinen Innenhöfen.
„Freude und Angst sind Vergrößerungsgläser.“ – Jeremias Gotthelf, Zeitgeist und Berner Geist
Nicht übel.
Wenn es dunkel wird, so denke ich kann es sein, dass man sic verläuft, tief ins Innere eines Gebäudes. Gänge tauchen vor einen auf, ewig lang, verzweigt und wirr. Der Lageplan ergibt keinen Sinn mehr, bildet nur bunte Fäden mit leuchtenden Lättern die nicht entzifferbar sind.
Wenn man sich dann umschaut, aus dem Augenwinkel, nicht direkt ins difuse Licht der Neonröhren blickt, vermagt man Schemen zu erkennen, erst wage vieleicht, dann immer vertrauter, huschend durch die Gänge, Menschen. Oder das Bildnis von Menschen, unpersöhnlich, wie eine Schar von Geistern, unwirklich. Das Rasseln der Klimaanlage, erscheint wie der rasselnde Atem eines Raubtieres, stets auf der Lauer, allanwesend und unmenschlich. Durch die Korridore irrt man, wird müde, verzweifelt und siht:
Nur weitere Gänge und verschwommene Gestalten wuselnd in Gängen, gleich Phantomen. Ab und zu fällt etwas wage menschliches an blinden Fenstern vorbei, das Rauschen der Lüstung klingt, auf irritierende Weise erfreut, wie von kindlicher Heiterkeit. MAn dreht sich um, vielleicht nach Jahren, vieleicht nach Jahrhunderten der Verlorenheit und erkennt;
Dies ist der Traum eines Gebäudes.
Die Tür zm Dach öffnet sich,
ein Ausgang.
Endlich.
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