Das Tagebuch – Prolog (1) Diesen Artikel drucken

Erster Eintrag:

Hallo, ich grüße dich, wer immer du auch bist. Vermutlich wird niemand das hier jemals lesen können – es liegt zumindest aus meiner Sicht nahe, dass es nie jemand lesen wird. Aber offensichtlich hat jemand dieses Bündel gefunden, der meine Geschichte lesen kann.
Warum ich dies jetzt schreibe, wirst du dich jetzt fragen. Nun, ich weiß das nicht so genau. Genau genommen weiß ich sogar eine Menge nicht, aber dazu später mehr.
Ich habe diesen Stift, mit dem ich schreibe, und diese Blätter, die du gerade in Händen hältst, gefunden; vielleicht wirst du sie auf die selbe Weise finden wie ich. Offenkundig bringt mich Zettern und Toben hier nicht weiter, an diesem Ort, wo immer das auch ist, da scheint es mir einfach logisch, die Geschichte aufzuschreiben. Etwas anderes bleibt mir nicht zu tun, und untätig bleiben möchte ich nicht.

Ich sollte an dieser Stelle warnen; es ist möglich, dass dich dieses – mein – Tagebuch, wie ich es nennen werde, schockieren wird. Du solltest dir wirklich überlegen, ob du weiterlesen möchtest. Bitte, überleg es dir gut; ich meine das ganz ernst. Überleg es dir.

Nun, ich beginne am besten mit den wichtigen Dingen; Mein Name ist [geschwärzte Stelle], ich bin etwa 40-50 Jahre alt, genau weiß ich das nicht (merkwürdig, nicht? Sowas sollte man nicht vergessen, oder?). Meiner Erinnerung nach habe ich einen Beruf ausgeübt, der viel mit den großen Maschinen auf Baustellen zu tun hatte, auch das kann ich nicht präzisieren. Ich habe nur noch einige Bilder im Kopf, auf einem ist ein Mensch abgebildet, der ich wohl sein könnte (es gibt hier keine Spiegel), mit einen Helm, neben einem Kran; daneben sehe ich einige große Gebäude, Wolkenkratzer, deren Architektur mir fremd ist. Auch sehe ich mich selbst neben einer Frau, die in meinem Alter sein könnte; vielleicht ist das meine Frau. Ja, sicher sogar, da ist ein merkwürdig vertrautes Gefühl, wenn ich an das Gesicht dieser Frau denke, als hätte sie mir einmal viel bedeutet. Ich weiß nicht, ob wir Kinder haben, vielleicht.
Gut, jetzt weißt du, wer ich bin, und keiner der Sätze oben sollte schwer zu glauben oder nur zu verstehen sein. Viel mehr kann ich dir auch nicht sagen, vieles scheint mir geschwunden zu sein.
Nun sollte ich wohl erklären, wo ich bin; aber ich fürchte, das ist mir unmöglich, ich weiß es einfach nicht genau. Ich kann dir nur sagen, dass hier die unglaublichsten Dinge geschehen. Viel wesentlicher und schwerer zu akzeptieren dürfte allerdings sein, wie oder was ich bin. Deshalb werde ich es jetzt ganz direkt aufschreiben, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich es selber glaube.

Ich bin tot.

Tja, das ist es. Ich bin tot. Erledigt. Mausetot.
So. Glaub mir, nicht nur du stellst dir jetzt einige sehr wesentliche Fragen; ich bin auch nicht ganz sicher, ob ich dieses Ungeheuerliche für wahr halten darf.
Ich kann dir nur versichern; es stimmt. Ich habe das sichere Gefühl, tot zu sein. Woher ich die Gewissheit nehme? Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich ist das ganz einfach; genau so, wie ich mal wusste, dass ich am Leben bin, weiß ich jetzt eben, dass ich tot bin.
Vermutlich fragst du dich jetzt, wie das ist, tot sein, sterben; aber weißt du, dazu kann ich dir nur sagen, dass beides vollkommen überschätzt wird. Aus meiner Sicht ist es ziemlich überzogen, was wir im Leben alles auf den Tod verwenden. Ich zumindest habe weder ein helles Licht gesehen, noch habe ich mit Petrus gesprochen; ich erinnere mich nicht an große Schmerzen, und auch nicht an irgendwelche Unannehmlichkeiten. Es ist einfach so, als würdest du durch eine Tür treten; du trittst über die Schwelle, machst einen Schritt – und bist tot. So einfach ist das. Wie sich das ‚Tot sein‘ anfühlt, darüber bin ich noch nicht ganz sicher; eigentlich fühlt es sich wie immer an. Andererseits ist es hier ziemlich einsam, wo auch immer ‚hier‘ ist.
‚Hier‘ – das ist Moment ein recht dunkles Zimmer, eins, in dem ich aufgewachsen bin, wenn ich mich recht erinnere. Die Tapete kommt mir auf jeden Fall bekannt vor, es sind kleine Affen und Zebras darauf, die mich in der Dunkelheit trübe anglotzen; ich erinnere mich auch den Ball in der Ecke des Zimmers, und als ich einer Intuition folgend unter das Bett sah, da fand ich meine alte Muschelsammlung, ganz ordentlich sortiert und abgedeckt. Es ist seltsam – ausgerechnet daran erinnere ich mich. Du musst wissen (ich hätte es schon am Anfang bemerken sollen; ich hoffe, du störst dich nicht am ‚Du‘.), ich war als Kind sehr stolz auf diese Sammlung; ich habe sie alle selber gefunden. Oft war ich mit meinem Vater (oder war es meine Mutter?) draußen, am Wochenende, und habe die gemusterten Schalen im Schlick gesucht, bis ich fast so durchnässt war wie meine Muscheln – eine schöne Erinnerung. Vielleicht ist sie mir deshalb geblieben.
Sonst erinnere ich mich nicht an viel in diesem Zimmer, aber ich glaube nun fest, das es meins sein muss – oder besser, es einmal war. Ich weiß nicht genau, wie lange ich hier schon sitze, selbst während ich dies schreibe; vielleicht kennt dieser Ort im herkömmlichen Sinne auch keine Zeit. Aber das Schreiben hilft, die Gedanken zu fokussieren; mir ist, als hätte ich nie einen Gedanken wirklich gedacht, in diesem Zimmer, bevor ich damit anfing.
Nun, so stellt sich mir jetzt auch die Frage nach dem Warum, die ich vorher nicht einmal in Erwägung gezogen habe; warum bin ich hier?
Ich bin tot, soviel steht fest. Aber irgendwie erwartet man.. etwas. Etwas anderes als ein ewiges Kinderzimmer. Aber andererseits habe ich das Gefühl, das noch etwas geschehen wird. Es ist nur Intuition, vielleicht auch nur Wunschdenken, aber mir scheint, dieser Ort… wartet auf etwas. Als müsste jemand den Prolog verlesen, bevor das Schauspiel beginnen kann.
Die Kiste mit meinen Muscheln habe ich übrigens jetzt immer bei mir; ich werde sie behalten. Nenn es Nostalgie, aber sie ist eine schöne Erinnerung, eine der wenigen. Hier ist ja auch niemand, der sie beanspruchen kann; sie gehört mir.

Ich höre Geräusche! Ich kann mich nicht erinnern, etwas gehört zu haben seit ich hier bin, also kannst du dir sicher vorstellen, wie aufgeregt ich bin. Zuerst hörte ich eine Tür klappen, zweimal, dann Schritte über mir (ich glaube, wir wohnten in einem Haus, damals), und jetzt sind es Alltagsgeräusche, eine Kaffeemaschine oder etwas Ähnliches hörte ich gerade eben. Warte, ich glaube jetzt sind es wieder Schritte; sie werden lauter.
Sie hören sich jetzt ganz nah an, als wären sie fast direkt vor der Tür der Zimmers, ich werde besser aufhören und später weiterschreiben…

Bis bald, mein unbekannter Leser.

Beginn einer neuen, fortlaufenden Erzählung mit bisher unbekannter Länge (4-6 Teile, so weit ich das bisher abschätzen kann).

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