Wahnsinnstat Diesen Artikel drucken

Glas und Metall. Glas und Metall.
Er hatte es als Kind gern getan, obwohl seine Eltern ihn oft dafür gescholten hatten, und jetzt musste er wieder daran zurückdenken: Wenn man mit einem spitzen Gegenstand über Glas schrammte, mit einem Stück Metall oder Stein etwa, so verursachte man kleine Kratzer in der Oberfläche, winzige Risse in der Oberfläche, die man nur bemerken konnte, wenn man sie bei gutem Licht betrachtete. Für das bloße Auge waren es dann immer noch bloße Schmarren, kleine Narben im makellosen Gefüge, die sich nur auszeichneten, weil sie das Licht in einem anderen Winkel brachen als die umliegende, plane Oberfläche. Unter einem Mikroskop dagegen sah dieser kleine Kratzer aus wie die Folge einer Naturkatastrophe: Riesige, zerklüftete Hänge konnte man sehen, mit rissigen Graten darin und unzähligen, fein verästelten Abgründen. Hatte man das Glas zuvor grob genug behandelt, so hatt sich der Grund dieses scharfkantigen Gebirgskessels sogar ganz verflüssigt, für einen Moment, und man sah dort unten auf eine wieder erstarrte, rundliche Mondlandschaft. Bei entsprechender Beleuchtung konnte man vielleicht sogar die Spannungen im Gefüge sehen, in einem schillernden Farbengewirr. Dann waren die apokalyptischen Kräfte zu sehen, die an den Ausläufern der winzigen Canyons zerrten, sie zu zermalmen drohten, und vielleicht wünschte man sich dann, das Glas nie berührt zu haben.
Doch wie so oft blieb auch hier das Wesentliche dem Auge verborgen, denn eine harte Spitze verursachte nicht nur diese oberflächlichen Verwüstungen, das wusste er jetzt. Man erkannte es schon am Geräusch, das der Gegenstand verursachte, an dem sengenden Klirren und Heulen und Quietschen, das Glas – es schwang.
Natürlich konnte man das nicht sehen, dafür geschah es zu schnell, aber das Glas vibrierte tatsächlich, Tausende Male pro Sekunde wurde es hin und her gerissen, von links nach rechts, von oben nach unten, er wusste das aus seinen Büchern.
Meist, ja meist, da erschöpfte sich dieses Vibrieren in dem nervenzehrenden Kreischen, an das man sich nie gewöhnen konnte.
Doch manchmal, da geschah etwas anderes. Vielleicht war da schon der ein oder andere Makel im Glas gewesen, der es im Inneren ein wenig geschwächt hatte, immer noch ein wenig mehr. Vielleicht war es auch zu lange falsch gelagert worden, zu kalt oder zu feucht oder zu warm. Es mochte die Spannung in einem dieser kataklystischen Canyons sein, oder auch nur die Ermüdung des Materials:
Man fuhr wieder über das Glas, mit einem Schraubenzieher vielleicht, und schrammte kleine Narben hinein. Wieder wehrte sich der Stoff, kreischte laut auf – vibrierte. Das Glas schwang, und an einer ganz gewöhnlichen Linie, einer ganz gewöhnlichen,
Brach es plötzlich.
Es riß ganz und gar auseinander, brach in tausend klirrende, verlorene Scherben, die sich ihren eigenen Weg suchten, ganz allein, zu Boden fielen mit ihren scharfen Kanten und den schneidenden Ecken: Selbst wenn man es versuchen würde, man könnte die Bruchstellen nie wieder kleben. Es blieb zerborsten.
Das war schrecklich, war immer schrecklich, aber ist es einmal so weit gekommen, kann man nichts davon wieder rückgängig machen. Und genau das war wohl mit dem Glas geschehen, aus dem er bestand, und niemand konnte daran noch etwas ändern. Das dachte er, dann begann er zu schießen.

2 Antworten zu “Wahnsinnstat”

  1. Bjoern sagt:

    Das ist eindeutig der Nachteil von Glas. Ist Wachs eine Alternative?

  2. bad_indicator sagt:

    Wären Menschen aus Wachs denn eine Option? Wandelbar, formbar, restaurierbar, bei Nichtgefallen: Umfärbbar?

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