Gute Seelen Diesen Artikel drucken

Wenn da niemand wäre, der ab und zu zwischen den Betten hin- und hergehen würde, um einen gefälschten Brief unter eine der löchrigen Decken zu stecken oder mit schmutzigem Wasser überhitzte, fleckige Gesichter abzuwaschen, wenn es niemandem mehr gäbe, der sich wenigstens manchmal den fiebrigen Erzählen der vielen Verlorenen erbarmen würde, wenn kein menschliches Wesen noch diejenigen beruhigen würde, die aus ihren wirren, aber schönen Träumen in dieser düsteren Halle mit ihren staubigen Stahlstreben voller Risse erwachten – ja, dann wäre wirklich alles verloren.

Der Kampf nahm vieles, doch es blieben immer noch wenigstens ein paar wenige dieser guten, dieser treuen Seelen, die zumindest ein wenig Trost spenden konnten.

Natürlich gibt es auch die Ärzte, recht viele sogar; in ihren weißen Kitteln huschen sie durch die Lazarette, Geistern gleich. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung kaum beendet, als der Krieg kam, und so kennen sie ihren Beruf nur mit dem Antlitz, den er im Krieg hat – dem einer anderen Art des Krieges, eines aussichtslosen Vernichtungsfeldzugs gegen den Tod und die Kampfunfähigkeit.

Doch was nützen schon Ärzte; Beine können sie abschneiden, Splitter entfernen, aber was ist das schon. Sie sind nur Soldaten, auch wenn sie keine Gewehre tragen. Welchen Trost kann ein Soldat schon spenden? Hier, am Ende aller hehren Ziele und Siegesversprechen? Und: Was ist eine gut genähte Wunde schon ohne Trost, wenn es schon so weit gekommen ist mit der Welt? Nichts, und so braucht es immer noch ein paar gute Menschen, um wirklich zu heilen.
An manchen Orten, in manchen Spitälern gibt es keine mehr; sie sind getötet worden oder an Erschöpfung, am Kummer und am Dreck gestorben. An solchen Plätzen hilft die beste Kunst der Ärzte nichts mehr. Sie behandeln die Verletzten – vorrangig natürlich die Soldaten – sie operieren und amputieren, sie schneiden und schienen, aber die Menschen sterben trotzdem; vielleicht wollen sie es auch nicht anders, die Ärzte wie die Patienten; alles, alles mag geschehen, nur soll dieser verdammte Krieg endlich verloren gehen, der eine wie der andere. Ohne Hoffnung gibt es keine Chance auf Gesundheit.

Trost gibt es nur noch in wenigen Lazaretten und Spitälern; Verwundete schreien und zettern deshalb manchmal, wenn man sie in eins der Lager bringen will, in dem nur noch Ärzte arbeiten. Und so bringt man alle Verletzten im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern in diese alte Turnhalle, deren nackte Stahlstreben ganz rissig sind von den vielen Einschlägen in der Nähe. Dort arbeitet nur noch eine etwas ältere Frau, von den Ärzten abgesehen. Früher waren sie zu fünft, aber das war, als man dieses Lager eingerichtet hatte, vor vielen Monaten. Ihr Gesicht ist müde, und ein steifes Lächeln hat sich in die Mundwinkel gebrannt; zweimal wäre sie selbst fast Opfer einer der vielen Infektionskrankheiten geworden, die in den Lagern grassieren. Für sie gibt ebenso wie für ihre Kollegen in anderen Lagern keine Berufsbezeichnung; die Ärzte rufen sie meist immer noch Schwester oder Pfleger, aber kaum einer von ihnen hat eine entsprechende Ausbildung. Einen allgemeinen Oberbegriff gibt es nicht; nur die Alten sprechen manchmal von den Seelen, aber so redet auf der Straße niemand. Die Patienten und auch all die anderen nennen die Frau mit dem steifen Lächeln einfach bei ihrem Namen,
Auch sie hat den Beruf der Krankenschwester nie gelernt; sie war Lehrerin. Manchmal erzählt sie einem Patienten von ihren früheren Schülern. Die meisten von ihnen sind gefallen, und so tut sie es nur, wenn sie darum gebeten wird; sie weiß, dass es den Menschen gut tut, von früher zu hören. Doch meist redet sie nicht über ihre Schüler, sondern über etwas Unverfängliches aus der Vergangenheit. Sie hört auch zu, sie wäscht Wunden, kühlt Gesichter, sie tut, was getan werden muss, ohne Sold zu verlangen.

Sie ist, wie ihre Kollegen in anderen Lagern, nur ein Mensch; manchmal hat auch sie soviel Angst und Wut und Trauer im Bauch, dass sie nicht arbeiten kann. Sie trinkt, aber sie ist nicht die einzige, die abhängig ist; die meisten ‚Schwestern‘ sind es auf die eine oder andere Weise geworden, auch wenn sie schon vor dem Krieg abhängig war. Ein Mann etwa, dessen Lager sich stetig mit der Front bewegt, muss von Zeit zu Zeit einen der Leichtverletzten mit einer infizierten Nadel anstecken – nicht um ihn sterben, sondern um ihn durch seine Pflege genesen zu sehen.
Solch absonderliche Obsessionen hat sie nicht, sie trinkt nur. Andere Personen verstehen manchmal nicht, dass auch sie wirklich ein Mensch und nicht nur ein gänzlich selbstloser Engel ist. Der Dienst und der Alkohol zehren sie langsam auf, das stimmt. Sie weiß das und lässt es zu; aber das muss nicht bedeuten, dass sie ihr Leben gern wegwerfen könnte oder wollte; das sehen die anderen nicht immer. Einmal etwa schlug eine Granate in das Dach der Halle; das Gebäude schüttelte sich und schien zusammenbrechen zu wollen. In Panik rannte sie hinaus und ließ die Patienten, die nicht laufen oder gehen konnten, zurück. Dorthin hatten sich schon die Ärzte gerettet; sie jedoch, die immer so hilfsbereit und selbstlos tat, was sie konnte, starrte man mit einer Mischung aus Unverständnis und Überraschung an, als ob man nicht begreifen konnte, dass diese Frau um ihr Leben lief, statt sich um ihre Patienten zu kümmern und im Zweifel mit ihnen zu sterben.

Es dauerte Monate bis der Stabsarzt, der das Lazarett leitet, wieder mit ihr sprach, aber er hegt ohnehin einen Groll gegen sie, zumindest manchmal; sie soll einer verbotenen Partei angehört haben, vor dem Krieg.
Natürlich ist das falsch. Sie war Zeit ihres Lebens ein eher unpolitischer Mensch, zumindest war sie nie in einer Partei. Wahr ist, dass sie vor dem Krieg, schon Jahre davor, auf Demonstrationen gewesen ist. Wahr ist auch, dass man sie wegen ihrer Ansicht über den Großen Konflikt unzählige Male angepöbelt, bespuckt und drangsaliert hat, so lange, bis der Krieg nach der Schlacht bei Krakau kippte und sie mit dem Dienst in den Lazaretten begann. Einmal pflegte sie einen Verletzten, den sie als einen der Polizisten erkannte, der sie am Rande einer Versammlung verprügelte; er erkannte sie nicht, und sie sagte nichts davon, pflegte ihn nur.
Falsch ist dagegen auch, was die Ärzte sich über den Grund ihrer Tätigkeit erzählen; weder ist sie Witwe, noch sind ihre Kinder aufgrund der schlechten Versorgung an der Front gestorben. Sie hatte nie Kinder und war nie verheiratet. Man könnte sie einfach fragen, warum sie tut, was sie tut; warum sie nicht davonläuft, so weit sie kann, wie es all die anderen tun. Aber es fragt sie niemand, zumindest keiner der Gesunden; Man hält sich lieber an die Gerüchte und ansonsten fern. Seit dem Einschlag auf dem Dach erzählt man sich, sie sei eine Politische und werde vom Abwehrdienst beobachtet.
Aber vielleicht würde es auch nichts nützen, sie nach ihren Beweggründen zu fragen. Es gibt keine speziellen, auch keine politischen. Es sind die gleichen, die sie schon seit Jahren umtreiben, die sie zuerst auf die Demonstrationen und schließlich in dieses Lazarett geführt haben.

Natürlich kennt auch sie die Gerüchte; über die meisten der stillen Helfer gibt es ähnliche, von der angeblichen Lebensmüdigkeit bis hin zu den politischen Verstrickungen. Viele von ihnen waren auf den Demonstrationen, fast alle gegen den Krieg. Mehr Frauen als Männer sind darunter, aber das mag dem langen Krieg geschuldet sein. Sie wissen, das diejenigen, die sie heilen, wieder kämpfen, wieder töten oder getötet werden; es ist ihnen gleich.
Die meisten von ihnen haben schon Probleme mit dem Abwehrdienst gehabt, und auch wenn dieser inzwischen zusammengebrochen ist, sprechen sie über ihre Ansicht nur selten, schon gar nicht öffentlich. Das wäre auch unnütz; für Lösungen ist es zu spät, das ist auch ihnen klar. Es gibt in jedem Konflikt den Punkt, ab dem der einzige Ausweg in der Vernichtung des anderen besteht, selbst um den Preis der eigenen Auslöschung, und dieser Punkt war schon lange vor den Bomben auf Paris und Hamburg überschritten worden.

Und so spricht auch sie nur über Politik, wenn sie jemand darum bittet; solche Gespräche beginnen meist mit der Frage, warum es so kommen musste und ob nicht alles anders sein könnte. Meist sind es Sterbende, die solche Fragen stellen.
Dann erzählt sie, was damals schon auf den Demonstrationen gesagt wurde, was sie schon lange vor dem Krieg gedacht hat, und die Augen der Geschundenen hängen an ihren Lippen. Wenn sie darüber spricht, kann man in ihrem Gesicht manchmal den Menschen entdecken, der sie einmal war. Es ist nicht die müde, alte Frau mit den den eingebrannten Falten, die vom Frieden erzählt, sondern der kleine Rest einer viel jüngeren. Vielleicht ist dieser Rest das einzige, was sie noch zum Spenden von flüchtiger, oft falscher und gefälschter Hoffnung befähigt; vielleicht, aber darüber denkt kaum jemand nach, dafür sind die Verwundeten zu gierig auf jeden Tropfen Hoffnung, auf jedes Quäntchen Leben. Aber zumindest hören sie genau zu.
Ganz ähnlich wie auch die ständig angetrunkene Helferin im Lazarett unter dem Dach der abbruchreifen Halle müssen viele der guten Seelen das als bittere, als zynische Genugtuung empfinden, dass man ihnen jetzt, da alles zu spät ist, zuhört. Als sie zum ersten Mal ihre Stimme erhoben, hat man sie zunächst ignoriert und dann belächelt. Als sie erste Demonstrationen veranstalteten, hat man sie als Träumer, als unverbesserliche Idealisten abgetan. Auch als die ersten Versammlungen mit Knüppeln aufgelöst wurden, hat man ihnen nicht zugehört und sie stattdessen angepöbelt, beleidigt, später geschlagen. Als man so begierig darauf wurde, die Brüder und Kinder von Bombenlegern zu ermorden, dass man begann, die eigenen dafür in den Tod zu schicken, hat man zehn von ihnen in einer großen Stadt an einem Pfahl aufgehängt, weil man sie als Verräter sah. Jetzt, wo es doch zu spät ist, hängen wenigstens die Augen der Sterbenden an ihren Lippen; Die Welt musste erst schwarz und leer werden, bevor man ihren Worten Gehör schenkte.

2 Antworten zu “Gute Seelen”

  1. J. sagt:

    Eine Zukunftsvision, die erschreckend nahe an der Vergangenheit ist.
    Die Geschichte hat nie Durchhänger, obwohl man sie irgendwie langsam & etwas traurig liest.
    Gefällt.

    J.

  2. […] Anlässlich des 5-jährigen Jubiläums der Kulturinitiative CUKS gibt es heute Abend im Kreishaus I, Helmstedt, eine kleine Lesung, bei der einige Autoren jeweils einen ihrer Texte vorstellen werden. Darunter bin auch ich, lesen werde ich eine gekürzte und geraffte Fassung von ‘Gute Seelen‘. […]

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