Opazität Diesen Artikel drucken

Entstanden in der Zeit der zunehmenden Vermengung von Sozial- und Medienwissenschaften, ist dieser Begriff zur entscheidenden Kenngröße für die Beschreibung komplexer Wissens- und Theoriezusammenhänge geworden. Ursprünglich von Luhmann in einer späten Arbeit vorgeschlagen, wurde er vor allem von den beiden promovierten Historikern und Soziologen E. Peters und D. Taeuscher formal skizziert und schließlich in der Doktorarbeit von Samuel Linke zufriedenstellend definiert, was endlich auch quantitative Urteile erlaubte.
Während Luhmann vor allem seine Konzeption einer systemtheoretischen Soziologie und den damit eng verbundenen Begriff der Komplexität durch die Idee einer Messgröße „Opazität“ zu stützen versuchte, waren spätere Versuche, darunter auch die Ausarbeitungen von Peters und Taeuscher, schon eher an dem Bild orientiert, das heutige Wissenschaftler von dem Begriff haben.
Dreh- und Angelpunkt des theoretischen Diskurses ist dabei die Einsicht, dass komplexe Gesellschaften dazu neigen, hochdimensionale und äußerst schwer zu durchschauende Theorie- und Wissenstrukturen zu entwickeln. Gerade bei Peters war das Aufgreifen des Luhmannschen‘ Begriffs dabei durch die Untersuchung der soziologischen Randbedingungen für das Auftreten von so genannten ‚Verschwörungstheorien‘ bedingt. So schreibt Peters in seiner Arbeit „Gesellschaft im Kreuzfeuer: Über Ideologien in komplexen Gesellschaften‘ (S. 32):

„[…] Viele der genannten Charakteristika dieser auf den ersten Blick sinnentleerten Theoriegebäude, so etwa ihre Permeabilität für Fakten und Widerlegungs- bzw. Klärungsversuche, lassen sich darauf zurückführen, dass bestimmte Wissenskomplexe auch für gebildete Menschen nicht von den tatsächlich Aussagen über den Theoriebackground bis hin zu den tatsächlichen Fakten, also etwa empirischen Daten, transparent sind. Diese Art von Intransparenz oder auch Opazität sorgt dafür, dass eine Reihe von Theorien einen Plausibilitätsgewinn erlangt; nicht etwa, weil sie aus Sicht des einzelnen eher begründet erscheinen, sondern schlicht aufgrund von Geschmacksurteilen. Keine der verfügbaren Wissenskomplexe liefert Antworten, die vom einzelnen als transparent wahrgenommen werden, und aufgrund der mangelnden Unterscheidbarkeit hinsichtlich des Erkenntnisgewinns bleibt nur die Wahl zwischen Obrigkeitsgläubigkeit und eigenem, subjektiven Geschmacksurteil. […] Ein weiteres Indiz dafür liefert der Umstand, dass die behandelten Theorien vor allem als Begleiterscheinungen von hochkomplexen Ereignissen entstehen, wie etwa der exemplarische Terroranschlag des 11. Septembers: aufgrund der Vielschichtigkeit des Geschehenen und der quer über alle wissenschaftlichen Fachgebiete hinweg verbundenen Teilereignisse ist sogar einem Spezialisten nicht mehr der ganze Komplex transparent; die Opazität ist extrem hoch, es folgt ein starkes Auftreten der so bezeichneten „Verschwörungs“theorien.“

Opazität ist also ein Maß für die Verworrenheit und die fehlende Prüf- und Nachvollziehbarkeit von Wissen; die fortlaufende Spezialisierung und Ausweitung aller Arten von Wissenschaft führt zu immer größerer Opazität, weil selbst Experten etwa nicht alle Quellen kennen können, die ein Paper benennt. In einer späteren, etwas präziseren Definition des Begriffs schreibt Peters (S. 89):

„[…] Opazität ist eine Größe, die die relative Unüberschaubarkeit eines Wissenskomplexes angibt. Sie ist vor allem abhängig vom Spezialisierungsgrad der getroffenen Aussagen; so wird jeder naturwissenschaftlich Gebildete mit einiger Mühe eine Arbeit Newtons nachvollziehen und ihre Plausibilität prüfen können, während selbst ausgebildete Physiker eine Dissertation zur M-Theorie nur schwer prüfen können. Die zweite wichtige Größe ist die Kompaktheit des Gebiets; wie viele Fachgebiete und Disziplinen ragen in den Raum der Theorie hinein? Außerdem hängt die Opazität eines etwa in Textform vermittelten Wissenskomplexes auch von der Art der Verbreitung, der Zahl der zitierten und verwendeten Quellen und dem Status des Autors ab. Andere Einflussgrößen sind die Stringenz der Darstellung, ihre intersubjektive Nachvollziehbarkeit und der Grad an politischer oder religiöser Beladenheit. Letztere etwa kann als die Komponente identifiziert werden, die im Fall der so genannten „Intelligent Design“-Bewegung einen entscheidenden Einfluss hat. […]“

Eine hohe Opazität bedeutet paradoxerweise, dass die Plausibilität beliebiger anderer Theorien, die das gleiche Themengebiet behandeln, gleich groß ist, und zwar genau deshalb, weil die epistemische Plausibilität gegen Null geht; da opak ist, welche Theorie die Wirklichkeit besser beschreibt, wird die erkenntnisorientierte Plausibilität durch eine geschmacksorientierte verdrängt. Die genaue quantitative Methode zur Ermittlung eines Werts für die Opazität eines Textes wurde erst 1991 von Linke entwickelt. Die technischen Details sind hier nicht weiter von Belang. Von Linkes ursprünglicher Formel gibt es über 22 Abwandlungen, entwickelt etwa von Moss, Regeen oder Huber. Diese weichen jedoch nur hinsichtlich gewisser Gewichtungen ab, die hier nicht weiter behandelt werden.
Die oben exemplarisch gewählte Arbeit Newtons kommt mit Linkes Formel auf eine durchschnittliche Opazität von 51,3 (Verfahren; iterativ, N=1000, p=2), gut ausgearbeitete Theorien zu den Ereignissen des 11. Septembers 2001 auf etwa 110023,5 (Verfahren; iterativ, N=100, p=1,5). Die meisten ähnlichen Theorien, so etwa die Intelligent-Design-Komplexe, kommen auf ähnliche Werte.

Dieser Text besitzt eine Opazität von 311923,3 (Verfahren; iterativ, N=1000, p=0).

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