Die Große Schande (4)
Zeitindex +12
Im Sommer 94 sendeten fast alle Kanäle eine offene Diskussion über die Ereignisse der Großen Schande. Natürlich sah ich es mir an, ebenso meine Frau. Unsere Tochter hatten wir ins Bett gebracht. Wie alle anderen Dokumente aus dieser Zeit ist auch die Aufzeichnung dieser Sendung bereits zerstört, aber da es sich um eine Übertragung eines italienischen Senders handelte, konnte ich wenigstens einen Audiomitschnitt retten. Einer der Gäste, Dr. Peter Den, sprach mit einer seltsamen Kühle über die Große Schande; Er war es, der mich verstehen ließ, was die Menschen umtrieb. Später erfuhr ich, dass er nicht an den Ausschreitungen beteiligt gewesen war. Er lag zu der Zeit, die wir Große Schande nannten, mit schweren Kopfverletzungen in einem Krankenhaus und überlebte auf wundersame Weise. Ich gebe seine Worte auszugsweise direkt wieder, die vollständige Datei findet ihr am Ende dieses Berichts:
„[…]Wir können nicht auf die Weise weitermachen, wie wir es bisher tun, Herr Ramlow. Wenn wir die unfassbaren Geschehnisse von 88 betrachten, müssen wir uns einfach eingestehen, dass jedes Konzept, jede Theorie von Menschlichkeit, die wir uns denken konnten, falsch ist. In einer Situation der Normalität, wie wir sie vor der Großen Schande hatten, funktionierten die Konstrukte, die wir uns aufgebaut haben. Aber wir müssen doch… verstehen sie, wir müssen doch einsehen, dass nichts davon wahr ist. Im Angesicht der Vernichtung haben all unsere Mechanismen, all unsere Vorstellungen versagt. Die Menschen haben sich nicht wie vernünftige Wesen verhalten, sie haben sich nicht einmal mehr wie Tiere verhalten. Sie waren unberechenbar, zerstörerisch und mordlüsternd. Und jetzt sitzen wir hier wieder in einem Fernsehstudio bei einem Glas Wein und unterhalten uns darüber, als ob das alles nicht geschehen sei. Die Menschen fühlen ganz genau, das etwas zerbrochen ist, das der Glaube der Menschheit an sich selbst erloschen ist. Die gleichen Männer und Frauen, die ihre Familien ohne jede Rücksicht auslöschten, einfach nur aus einem Impuls heraus, die ihre Nachbarn folterten und ermordeten, die sitzen nun wieder vor dem Fernseher, möglicherweise mit ihren neuen Partnern, ihren neuen Kindern. Können sie wirklich glauben, dass sie ihre Partner und Kinder lieben? Das ihre Nachbarn freundliche und zuvorkommende Wesen sind? Wie wollen wir den Begriff des zivilisierten Menschen, der Zivilisation an sich noch rechtfertigen? Wie wollen wir diese Schuld abtragen? Wir können es nicht. Sehen wir der Wahrheit ins Auge; die Große Schande hat alles, wirklich alles relativiert. Sie hat die Religion relativiert, die Moral, sie hat die Empathie als glatte Lüge herausgestellt. Wie soll denn der Mensch noch aufrichtig von der Liebe zu seinen Kindern sprechen, wenn er doch weiß, was damals geschehen ist und was jederzeit wieder geschehen könnte? [An dieser Stelle wurde er unterbrochen, ich lasse diesen Abschnitt der Aufzeichnung aus] Eine Lösung kenne ich natürlich nicht, Herr Ramlow. Aber ich denke, wir können nicht darauf setzen, dass sich das Problem mit dem Alter und letztlich dem Tod der Generation, die diese Verbrechen begangen hat, von alleine löst. Wir werden unseren Kindern erklären müssen, was geschehen ist. Und diese Kinder werden deshalb auch in unserer Welt aufwachsen, und deren Kinder ebenso. Wenn wir uns aufrichtig zu uns selbst sind, dann müssen wir das Projekt Mensch schlicht verloren geben. All die nützlichen und auf so wunderbare Weise ablenkenden Dinge, die wir seit 89 aufgebaut haben, ändern nichts daran: Der Mensch hat sich in seiner Gänze, in seinem ganzen Wesen als Monster erwiesen. Wir sind an dem Punkt, wo wir entweder ein neues Projekt beginnen oder das alte vernichten müssen. Etwas anderes bleibt uns nicht. Und ein neues Projekt kann ich mir nicht einmal denken.[…]“
Ich habe bewusst diesen Auszug gewählt; der Rest der Übertragung sah niemand mehr, weil ich per Telefon das Kommando gab, den Kanal abzuschalten. Nur Stunden, nachdem ich diesen Befehl gegeben hatte, eigentlich mehr aus einer Panik heraus als aufgrund von Kalkül oder begründeter Überlegung, wurde der italienische Zweig von memento gegründet.
Zeitindex +13
Memento begann als lose politische Gruppierung mit dem Ziel, Zensuraktionen wie die von mir angeordnete Beendigung der Übertragung zu stoppen. Von Anfang an waren sie eng mit der Church of Restauration verbunden. Ihre Ziele wandelten sich im Lauf der Zeit; bald prangerten sich nicht nur die Zensur an, sondern versuchten aktiv auch selbst die Erinnerung und die Beschäftigung mit der Großen Schande zu fördern. In Asien und Nordafrika war memento schon vor der von mir gestoppten Debatte aktiv; dort hatten die staatlichen Maßnahmen früher begonnen. Natürlich reagierte der gesamte Erdbund nervös, zumal memento sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Immer mehr Dokumentationen wurden verboten, immer mehr Ausstrahlungen verhindert. Memento druckte Flugblätter und Aufkleber, ihre Mitglieder verbreiteten Kopien von zensierten Fernsehsendungen, drehten eigene. Wir reagierten entsprechend, aber vorsichtig. Ich ließ Demonstrationen räumen, wenn sie zu einem Risiko wurden, und eine Abteilung der Verwaltung wurde von mir damit beauftragt, Flugblätter und ähnliche Druckerzeugnisse möglichst unauffällig einzuziehen. Ich muss sagen, ich wusste, das Den Recht hatte; er hatte genau das gesagt, was ich und viele andere nicht zu denken gewagt hatten. Die Große Schande würde nie vergehen, das mussten wir aufrichtig anerkennen, und die Menschen von memento erkannten das besser als viele andere. Dennoch entwickelte sich memento auch aus meiner Sicht immer mehr zu einer terroristischen Gruppe. Ihre illegalen Aktionen waren zwar harmlos, aber dennoch eben illegal. Heute denke ich, dass ich damals zu hart gegen sie vorging. Vielleicht hatten einige von ihnen schon eine Vorahnung von dem, was geschehen würde, und deshalb engagierten sie sich so: Ich dagegen wollte es vielleicht auf die eine oder andere Art nicht wahrhaben, auch wenn ich schon damals Gerüchte hörte. Ich wusste auch, dass es eine Art Konterguerilla gab, auch in Italien, die mit äußerster Brutalität die Aktivitäten von memento bekämpfte. Sie erklärten sich nie, sie übernahmen auch nie die Verantwortung für Anschläge auf Mitglieder von memento. Das Fernsehen sprach nicht von ihnen, aber ich wusste, dass es sie gab; ich wusste auch, dass der Erdbund sie unterstützte. Mir kam nicht einmal in den Sinn, es öffentlich zu machen.
Zeitindex +14
Im Oktober 98 las ich die Ankündigung für ein „offenes Gespräch über die Große Schande“, das live im Fernsehen gezeigt werden sollte. Ich war nicht darüber informiert worden, aber die höchsten Gremien des Erdbundes hatten entschieden, selbst eine solche Runde zusammenzustellen und das ganze auf allen Kanälen auszustrahlen. Auch Peter Den war eingeladen, was mich noch mehr verwunderte; ich wusste, dass er inzwischen memento angehörte. Später sagte man mir, dass 95% der Bevölkerung die Sendung verfolgten. Das war auch der Plan; möglichst alle sollten es sehen.
Ich konnte zumindest die zentralen Stelle der Debatte rekonstruieren; im wesentlichen drehte sie sich um die Frage danach, wie es weitergehen sollte, wie man mit der Großen Schande weiterleben sollte. Sie ließen Den reden, seinen Standpunkt darlegen, wie er schon in der Sendung im Juli getan hatte. Danach sprach ein Vertreter des Erdbundes:
„Herr Den, ich stimme ihnen vollkommen zu. Sie wissen genau wie ich, genau wie die Menschen dort draußen, dass die Große Schande das Ende bedeutet. Wir haben wirklich erfahren, dass Religion wertlos ist; das Vernunft eine Illusion ist. Wir haben alle gesehen, wozu wir fähig sind. Ich selbst weiß nicht einmal, wie viele Menschen ich damals getötet haben, und es nagt jeden Tag an mir. Und sie haben auch Recht, wenn sie uns vor die Wahl stellen; entweder, wir geben uns und den Menschen auf, oder wir beginnen ein ganz neues Projekt. Aber ein solches Projekt ist nicht in Sicht; es bleibt nur der Tod.
Und ich muss ihnen sagen, es überrascht mich nicht, dass sie so etwas feststellen und es Millionen von Menschen sagen können. Für sie ist das einfach; sie lagen, wie wir alle wissen, damals in einem Krankenhaus. Sie waren nicht beteiligt an der Großen Schande. Sie mögen glauben, sie laste in gewisser Hinsicht auch auf ihnen, weil auch sie ein Mensch sind, aber so einfach ist es nicht. Meine, unsere Perspektive ist eine andere. Und deshalb sehe ich als Mensch, als Täter, auch einen Ausweg, der ihnen vielleicht nicht in den Sinn kommen konnte. Ich weiß, sie halten die Tradition der Erinnerung hoch, sonst wären sie wohl kaum Mitglied in der terroristischen Vereinigung memento. Aber, so frage ich sie, was wäre, wenn wir wirklich vergessen könnten? Wenn wir dafür sorgen könnten, dass die Große Schande wenigstens für unsere Kinder nie geschehen ist?“
Ich weiß nicht genau, warum Den ihn nicht unterbrach oder das offensichtliche entgegnete; das dies nicht möglich sei, dass es zudem unaufrichtig wäre. Vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr im Studio, oder man hatte ihn massiv eingeschüchtert. Gegen Ende wandt sich der Vertreter des Erdbundes direkt an das Publikum, und was er sagte, überraschte auch mich, obwohl ich – wie gesagt – schon mehrfach Gerüchte gehört hatte:
„[…]Jedenfalls ist es möglich. Der Erdbund hat Hunderte von Experten zu Rate gezogen, und wir haben ein Ergebnis: Wir können dafür sorgen, das die Große Schande innerhalb von ein oder zwei Generationen komplett verschwindet. Es ist kein einfaches Unternehmen, aber es ist machbar. Natürlich können wir ihnen die Details nicht bekannt geben. Ihnen sollte aber klar sein, dass es viele Opfer kosten wird, und dass es auch ihnen etwas abverlangen wird. Wir können dieses Projekt nicht allein angehen; der Erdbund hat sich schon immer zur Demokratie bekannt. Deshalb findet am Sonntag in zwei Wochen eine weltweite Abstimmung statt. Es stehen nur zwei Optionen zur Wahl: Erinnerung oder Vergessen. Das ist alles. Wir geben diese Entscheidung in ihre Hände, sie haben meine Worte gehört, sie haben das schreckliche Bild von einer Zukunft gesehen, dass Herr Den ihnen gezeigt hat. Sehen sie ihre Kinder an: In was für einer Welt sollen sie aufwachsen? In was für einer Welt möchten sie mit ihren Enkeln spielen? Gehen sie in sich und stellen sie sich diese Fragen. Ich weiß, dass wir ihnen in gewisser Hinsicht ein unmoralisches Angebot machen – aber was sollte das für uns noch bedeuten? Die Terroristen von memento und anderen Organisationen möchten ihnen einreden, dass die Wahrheit, die Erinnerung wichtiger ist als das Leben, wichtiger als das Glück unserer Kinder, wichtiger als die gesunde Naivität der Menschheit. Viele von ihnen tragen wie Herr Den nicht die Schuld, die sie und ich fühlen, können nicht verstehen, was das bedeutet. Deshalb bitte ich sie, stellen sie sich diese Fragen. Fragen sie sich auch, was ihnen wichtiger erscheint: Fragen sie sich, liebe Zuschauer: Möchte ich leben oder wissen?“
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