Die endlose Linie Diesen Artikel drucken

Der alte Mann weinte allein, weinte stets allein.

„Das kann doch niemand verstehen, der es nicht selbst erlebt hat.“ so hatte er das Gespräch beendet, wieder einmal beendet.

So war er den Fragen entronnen, doch jetzt war er allein mit einem, der es erlebt hatte und dennoch nicht verstand. Beide sahen sie die Linie in seinem Kopf, den ewigen, stahlgrauen Knoten, der sich von einem Gedanken zum nächsten wand und niemals aufgelöst werden konnte, den rostigen Draht, der ihn durch zwei Deutschlands geführt hatte und den er häufiger verfluchte als die falschen Versprechungen der Dämonen von damals.

Die Linie, auf der sie von Westen nach Osten gezogen waren in ihren Uniformen,
Die gedachte Verlängerung des Gewehrlaufs, der immer in die falsche Richtung gerichtet gewesen war,
Der Strich, zu dem die Lippen der Toten wurden,
Die Reihe, in der sie die Männer und Frauen aufgestellt hatten,
Der Strick, den sie um den Hals der Partisanen gelegt hatten,
Die Verteidigungslinien des Feindes, die zu Angriffslinien wurden,

Der ewige Weg zurück von Ost nach West, schmutzig, kalt und bitter,

Der geradlinige Aufstieg eines deutschen Beamten,
Die Geraden in der Bauzeichnung eines Einfamilienhauses,
Die aufregungslose Abfolge der Jahre,

Die kurvigen Linien im Gesicht eines Alten,

Das endlose Leugnen,
Das ewige Schweigen.

Zu Stecknadelköpfen waren seine Augen geschrumpft: Schwarze Punkte wie die Enden einer langen, langen Linie.

2 Antworten zu “Die endlose Linie”

  1. overclouded sagt:

    I try to find the answer, to the never ending line.

    Dein Gedicht lässt mich an diese Zeile denken. So stellt die niemals endende Linie vielleicht auch eine Frage dar. Eine Frage deren Antwort unauffindbar und deren Umfang unendlich scheint.

    Anscheinend gibt es viele Möglichkeiten diese Frage NICHT beantworten zu können. Vielleicht ist es nur möglich es auf eine bestimmte Weise NICHT zu verstehen, wenn man es selbst miterlebt hat. So stellt die niemals endende Linie auch eine ewige Trennung dar, nicht wahr?

    Besonders gefällt mir an deinem Gedicht die Verbindung zwischen der Vergangenheit, den darauf folgenden Jahren und der Gegenwart. Die beiden Stecknadelköpfe am Ende der Linie lassen mich eine mögliche, sehr fatale Antwort auf die nie enden Linie vermuten, werfen aber weitere Fragen auf – das spricht sicherlich für dein Gedicht.

  2. Hallo overclouded,

    Ich weiß nicht, inwiefern mich der Placebo-Song beeinflußt hat, möglicherweise ist das tatsächlich der Hintergrund (wobei das ja nicht der ‚richtige‘ Text ist, aber der Satz ist besser als das Original!)
    Ja, die Linie trennt ihn auch – vor allem von sich selbst, von seinem Innersten. Deshalb das Knäuel in seinem Kopf. Am Anfang hätte man den Knoten vielleicht auflösen können, vielleicht hätten auch andere dabei helfen können. Aber irgendwann ist es zu spät gewesen: irgendwann hatte er gar keine andere Wahl mehr, als den Faden weiter und weiter und weiter zu spinnen. Und dann hängt alles an diesem Faden, nicht nur ein Teil der Vergangenheit, sondern alles.
    Es ist so, als würde man einen großen Knoten in einen Wollfaden machen, und dann mit beiden Enden um den Knoten herum einen Pullover stricken. Man kann den Knoten nicht mehr lösen, ohne die ganze Arbeit zu zerstören.

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