Prelude/Lullaby I Diesen Artikel drucken

Warte nicht auf mich.
Kühles, verbleichendes Blau, dass sich in ihrem Gesicht widerspiegelt. Schwarze, grobe Buchstaben, die sich wie kleine Klingen in das Display eingraben.
Warte nicht auf mich.

Aufwachen ähnelte der Vertreibung aus dem Paradies.
Jeden Morgen schlug er die Augen auf und für einen kurzen Moment fühlte er sich unberührt, unberührt von heute und von morgen. Es war dieser winzige Augenblick, indem er nicht wusste, wer er war, welchen Weg er hinter sich hatte – oder vor sich.
Er schlug den Wecker mit Wucht aus, nur um den Gedanken daran zu vertreiben.
Als er die Augen wieder schloss dachte er benommen darüber nach, warum er nicht aufsprang an dem grellen Tag, der durch die Rolläden schien.
Im Bad kam ihm wieder der Gedanke.
Aufwachen war wie geboren werden und sterben. Man wachte auf wie ein Neugeborenes, wie eine leere Diskette, frisch, neu, ohne Identität, ohne Inhalt.
Doch mit derselben Routine, die ebenso die Morgenwäsche der meisten Menschen beherrscht, kehrte all der Schmerz, all die Trauer, all die vergebene Hoffnung zurück ins Bewusstsein.
Er lächelte den Spiegel schief an. Weiße, tiefe Schluchten, aus denen sich braune, scheinbar weit entfernte Flecken selbst betrachteten. Ironie. Ein überaus vertrautes Konzept. Sicher keine Waffe des Geistes, mehr eine der Verzweiflung.
Das metallische Surren des Elektrorasierers zerriß den Gedankengang. Vor langer Zeit schon hatte er jede Rasierklinge aus dem Bad verbannt.
Er duschte ausgiebig.
Warum war Duschen so entspannend?
Sein Geist verhakte sich kurz an dieser Frage.
Es war ein Symbol der Reinigung, und zwar nicht nur der Reinigung von physischem Schmutz. Dennoch, Wasser vermochte nun mal objektiv gesehen nur Dreck zu entfernen.
Objektiv. So sah er sich gerne. Objektiv. Er formte das Wort mit den Lippen und versuchte, selbstzufrieden auszusehen. Es funktionierte nicht, aber immerhin lenkte es seinen Geist von dem Gedanken einer absoluten Reinigung ab.
Die Haustür schloß sich hinter ihm. Den ersten Teil Routine hatte er hinter sich, jetzt begann der nächste. Er kniff die Augen zu, als er sich in Richtung der tiefstehenden Sonne wand. Die Nebelfäden, die sich am Horizont entlangzogen, bildeten ein blutrotes Halo am Himmel. Die Sonnenbrille hatte er schon in der Hand gehabt, als er das Badezimmer verlassen hatte, jetzt setzte er sie auf.
Lichtstreuung in der Atmosphäre. Nichts besonderes, nichts Ästhetisches. Nur Physik.
Die Gartenpforte knarrte verschwörerisch hinter ihm. Er hatte schon oft gedacht, dass das Haus nicht in die Straße passte. Irgendwie hob es sich ab, aber auf eine subtile, konspirative Weise. Wie eine Krebszelle unter gesunden Zellen. Eine interessante Analogie, wie er fand, auch wenn er wusste, dass ein Teil von ihm darüber lachte. Genauso gemein lachte wie die roten Ziffern des Weckers, der ihn morgens aus dem Schlaf riss.
Seine Füsse berührten vorsichtig die Straße, wie ein Blinder, der Angst hat zu stürzen.
In gewisser Weise stimmte das auch. Zwar konnte er sehen, aber das für ihn wirklich Bedeutsame und Gefährliche an diesem Ort, an jedem Ort, konnte er nicht sehen. Er legte den Kopf schief, während er den nächsten Block erreichte.
Nein, so stimmte das nicht. Er wusste ja, dass sie da war, die Angst. Es war so, als ob sie ständig am Rand seines Gesichtsfeldes stand und ihm zusah. Eigentlich war es mehr ein Gefühl der Präsenz als ein visueller Eindruck. Wie das brennende Stechen im Nacken, wenn man den Blick eines anderen dort fühlt.
Wie irrational von ihm. Ominöse Gefühle. Er lachte innerlich wieder über sich selbst, aber diesmal war es ein nervöses, ein peinlich berührtes Lachen.
Das Lachen half etwas, das Gefühl wegzuwischen, besser, zu betäuben.
An einer Ampel musste er stehenbleiben. Er blickte nach oben. Gleich würde er wieder da sein, und die Angst würde dort schon warten.
Vielleicht war heute der richtige Tag, es zu tun. Noch einmal lächelte er, dann sprang die Ampel auf Grün.

… to be continued.

„Die Seele nährt sich von dem, an dem sie sich freut.“ – Augustinus von Hippo

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