Prelude/Lullaby II Diesen Artikel drucken

Mit leise wisperndem Widerwillen betrat er den Lift. Die Türen schlossen sich mit einem düsteren Geräusch, dem Geräusch einer Patrone, die sich in ein Magazin fügt. Ein Sarg, dachte er, ein stählerner Sarg. So einer, in dem man verstrahlte Leichen transportierte. Die Türen gingen mit einem Ruck wieder auf. Ein Mann stieg zu. Seine Angst lächelte ihm kurz durch das Gesicht des Mannes im Anzug an. Er schob sich, soweit er konnte, in eine Ecke des Sargs, den Kopf starr geradeaus gerichtet. Der Anzug kam ihm bekannt vor.

Ja, er gehörte zu einem der Anzugmenschen aus den oberen Stockwerken. Musste er ihn grüßen? Und warum war er hier, gerade jetzt, mit ihm?
Sein Blick blieb auf die unfreundlichen Dioden über der Tür fixiert. Er war schon fast da. Gleich, gleich, konnte er hier raus. Gleich.
Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Rasierwasser. Seine Augen wendeten sich unwillkürlich zu dem Anzugmenschen hin. Was er jetzt wohl dachte. Wahrscheinlich schmiedete er Pläne. Er malte sich aus, was das wohl für Pläne sein könnten.
Einige dumpfe Silben durchschnitten seine Überlegungen. Sein Blick wurde trüb, als würde er durch Nebel blicken.
Er stellte sich vor, wie die Silben die Wand aus Furcht um ihn lautlos verbogen, sie durchdrangen.
Der Anzugmensch sah ihn direkt an, sein Mund bewegte sich.
Sein Name. Dann eine Frage.
Eine verlogene, verräterische Frage nach seinem Wohlbefinden. Dann seine Stimme, eine Silbe, die Antwort.
Hatte der Anzug irgendwie gehört, was er gedacht hatte? Nein, das war nicht möglich. Die Physik verbat es.
Er spürte den kleinen Splitter des Zweifels, der blieb, der immer blieb. Wie ein kleiner Glassplitter, der im Dunkeln wartet, dass man sich an ihm schneidet.
Die Lifttüren öffneten sich mit einem Seufzen. Endlich. Sein Stockwerk, seine Hölle. Immerhin seine eigene. Der letzte Gedanke entlockte ihm ein Grinsen. Er stellte vor, wie er jetzt aussehen würde. Wie ein grinsender Totenschädel in einem Anzug. Mit einiger Anstrengung zwang er sich, ein professionelles Lächeln aufzusetzen. Eine Maske, eine notwendige Maske.
Das Klingeln hinter ihm rief ihn zurück ins Jetzt. Die Sargtüren schlossen sich. Der Anzugmensch, er musste ihm die ganze Zeit nachgestarrt haben. Er konnte das spüren, genauso wie er sein Lachen hören konnte. Es war leise, aber es war da, er wusste es, er konnte es fühlen.
Dicht an der Wand durchquerte er den Korridor zu seinem Büro. Seine Kollegen hatten einmal gescherzt, seine Haltung deute an, er würde sich auf einem Schlachtfeld bewegen, schlangenhaft, geduckt. Er hatte nichts geantwortet. Hier oben sagte er nie viel.
Durch die Wände konnte er die anderen Menschen spüren. Während er um die scharfen Ecken der Flure steuerte stellte er sich vor, wie er sie durch die Wände fühlen konnte. Jeder einzelne verbunden mit den anderen, jeder einzelne mit einer Bestimmung, einem Zweck. Einer Aura, vielleicht war das ein adäquater Ausdruck, auch wenn er ihm metaphysisch-lächerlich vorkam. Er konnte sie lachen hören, sie lachten immer über ihn. Nicht bösartig, nein. Es war verständlich, er würde oft gerne mit ihnen lachen. Natürlich lachten sie aber nie, wenn er dabei war. Dennoch, er fühlte ihre Verachtung, ihre falsche Höflichkeit. Er fühlte keine Wut, dass hatte ihn früher irritiert. Eine Weile hatte er darüber nachgedacht.
Jäh streifte seine Schulter eine Wand, als er einem Anzugmenschen auswich, der ihn nicht wahrgenommen hatte. Zumindest war er ein Niemand hier, das beruhigte ihn auf eine faszinierende Weise. Seine Konzentration richtete sich wieder nach innen.
Diese Überlegungen hatten zu dem Schluss geführt, dass er gar nicht das Recht hatte, wütend zu sein. Im Gegenteil, sie hatten Recht, er war nichts, er war niemand. Er hatte kein Legitimation, ihre Aufmerksamkeit, ihre Anteilnahme, ihre Akzeptanz zu verlangen. Mit einem vogelartigen Schulterzucken bestätigte er sich die Richtigkeit dieser Annahme. Das Büro lag vor ihm. Das Licht fiel an einem solchen Tag viel zu hell hinein, wie er fand. Seine Gedanken schweiften wieder zu dem strahlungsisolierten Stahlsarg. Nun, er hatte nicht das Recht, sich zu beschweren.
Die anderen Anzugmenschen in dem Büro begrüßten ihn. Zwei, drei, vier. Sie waren alle da. Alle bis auf das Mädchen. Mit der Art von Sanftheit, mit der ein Musiker ein uraltes Instrument vorsichtig stimmt, erwiderte er beiläufig ihre Begrüßungen. Natürlich, sie waren freundlich, taten so, als ob er dazugehören würde.
Sie war nicht da. Vielleicht hatte sie sich versetzen lassen, er könnte es verstehen. Er würde auch nicht gerne in seiner Nähe arbeiten müssen. Vielleicht war sie auch einfach nicht da, um ihn ein wenig zu quälen.
Ein Druck auf einen roten Knopf, sein Computer bootete. Schaute ihn durch seine roten und dunkelblauen LEDs grinsend an.
Hinter ihm ein Räuspern. Langsam drehte er sich um, immer noch in der verschlagenen, geduckten Haltung, ein Boxer, der auf einen Schlag wartet.
Und dort stand sie. Sie blickte ihn aus hellen, grauen Augen an. Blonde, kurze Haare.
Er hasste es. Wellen von Endorphinmolekülen, die durch seine Venen spülen wie eine Armada.
Er hasste es.
Aber er liebte sie.
Ihre Augen fesselten ihn, er hörte nur halb, was sie sagte. Wie schön sich das Licht in dem Büroraum in ihren Pupillen fing. Wie schön das Licht ihr ganzes Gesicht einfing.
Und sie war zu ihm gekommen. Vielleicht…vielleicht… aber das konnte nicht sein.
Wie zum Beweis klingelte mit unverhüllter Häme ein Telefon. Ihr Telefon.
Sie blickte ihn noch mal an, wand sich dann von ihm ab. Noch einmal ihr Haar in der Morgensonne, viel zu helles Licht.
Er hatte es doch gewusst, immer gewusst. Aber er konnte es ihr nicht übel nehmen, er war nun mal, was er war. Und sie war nur ein Mensch wie jeder andere.
Sie war Verrat, Menschen waren Verrat, das Leben war Verrat. Er dachte an das kleine Kästchen unter seinem Bett, schwarzes, warmes Holz, bevor er sich dem leise flüsternden Rechner zu wand. Schwarz und schwer, wie das Holz, aus dem man massive Türen machte. Kurz verweilte er bei dem Gedanken, wohin diese Tür führen mochte, dann war er in seine Arbeit vertieft.

„All the ill that is in us comes from fear, and all the good from love.“ ~ Eleanor Farjeon

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