Kategorie 'Traumhaftes/Abstraktes'

Wie wir Feinde wurden

Diesen Artikel drucken 16. Februar 2009

Wir kannten uns schon lange, hatten viel miteinander erlebt, und deshalb betrübte es mich sehr, als ich es erkannte. Es begann wie jede große Veränderung mit einem einzigen Wort, oder auch einem Satz. Wir waren auch früher manchmal unterschiedlicher Meinung gewesen, so ist das nun mal, wenn man sich lange kennt.
So war es auch, als es begann: Ich schenkte dieser Meinungsverschiedenheit keine große Bedeutung, erklärte mich und meine Gedanken, ließ es dabei bewenden. Dabei hätte es mir klar sein müssen, als ich sah, wie er sich kurz von mir abwandte, bevor er das Thema wechselte. Ich glaube, der Riss war schon in diesem Moment da; er konnte mich nicht ansehen, er konnte es einfach nicht ertragen, in das Gesicht zu blicken, das ihm widersprochen hatte. Das verstand ich nicht sofort, erst später habe ich mich daran erinnert. Damals habe ich es nur verwundert registriert; ich bemerkte auch, wie er immer stiller wurde, aber konnte mir darauf ebenfalls keinen Reim machen. Doch schließlich schwieg er mich immer an: wenn ich fragte, was denn sei, reagierte er störrisch und sah an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Er antwortete nur, er sei müde oder krank oder betrunken. Einige Zeit später fiel mir auf, wie sehr sich unsere Freunde veränderten, was ihr Verhalten mir gegenüber anging. Immer hatte ich das Gefühl, sie wüssten etwas, das mir entgangen war. So, als ob jemand ihnen peinliche oder geheime Dinge über mich erzählt hätte, Dinge, die ich niemandem erzählen würde – von ihm einmal abgesehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Verdacht in mir wirklich keimte, schließlich hatte er schon so viel für mich getan, ohne Dank zu verlangen. Nicht ohne Grund hatte ich diese Dinge nur ihm erzählt.
Als ich jedoch endlich seine Veränderung, sein zurückgezogenes und grantiges Auftreten mir gegenüber dazu nahm, war der Argwohn in mir geweckt. Also stellte ich ihn zur Rede; ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit unseren Freunden sei, warum sie mich so seltsam behandelten. Er schüttelte nur den Kopf und sah wieder an mir vorbei. Ich glaubte ihm nicht und fragte ihn noch einmal. Er knurrte; wirklich, er knurrte wie ein Hund. Ich verlangte von ihm, mir Antwort zu geben, mit mir zu sprechen, wenigstens das sei er mir schuldig, doch er gab mir keine. Nur sein Knurren wurde lauter. Ich konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Einen Schritt ging ich auf ihn zu, rief ihn an, er solle sich  bekennen. Er knurrte nur weiter, ich sah, wie seine krallenartigen Finger sich verkrampfen, er fletschte die Zähne wie ein Tier: so hatte ich ihn nie zuvor erlebt. Und immer noch starrte er an mir vorbei. Schließlich konnte ich nicht anders: Meine Hände fanden seinen Kopf, und einen Moment lang rangen wir miteinander. Dann ergab er sich, wie er sich meiner Gewalt bisher immer ergeben hatte, und ließ mich seinen Kopf drehen, so dass er mir in die Augen sehen musste. In seinem Ausdruck sah ich die seltsamste Empfindung, die ich mir denken kann, und ich weiß nicht, ob ich jemals richtig beschreiben werde. Es war Wut, aber nicht seine. Es war ein Gefühl, das eigentlich ich haben sollte. Doch nicht so, als ob mir dieses Gefühl fehlen würde; ganz im Gegenteil, der Wut fehlte ihr Träger, und so war sie auf ihn übergegangen, quälte ihn, machte ihn fast tollwütig vor Schmerz. Ich war erschrocken, mitleidig. Er hatte mir so lange Zeit so gut gedient, und jetzt war etwas geschehen, etwas, das wir beide nicht verstanden. Das dachte ich, als ich seinen Blick sah. Es dauerte nur Sekunden, nur einen Moment gestattete er mir, einen letzten Blick auf seine Augen zu werfen, dann riss er sich los und biss mir in der Hand; das hatte er noch nie getan. Jaulend lief er davon, während ich mir die schmerzende Hand hielt.
Seitdem habe ich nicht mehr ihm gesprochen. Er hält sich irgendwo im Verborgenen auf, ich weiß nicht, wo: er war immer gut darin, sich zu verstecken. Ich weiß bis heute nicht, warum es geschah, und allein die Frage danach, was überhaupt geschehen war, ließ mich lange grübeln.

Erst, als ich ihn einmal lange im Spiegel betrachtete, ihn wieder und wieder sah, begriff ich es wirklich. Wir waren Feinde geworden. Wir würden immer Feinde sein.

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Diesen Artikel drucken 23. Januar 2009

Als ich vier Jahre alt war, beherrschte ich bereits zwei Sprachen flüssig, da meine Eltern großen Wert auf meine frühe Ausbildung legten.
Sport betrieb ich, sobald ich laufen konnte: Ich spielte Fußball, Handball, Basketball, ich joggte, mit zehn begann ich Gewichte zu heben.
Auch meine musische Ausbildung begann früh. Mit sieben lernte ich Geige und Klavier von einem alten, russischen Meister. Er war streng, aber ich tat alles, was er verlangte.
In etwa dem gleichen Alter bekam ich meinen ersten Privatdozenten, der mir neben einer dritten Sprache auch Kenntnisse der Naturwissenschaften, der Philosophie, Psychologie und des Wirtschaftswesens vermittelte. Es war nicht einfach, aber ich lernte dennoch schnell, viel schneller als andere Kinder meines Alters.
Als ich 14 wurde, hatte ich bereits mein erstes Studium begonnen; ich legte die Prüfung einen Tag vor meinem 17. Geburtstag ab. Direkt danach konzentrierte ich mich zum Ausgleich auf den Leistungssport. Für vier Monate trainierte ich acht statt zwei Stunden am Tag: Dabei benötigte ich keinen Trainer mehr, ich war längst mein eigener geworden.
Abends übte ich meine sozialen Fähigkeiten: ich ging zu Bällen und Banketten, ich traf mich mit vielerlei Arten von Menschen. Auch Proleten waren darunter: mein letzter Sozialcoach lehrte mich, dass auch diese Art von Kontakt Aufmerksamkeit und Übung verlange. Ich tat es konzentriert und durchaus interessiert, und das Training schärfte in der Tat meinen Sinn für das so genannte Menschliche. Ich schloss Freundschaften, ich fand eine angemessene Partnerin. Ich interagierte, bis mir das Behandeln von Menschen ebenso ins Blut überging wie der Stabhochsprung oder die Platonischen Dialoge.
Heute bin ich 20 Jahre alt. Ich spreche fünf Sprachen, ich laufe die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden. Ich habe Dutzende von Urkunden, Pokalen und Medaillen in gläsernen Vitrinen, die die Schnelligkeit meiner Auffassungsgabe, die Stärke meines Körpers und die Unabänderlichkeit meines Willens bezeugen. Ich habe drei Studiengänge abgeschlossen und bin auf dem Gebiet der Philosophie ebenso firm wie auf dem der Naturwissenschaften oder der Theologie; meine Reden sind beliebt, meine Diskussionsbeiträge gefürchtet. Die meisten Anstrengungen anderer verblassen, ganz ohne Arroganz, vor meiner Leistungsfähigkeit, und manchmal bemerke ich sie nicht einmal mehr.
Dabei ist der Neid der anderen unbegründet: es war nicht einfach, so zu werden, wie ich es jetzt bin.
Ich musste lernen, meinen Körper zu hassen, ihn vernichten zu wollen, um dann diesen wunderbaren, anderen Körper aus der Asche wachsen zu lassen, den ich nun lieben darf.
Ich musste lernen, meinen Geist zu verachten, ihn stumm zu machen, um ihn mit all den perfekten Ideen neu zu füllen, die die großen Denker und Dichter einst hatten, bis schließlich ein neuer Sinn, ein neuer Geist meine Welt ausfüllte.
Nun bin ich, was ich sein soll; makellos und rein. Wer mich kennt, wer ehrlich zu sich selbst ist und meine Leistungen nicht schmähen will, der muss zugeben, dass ich im Rahmen dessen, was dem Menschen möglich ist, perfekt bin.
ich weiß, dass ich im Zenit meiner Leistungsfähigkeit stehe. Ein paar Jahre noch, dann werden die Jahre ihren Tribut fordern. Auch das werde ich stoisch hinnehmen: meine sittliche Ausbildung ist abgeschlossen und vollständig..
Und doch bewegt mich eine Frage, keine die Unvermeidlichkeit des Alterungsprozesses betreffend, sondern eine andere, die sich mir im Hier und Jetzt stellt:
Als ich jung war, da suchte ich die Herausforderung, weil meine Eltern mich dazu anspornten, so sagt es zumindest die Psychologie. Später, als ich diese Interessen als eigene Vorstellung internalisiert hatte, strebte ich um meiner Selbst willen nach immer mehr: Daran kann ich mich erinnern. Selbst in der Pubertät, die unter Entwicklungspsychologen als schwerste Phase der Undiszipliniertheit gilt, mussten mich meine Eltern nur selten züchtigen. Ich war es, der aus sich selbst heraus den Kant las, statt den Mädchen nachzuschauen: der trainierte, statt mit Gleichaltrigen zu raufen; der Klaiver spielte, anstatt Bars zu besuchen.
All dies tat ich ohne Zweifel oder Widerstand. Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte mich nicht voll und ganz den ehernen Gesetzen der Selbstkontrolle ergeben, um mein Ziel zu erreichen, eben das Ziel, besser zu werden, immer noch besser zu werden.
Und so habe ich im stetigen Voranschreiten wirklich einen Mensch erschaffen, den viele für ein Kunstwerk halten. Ich bin dem Himmel näher als der Erde, schrieb einer einst über mich; anderen, vielleicht euch, diene ich als Vorbild, als Idol.
Und so will ich nicht undankbar erscheinen, wenn ich mich frage, wozu ich dies alles tat. Mein ganzes Leben lang schien es klar zu sein, doch jetzt weiß ich es nicht mehr. Dabei ist es kein Fehler des Gedächtnisses; ich habe es nicht vergessen. Es ist so, als hätte ich mein Leben lang auf den Gipfel eines Berges hinzugestrebt, doch jetzt, wo ich auf diesem Gipfel bin, stellt mich das nicht zufrieden. Mein Weg war weit und beschwerlich, doch ich bin stets vorangeschritten und habe dabei den Ort, an dem ich jetzt bin, die Art und Weise, auf die dieser Mensch, der ich bin, jetzt existiert, immer ins Auge gefasst. Doch jetzt, wo ich dieses Wesen erschaffen habe, wo es nun mehr nicht nur am Horizont der Vorstellung existiert, sondern mir vielmehr in Fleisch und Blut im Spiegel erscheint, da erscheint mir der Weg, den ich hinter mich gebracht habe, kaum noch lohnenswert. Ich bin auf dem Gipfel, doch über mir klafft nicht der Himmel, sondern das Vakuum, der leere Raum zwischen den Sternen. Ich kenne selbstredend die Theorien über die Unstetigkeit des Menschen, über seine Neigung, niemals Ruhe zu finden. Aber das ist es nicht, was mich beschäftigt: es ist, so denke ich, mehr das Missverhältnis zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Ich weiß, welchen Zauber die Vorstellung hat, in einer Weise perfekt zu sein, effizient, funktional; einen beträchtlichen Teil meines Lebens trachtete ich danach, dies zu erreichen. Doch, und das ist es wohl, was mich zu diesen Zeilen treibt, der Zauber verfliegt, wenn man ihn im Spiegel betrachtet. Alles, was vorher mythisch verklärte Vorstellung war, ist am Ende der Reise doch nur Fleisch und Knochen; sehe ich in den Spiegel, so sehe ich kein Wunder, wie ihr es manchmal in mir zu sehen scheint. Ich sehe eine Maschine, eine effiziente, eine funktionale, eine perfekte Maschine vielleicht, aber eben doch nur eine Maschine, geschaffen durch Ausbildung und Training. Ich kann und will euch nicht der Antriebe berauben, die das Bild in eurer Vorstellung – und mein Bild – in euch wecken. Aber beherzigt meinen Rat; seid achtsam mit euren verklärenden Wünschen. Perfektion ist eine Hure: Glaubt ihren Lügen nicht.

Schneeflocken

Diesen Artikel drucken 6. November 2008

Als ich klein war, da hat es einmal geschneit: natürlich hat es sicher viele Male geschneit, als ich noch klein war, aber dieses eine Mal ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich stand auf der Veranda und sah hinaus auf die Straße. Weiße Flocken tanzten in der Luft, und eine schwebte sacht am Dach des Hauses vorbei, wurde von einem leichten Windhauch auf die Veranda geweht und landete in meiner geöffneten Hand oder besser, meinem Handschuh. Voller Verwunderung sah ich dieses weiße, unförmige Ding an: schon damals waren meine Augen ziemlich schlecht (und natürlich hasste ich meine Brille), so dass ich nicht viel erkennen konnte: Aber ich sah, dass die Schneeflocke – meiner damaligen Sprache nach – aus sehr vielen kleinen Schneeflocken bestand, das Wort ‘Eiskristall’ kannte ich damals ja noch gar nicht, und wirklich erkennen konnte ich diese ohnehin nicht. Ich sah nur ein Glitzern und die seltsam losen, aber doch stabil verbundenen kleinen Dinge, die die größere Flocke formten. Von dieser Struktur war ich fasziniert: ich hatte so etwas nie gesehen und fragte mich, wie sie zu Stande kam. Die Flocke löste sich förmlich unter meinem Blick auf; zu der Zeit glaubte ich, dass der Schnee einfach zu Luft wurde, wenn er schmolz; das ist sogar für ein Kind eine seltsame VorstelSchneeflockenlung, aber so dachte ich es mir wohl.
Als ich bald darauf wieder hineingerufen wurde (meine Mutter war immer sehr ängstlich, was meinen Gesundheitszustand anging), fragte ich meinen Vater danach, warum die Schneeflocken nicht einzeln vom Himmel fielen, sondern in größeren Ballen: ich glaube, es dauerte eine Weile, bis er meine Frage verstand. Ich weiß nicht, ob er die richtige Antwort wusste (eigentlich hat es wohl damit zu tun, dass die Eiskristalle in einer Wolke sich ja in Bewegung befinden und sozusagen aneinander kleben bleiben – aber genau weiß ich das nicht) oder ob er sie nicht kannte: vielleicht dachte er sich, die physikalische Antwort sei zu unromantisch oder zu schwer für ein Kind. Aber er hatte ohnehin ein Faible für Geschichten aller Art, vor allem für Märchen, und es ist gut möglich, dass er mir nur deshalb diese andere Antwort gab, denn nachdem er mich kurz etwas verträumt angeschaut hatte (ich wollte immer augenblicklich eine Antwort auf meine Fragen, daher ist mir dies im Gedächtnis geblieben), erzählte er mir folgende Geschichte:
Vor langer Zeit, als die Menschen noch in Höhlen aus Stein lebten, da gab es noch keine Autos und auch kein Haus aus Stein: aber natürlich gab es schon den Schnee. Im Winter fiel er in den Tälern, wie er heute auch bei uns fällt; das ganze Jahr über fiel er in den hohen Bergen.
Doch damals war es anders mit den Flocken; sie fielen ganz allein, und so sah es eher aus wie ganz feiner Nebel, wenn die einzelnen Schneeflöckchen zu Boden schwebten, oder wie ein ganz feiner Nieselregen.
Die einzelnen Flöckchen, so erklärte er mir, sind so klein, dass der Weg zu Boden aus ihrer Sicht beinahe eine Lebensspanne dauert, so klein, dass der Abstand zwischen ihnen immer groß ist, egal wie dicht die Flöckchen auch fielen. Und so sahen sie ihre Artgenossen (dieses Wort wird er nicht verwendet haben, aber es war etwas Ähnliches) nur aus großer Entfernung, und weil sie eben so schlechte Augen hatten wie du, konnten sie auf diese Entfernung fast gar nichts von den anderen erkennen.
Einmal jedoch, da passierte das Unvermeidliche; zwei der Schneeflöckchen hatten so etwas wie einen Auffahrunfall (diesen Ausdruck hat er wirklich benutzt, glaube ich – ich kannte ihn, weil wir einmal einen Unfall mit dem Auto hatten), und obwohl die Natur es eigentlich anders eingerichtet hatte, rasten die beiden nicht etwa haarscharf aneinander vorbei, sondern prallten direkt aufeinander.
Natürlich herrschte zwischen beiden erst einmal betretenes Schweigen: So etwas war noch nie, nie passiert, und keiner wusste recht, was er tun sollte. Schließlich begann eine der beiden zu reden, und natürlich entbrannte ein Streit darüber, wer nun schuld sei an dem Unglück: doch nach einer Weile ging der Streit in eine Diskussion über, schließlich in ein normales Gespräch. Es dauerte lange, bis den Flöckchen gewahr wurde, wie lange sie schon sprachen und wie viel länger noch sie schon zusammen durch den Himmel schwebten.
Sie wussten natürlich, dass man es anders eingerichtet hatte für die Schneeflöckchen, aber ihnen war ebenso klar, dass es keinen Zufall sein konnte, dass ausgerechnet sie aufeinandergeprallt waren, obwohl das doch noch nie vorher geschehen war.
Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass ihre Aufeinandertreffen so etwas wie Schicksal sein musste: nach dem langen Gespräch hatten sie Gefallen aneinander gefunden, und auch wenn es noch Tausende von Auf- und Abs brauchen würde, bis sie sich des ganzen Ausmaßes ihrer früheren Einsamkeit bewusst werden würden, empfanden sie so etwas wie Traurigkeit, als sie den Boden nach langer Zeit näherkommen fühlten. Und sie versprachen sich, wieder zusammen zu reisen, wenn sie wieder in den Wolken ankämen.
So taten sie es auch, und das alles sprach sich bald herum in den Wolken, über den Tälern, auf den Bergspitzen. Andere folgten ihrem Beispiel; immer mehr von ihnen reisten jetzt zu zweit, manche sogar zu zehnt, schließlich reisten sie beinahe immer in großen Gruppen.
Mein Vater sagte mir noch, dass man sogar hören könne, wie sich die Flöckchen flüsternd voneinander verabschiedeten; das sei das Geräusch, das sie beim Auftreffen auf den Boden machen.
Ich hörte ihm damals gebannt zu und hielt die Vorstellung, die er in mir geweckt hatte, noch lange aufrecht, solange ich eben ein Kind war. Heute weiß ich natürlich, dass sie Unsinn ist, dass die ganze Geschichte nur ein Märchen ist. Aber trotzdem beeinflusst sie mich manchmal: Sie gefällt mir immer noch. Ich denke, es hat wohl damit zu tun, dass ich gern glauben möchte, jede gute Geschichte und überhaupt jede gute Sache in der Welt beginne mit der Entscheidung zweier Wesen, sich zusammen auf einen Weg zu machen.

Das Vlies

Diesen Artikel drucken 15. Mai 2008

Die Farben sind prächtig, die Muster von seltsam krummer, komplizierter Ästhetik. Man könnte sich darin verlieren, schlecht könnte es einem werden, wenn man zu lange den winzigen Strukturen folgt, im Sturzflug in immer winzigere Stickereien abgleitet wie in die Untiefen eines Fraktals.
Doch an diesem Stück ist nichts mathematisch; rechte Winkel sind hier unbekannt, alles windet sich, fließt sogar, wenn man die Augen halb schließt und nur vorsichtig darüber hinweg sieht. Viele Webknechte, Sticker und Schneider hat es gebraucht, um dieses Werk zu vollenden, das nie ganz fertiggestellt ist oder im Moment seiner Vollendung vergeht. Unzählige Materialien sind verwandt worden, exotische sind darunter, solche, die man nicht kaufen kann, Geduld etwa, oder Jähzorn, manchmal sogar Versprechen. Die meisten kann man nicht mehr erkennen, sind sie einmal in das Werk eingeflossen, dafür sind sie trotz der farbenfrohen Struktur nicht ausdrucksstark genug, oder genauer; sie lassen sich nicht mehr trennen, die Abstufungen zwischen ihnen verschwinden.
Und jeder der Arbeiter, so kurz er auch an dem Vlies beteiligt war, ob er nun ein Meister seines Faches war oder nur ein Laie, dem man die Nadeln kurz überlassen hat, hat seine Signatur, seine Spur im Vlies hinterlassen; nichts davon ist verloren, auch wenn vieles nicht leicht oder gar nicht mehr aufzufinden ist, wenn man nicht zufällig darüber stolpert: So tief sind die Arbeiten, gerade die kleinen, manchmal aber auch die großen Flächen, mit den anderen Teilen des Werkes verwoben. Mancher Laie ist für den winzigen Bogen eines kaum zu erkennenden Ornaments verantwortlich gewesen; mit einer Lupe erkennt man leicht seine Handschrift, hat man die Stelle erst einmal ausgemacht. Doch auch die riesigen Muster verschwinden manchmal unter den Hunderten und Tausenden von Stickereien über ihnen; man muss das Vlies schon aus großer Entfernung sehen und man muss auch wissen, was man sucht, dann kann man es erkennen, es ist verborgen wie die Muster von Nazca.
Andere Arbeiten sind leichter zu erkennen; meist sind es die, die zuerst ausgeführt wurden. Nicht, dass es dafür einen Plan gäbe. Es kann 80, 100 Jahre dauern, bis alles getan ist; manchmal geschieht jahrelang scheinbar nichts, nur mit einer Lupe kann man dann die Veränderungen erkennen, die tagtäglich eingeflochten werden. Doch zumeist sind es die ersten Künstler, die das Gesamtbild bestimmen; viel wird sich noch daran verändern, aber die ersten Jahre der Schaffenszeit legen so etwas wie das grundlegende Motiv, das Thema des Werks fest. Ist es schlampig oder hektisch eingewoben worden, so braucht es schon gute und liebevolle Sticker, um wenigstens noch etwas zu retten. Sieht man später darauf, wenn die ersten der Künstler schon lange gegangen sind, wird man das Grundmotiv leicht erkennen, und so fällt es schwer, es später zu verbergen. Natürlich kommt es auch immer wieder zu Unfällen; dann waren sich die verschiedenen Autoren uneins, wie sie ein Ornament zu führen haben, oder man hat sich einfach nicht darüber abgesprochen. Manchmal schleichen sich auch unmotivierte oder sogar schlechte gesinnte Handwerker ein und zerstören das feine Gewebe an einigen Stellen mit ihren Exzessen. So können von Zeit zu Zeit Versetzungslinien oder sogar dunkle Scharten im Gewebe entstehen; entscheidend ist dann immer die Kunstfertigkeit und Hingabe der später kommenden Akteure. Verstehen sie etwas von dem Werk, so können sie wieder kitten; eine Windung hier, eine scharfe Kurve dort, schon ist alles wieder integriert. Gerade dieses Chaos, dieses Aufeinanderfolgen von Bruch, Umbruch und Vereinigung geben jedem einzelnen Werk eine ganz eigene, seltsame Schönheit; ohne Trennungslinien, ohne Wiedergutmachungsfäden und Vergebungsflicken wäre das Vlies symmetrisch geblieben, und sein wahrer Ausdruck wäre nie zur Geltung gekommen. In der Wandlung liegt das Leben, nicht in der Strenge gerader Linien.
Und so geht es bei dieser Art von Kunst auch nicht um die Fertigstellung; die meisten Besucher kommen schon während der Schaffenszeit, sogar schon, wenn erst wenige, grobe Muster zu erkennen sind. Ihnen geht es nicht um das Sein, sondern um das Werden des Werks, viele von ihnen werden sich später selbst daran beteiligen, ihren Fingerabdruck im Gewebe hinterlassen. Andere kommen nur, um den Fortschritt zu sehen, der sich seit ihrem Fortgehen ereignet hat. Vielleicht suchen sie unter den vielfältigen Ornamenten die groben Muster, die sie einst eingeprägt haben, oder wollen sich nur vergewissern, dass ihre alten Fehler von anderen korrigiert oder besser: integriert wurden. Alles ist wiederzufinden; es mag schwer zu erkennen sein, aber kein Quentchen Leben, dass im Vlies gewirkt hat, ist verloren. Der Stoff erinnert sich selbst an das Kleinste, auf eine geheime, kunstvolle Art: Alles ist da, verborgen in den Details.

Ton

Diesen Artikel drucken 7. April 2008

Hätte sie mir von dem Traum nicht erzählt, mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Ich bin mir sogar sicher, dass alles anders geworden wäre, wenn wir an jenem Abend nicht zusammengesessen hätten. Aber natürlich bleibt das Spekulation; ich kann es nicht wissen, und vermutlich ist das auch besser so.

Es war an einem Dienstag im Jahr 1987, das weiß ich noch genau. Ich weiß auch noch, was für Musik gespielt wurde, die Erinnerung an die Szene ist ganz klar erhalten geblieben. Im Hintergrund lief ein müder Countrysong. Ich weiß nicht, ob das passend war oder nicht; vielleicht schon. In meinem Kopf kann ich immer noch die kühle Stimme des Sängers hören, wenn ich daran zurückdenke, also glaube ich, dass es irgendwie schon passend war: Sonst hätte ich es mir wohl nicht so genau gemerkt. Manchmal denke ich, dass das die einzige Erinnerung ist, die wirklich mir gehört, mir. Als ob an diesem Abend irgendetwas in mir gestorben wäre. Das ist natürlich dumm; ich lebe, nichts an mir hat sich geändert, abgesehen von der Art, wie ich die Dinge sehe. Meine Perspektive hat sich gedreht, das mag sein.

Sie erzählte es beiläufig, und vielleicht ist das der Grund, warum ich die Musik in dem Café als so passend empfand, das denke ich manchmal. Aber auch das kann nicht stimmen; sie war aufgeregt, nicht aufgelöst, aber doch sehr aufgeregt, nur hatte ich kaum Interesse an dem Gespräch gezeigt. Ich schaute gerade einem hübschen Mädchen nach, das vor dem Fenster mit ihrem Hund spazieren ging, als sie von dem Traum zu erzählen begann: Ich drehte den Kopf wieder zu ihr. Den Ausdruck in ihren Augen werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen; vielleicht wird der Rest der Szene irgendwann verblassen, das könnte sein. Ich werde bald 45, und irgendwann wird der Verstand wohl träger werden, irgendwann werden sich meine Erinnerungen davonstehlen. Diesen Ausdruck aber, den werde ich sicher nicht vergessen, bis zum Ende nicht. Er stand nur für einen Bruchteil eines Moments in ihren Augen; ich habe mir das nicht eingebildet, glaube ich, er war da, einen unbeschreiblich grausamen Augenblick lang. Ich kann nicht beschreiben, was dieser Ausdruck genau war; man kann es nicht, niemand könnte es, befürchte ich. Es war so, als würde ich durch sie hindurchsehen, oder als würde ich durch sie in mich hineinsehen; beides, zugleich.
Ich hatte einen Traum, gestern, hatte sie gesagt, von dem muss ich dir erzählen. Er beschäftigt mich, und ich muss jemandem davon erzählen.

Es war ihr Traum, nicht meiner, und das lässt die Sache unwahrscheinlich erscheinen lassen, aber ich kann mir genau – ganz genau – vorstellen, wir ihr Traum aussah. Sie hat ihn nicht sehr detailliert beschrieben, aber trotzdem habe ich ein konkretes Bild vor Augen. In diesem Bild sitzt sie in dem Café. Es ist sehr voll, ich kann den Rauch riechen, ich kann das Stimmengewirr hören, den Kaffee schmecken. Und dann kommt jemand herein, den ich nicht erkennen kann; er trägt eine Sportjacke und eine Wintermütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Er will nicht erkannt werden, das hat sie damals zu mir gesagt; er will nicht erkannt werden, niemand soll sehen, wer er ist. Er ist der Tod.

Bis heute verstehe ich diesen Satz nicht; denn er ist nicht der Tod, nicht in dem Bild, das ich von der ganzen Szene habe. Ich frage mich oft, ob ich sie falsch verstanden habe; ob mein Bild einfach nur falsch ist. Aber Bilder können nicht so einfach falsch sein. Sie sind subjektive Eindrücke, und vielleicht ist der Grund dafür, dass ich diese Szene niemals vergesse, genau der: Ich habe ihren Traum gesehen, aber durch meine Augen. Für sie war der Traum nur eine interessante, eine beängstigende Episode. Wir haben nach diesem Tag nie wieder darüber gesprochen, einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Für sie war es keine Katastrophe, sondern nur eine kleine Anekdoten. Ich glaube, sie hat wirklich den Tod gesehen in ihrem Albtraum: nur eine Figur, ein Spieler auf dem Spielfeld, der zusammen mit demselben verschwindet, wenn man erwacht. Ich dagegen habe mich gesehen, mich, und ich bin keine der Spielfiguren. In meinem Bild komme ich herein durch die Tür, nicht der Tod, nur ich in der Verkleidung des Todes.

Aber egal, wer der Mann ist; wir sind uns einig darüber, was er tut. Er setzt sich an ihren Tisch. In meiner Vorstellung nimmt er den Platz, den ich hatte, als sie mir davon erzählte, direkt am Fenster. Er fragt nicht, ob er sich setzen darf, und in ihrer Erzählung war das der Punkt, an dem ich den Charakter eines Albtraums erkannte. Hier beginnt die Gewalt, dachte ich damals. Die Würfel sind jetzt gefallen; hätte er sie gefragt oder sich nur an einen anderen Tisch gesetzt, dann wäre alles offen gewesen, aber so ist klar, dass es ein schlechtes Ende nehmen muss.

Er sieht sie an: Man kann kein Gesicht erkennen, so hat sie es beschrieben. Da ist ein Gesicht, aber man kann es nicht erkennen. Als hätte man diese Krankheit, bei der man Gesichter nicht unterscheiden kann. In meinem Bild ist das ebenso; aber ich weiß eben, dass ich unter dieser Maskerade stecke, ich bin mir ganz sicher. Das Ungesicht grinst; es grinst hämisch. Und dann sagt er nur zwei Sätze; er sagt sie ganz ruhig, aber auch so, dass man weiß, wie lange er sie studiert hat.

Glaubst du, was du siehst? Was siehst du denn?

Er lässt die Sätze ein oder zwei Sekunden wirken, starrt sie an, sucht nach der Reaktion. Dann steht er von seinem Stuhl auf und hebt ihn fast spielend hoch, ohne jedoch darauf zu verzichten, seine Kraft zu demonstrieren. Es ist eine Geste der Überlegenheit, eine, die sie klein wirken lässt und auch wirken lassen will.
Dann hebt er ihn über den Kopf, dreht sich herum und lässt ihn auf einen der anderen Gäste herabsausen.

Es ist eine rohe Tat, aber keine, die diese Art von Unwohlsein erzeugt, von der sie mir damals erzählen wollte. Ich habe dieses Bild genau vor Augen, wie der Stuhl krachend zerreißt, aber es macht mir keine Angst. Er oder ich, wir wollen diesen Gast nicht töten oder verletzen, darum geht es nicht. Wir wollen etwas zeigen, das noch viel schlimmer ist.

Als der Stuhl mit diesem lauten Geräusch explodiert, verstummen die Gespräche plötzlich. Ich kann keinen Rauch mehr riechen; in meiner Vorstellung dampfen selbst die Kaffeetassen nicht mehr. Die Gäste verharren; sie frieren nicht ein wie in einem Film, sie bleiben nur sitzen und starren.
Einen Moment dauert es, bis das Geräusch des zerstörten Stuhls verklungen ist, dann ist es still. Der Mann tritt von seinem Werk zurück. Und was man dann sieht, das ist der getroffene Gast, doch da ist kein Blut. Als sie mir davon erzählte, erwartete ich ein sehr blutrünstiges Bild; doch da war kein Rot, nichts. Nur dieser Mensch oder besser: dieses Ding. Ich kann nur versuchen, es zu beschreiben –
Sein Kopf ist nicht verletzt worden; er fehlt einfach nur, zumindest der größte Teil. Er scheint schräg abgebrochen zu sein, wie von einer alten Statue. Die Ränder sind spröde; da ist keine glatte Bruchkante, dieses Ding ist nicht eingerissen und es hat auch nicht nachgegeben wie weiches Fleisch. Es ist gesprungen, gesprungen wie ein Tonkrug. In ihrem Traum steht sie auf, um es genauer zu erkennen, und erst dann begreift sie, was wirklich geschehen ist; dieses Wesen war tatsächlich aus Ton. Das Innere war schon immer hohl: die dünne Schicht aus gebranntem Ton hat es schon immer zusammengehalten. Es war nur eine Oberfläche, und er oder ich haben diese Oberfläche zerschmettert. Da war gar kein echtes Wesen, kein wirklicher Mensch, den wir hätten töten können, nur dieses beschädigte Tongefäß, diese Sammlung von Fälschungen.
Ich weiß nicht genau, was dann geschieht; ich weiß, dass der Mann ohne Gesicht ihr etwas Hämisches zuruft und dann all die anderen Gäste zerschlägt, zerschlägt wie das erste Gefäß auch, aber ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge es geschieht oder wie er es tut. Manche scheinen nur unter seinem Blick zu bersten; er muss sie nicht schlagen, um sie zu zerbrechen, aber das ist meine Interpretation und nicht ihre. Sicher bin ich mir aber, dass auch sie irgendwann zuschlägt; sie hat das so erzählt, sie beobachtet die Szene zunächst nur, voller Angst, voller Ekel. Aber mit jedem Gast, der mit einem klirrenden Geräusch zerbirst, wächst auch die Wut in ihr; es ist eine unbestimmte Wut, ich kann sie mir genau ausmalen. Es ist die Wut von jemandem, der etwas sehr Wertvolles verloren hat. Die Wut einer Betrogenen. Und so packt sie irgendwann eine der großen Kaffeetassen und zerschlägt die Frau hinter der Kasse.
Für sie endete der Traum an dieser Stelle; entweder das, oder sie hat mir vom Ende einfach nicht erzählt. Dann bin ich aufgewacht, hat sie gesagt, ich war schweißgebadet und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
An diesem Dienstag hat sie noch eine Weile darüber geredet; sie wollte von mir wissen, was ich davon hielt, aber ich konnte nicht viel sagen, das Bild hatte sich schon in meinem Kopf gebildet, während sie davon erzählt hatte, und so war ich mit mir selbst beschäftigt. Meine Erinnerung an das Gespräch verwischt sich an dieser Stelle; es war mir einfach nicht mehr wichtig, was sie sagte. Ich weiß noch, dass ich mehrmals nach dem Ende fragte , aber sie erzählte mir nichts mehr. In meinem Bild endet der Traum nicht mit der Zerschlagung des Kassierergefäßes, deshalb fragte ich nach; aber vielleicht hat sie wirklich nicht mehr gesehen.
In meiner Vorstellung ist es nicht die Kassiererin, die als letztes zerschlagen und somit entlarvt wird, nein. Sie steht vor diesem geborstenen Gefäß, hält die zerschmetterte Kaffeetasse noch in der Hand, und blickt zu dem Ungesicht – und damit zu mir – herüber. Von den Gästen ist keiner ganz geblieben, alle sind geborsten, alle waren nur Hüllen, nur Oberflächen. Nur ich stehe noch im leeren Raum zwischen den zerbrochenen Gefäßen. Ich gehe einige Schritte auf sie zu, in der Hand eine alte Teekanne.

Heuchlerin

nenne ich sie dann zweimal, bevor ich auch diesen Tonkrug zerschlage, diese Lüge enttarne. Das ist nicht das letzte Bild der Szene, eins muss noch kommen, das verstehe ich inzwischen, denke ich. Auch ich muss entlarvt werden, und so kommt es auch; die Kanne zerschlägt mein Ungesicht, und auch darunter ist nur hohle, leere Dunkelheit, die Schwärze eines geplatzten Betrugs.

Ich denke manchmal, es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich diesen Traum wirklich gehabt hätte; dann wäre ich aufgewacht, und alles wäre gut gewesen. Aber ich hatte ihn nicht; ich kann nicht erwachen, ich bin schon wach. Oder ich bin an diesem Dienstag im Jahre 1987 auf eine Weise aufgeweckt worden, die man nicht zurücknehmen kann, die nicht korrigierbar ist. Für sie ist es ein Traum geblieben, etwas, was man am ehesten als ein Spiel ohne Einsatz verstehen kann. Für mich ist es zur Wirklichkeit geworden, und die gibt es nicht ohne Einsatz.

Es ist nicht so, dass mein Leben an diesem Tag geendet hätte; das habe ich schon gesagt. Aber trotzdem hat sich vieles verändert. Vielleicht liegt es nicht nur an diesem Erlebnis, vielleicht ist es auch eine Form von Selbstbetrug, es nur auf ihre Erzählung zu schieben, aber ich lebe seit diesem Tag allein. Ich mache meine Arbeit, das habe ich auch vorher schon getan. Doch ich bin in den Wachdienst gewechselt: ich bewache nachts Industriegebäude. Mir ist klar, warum ich das tue und nichts anderes; ich ertrage keine Menschen mehr um mich. Sicher bin ich einsam, da mache ich mir nichts vor. Aber es ist eine andere, eine irreversible Art von Einsamkeit. Menschen, die einsam sind, wünschen sich einen anderen Menschen, der in ihrer Nähe ist. Das wünsche ich mir nicht. Ich fühle mich einsam, aber ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist.
Mein Leben ist ja auch nicht schlecht, das kann ich nicht behaupten. Manchmal esse ich abends ein Steak, oder schaue fern: Das bringt mir ein wenig Zerstreuung, auch wenn ich Filme, in denen Menschen spielen, nur schwer ertrage; mir sind Tierdokumentationen lieber.

Es ist immer das gleiche, wenn ich doch einen Spielfilm einschalte oder mit dem Bus zur Arbeit fahren muss; alles ist normal, ich sehe die Menschen um mich herum, ich höre ihre Gespräche. Doch dann drehe ich den Kopf, vielleicht sehe ich aus dem Fenster oder nach den Fischen in meinem Aquarium. Und dann ist es wieder da, das Geräusch der klirrenden Tonkrüge, und aus den Augenwinkeln sehe ich ihre hohlen, leeren Gesichter; diese Fälschung, die sie Mensch nennen. Etwas Ähnliches passiert manchmal, wenn ich zu lange in den Spiegel sehe; es wäre auch eine unerträgliche Ungerechtigkeit, wenn es nicht so wäre. Deshalb endet der Traum auch so und nicht anders, es musste so sein. Ich bin nicht anders als sie; Ich bin nur eine Oberfläche, ein Außen, mehr nicht. Darüber muss man sich keine Gedanken machen: Ich habe es getan, und manchmal bereue ich es.

Blacksuit

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2008

Er hatte die im alten Design gehaltene Kreditkarte schon zweimal in den Kartenleser des Kassenautomaten geschoben, doch der Fehler in dieser Szene fiel ihm erst auf, als die ebenfalls absichtlich altmodische gehaltene Maschine auch beim dritten Versuch jede Zahlung verweigerte. Es war weder nötig noch sinnvoll, die alten Maschinendesigns und die längst nutzlosen Plastikkarten zu verwenden, die Zahlautomaten waren davon schon lange nicht mehr abhängig, aber aus Gründen der Ästhetik hatte man sie beibehalten; dennoch stand im Display des Automaten natürlich nichts von einer abgelaufenen oder überzogenen Kreditkarte, sondern nur
IDENT-PIN ungültig.
Und so blieben auch die Türen des Supermarktes verschlossen, solange er den Korb mit den Einkäufen im Arm hatte. Manchmal hatten Geräte dieser Bauart Fehlfunktionen, so dass man ein zweites Mal den Schlüssel übertragen musste. Doch noch nie hatte er es erlebt, das das System dreimal versagte. Er erwartete daher, dass es eine Art von Rückmeldung an die Zentrale oder einen Wachdienst geben würde und blieb verwirrt im Ausgangsbereich stehen. Sein Blick wanderte unschlüssig über die Maschine, den Boden und fand schließlich in den elektronischen Spiegel an der Wand hinter der Kasse. Einen Moment dauerte es noch, bis er das Ungeheuerliche in der digitalen Reflexion erkannte, doch dann fiel ihm der Fehler auf und er erschrak.
Das im Spiegel – das war nicht er selbst. Er korrigierte sich; natürlich war er es selbst. Seine echte Identität war verborgen unter der Blacksuit, die sein Aussehen, seine Stimme und seine Kleidung von Kopf bis Fuß frei konfigurierbar machte, aber das dort im Spiegel – das war auch keine seiner künstlichen Identitäten. Wie die meisten Menschen hatte er etwa ein halbes Dutzend davon, verschiedene für die jeweiligen Anlässe; dazu selbstverständlich auch zehn bis zwanzig verschiedene Kleidungssets, schließlich wollte er ja nicht immer die gleiche virtuelle Kleidung tragen. Was er jedoch dort im Spiegel sah, das war keine seiner digitalen Identitäten. Täuschte er sich? Er ging einen Schritt auf den Spiegel zu und sah genau hin. Nein, dieses Gesicht hatte er sich sicher nicht ausgesucht. Er hatte den JohnD_12AX-Skin übergeworfen, als er sich auf den Weg gemacht hatte; den mit dem schwarzen Sakko, oder mit dem weißen, das wusste er nicht mehr genau. Auf jeden Fall hatte er sicher nicht diesen Skin gewählt; er hatte jetzt das Gesicht eines Matrosen oder Kriminellen, mit tiefen, harten Konturen und einigen kaum verborgenen Narben. Die Kleidung war abgewetzt und größtenteils aus Lederimitat; solche Skins wurden allenfalls zum Spaß getragen, aber sicher nicht beim Einkaufen. Vielleicht war beim Einschalten des Skins etwas schief gelaufen. Er überprüfte die Anzeigen, die der Anzug in sein Auge projizierte; es gab keine Fehlermeldungen. Mit einigen durch die Jacke verborgenen Bewegungen seiner Finger startete er das Diagnosemodul.
Ungültige IDENT-PIN. Diagnose abgebrochen
flüsterte eine leise Stimme aus der Blacksuit.
Er wechselte zur Skinauswahl, und zu seinem Erstaunen fand er in der Liste keinen Oberflächenskin, der ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. DESC_4r hieß der, den er gerade auftrug. Er wählte einen der anderen aus und bestätigte die Umstellung, um das System zu testen.
Ungültige IDENT-PIN. Skinwechsel abgebrochen.
Wieder die leise Frauenstimme, der alte Kassenautomat grinste ihn mißmutig an.
Er hatte den falschen Anzug an, das war die Erklärung, anders konnte es nicht sein. Aber wie konnte das sein? Er suchte nach dem Statusbericht des Anzugs, dort war der echte Besitzer für gewöhnlich eingetragen. Eigentlich sollte man den Vollanzug nicht einmal schließen können, wenn man nicht der Besitzer war, aber auch solche Fehler konnten sicher geschehen, auch wenn er davon noch nie gehört hatte.
Eigentümer: n/a – Bitte natürliche Identität angeben.
Ein leerer Anzug, vielleicht war einfach der Speicher gelöscht worden.
Er wählte die Zeile, gab seine IDENT-Nummer ein und bestätigte. Ein Symbol am oberen Rand zeigte an, dass die Eingabe gepüft wurde.
Identität nicht gefunden. Bitte achten Sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Er überprüfte seine Eingabe zweimal; es konnte nicht sein, es musste die richtige Nummer sein; A12Doring. Er gab sie erneut ein und bestätigte.
Identität nicht gefunden. Bitte wenden Sie sich an den zuständigen Systemadministrator.
Er begann sich vor dem Anzug zu gruseln. Er sah sich um; er war der einzige Kunde. Dann griff er nach der Verriegelung des Kopfendes. Wenn der Anzug eingeschaltet war, konnte man sie nur fühlen und nicht sehen. Eine Weile tastete er über die künstlichen Haaren, die künstliche Stirn, die künstlichen Ohren.
Er fand ihn nicht, er war nicht da; hektisch zog er am Haaransatz, wo die unsichtbare Kapuze des Anzugs mit dem Rest der Suit verbunden war, riß daran, bis die ganz Stirn schmerzte . Es half nichts.
Ausstieg verweigert, ungültige IDENT-PIN. Bitte geben Sie ihre natürliche Identität an.
Die Angst in ihm wuchs. Warum ließ es ihn nicht hinaus? War war mit seiner Identität geschehen? Er gab sie noch einmal ein, diesmal geschah etwas.
Ihre Identität ist nicht existent. Es wird eine Verbindung zur Hotline hergestellt.
Er sah, wie der Anzug den Code wählte.
>>Blacksuit Support, Guten Tag, bitte schildern sie das Problem.<< sagte eine blecherne Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, er war sich nicht ganz sicher, ob er mit einer Frau oder einem Computer sprach. Er erklärte seine Lage, das Wesen am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken (oder zu rechnen).
>>Es tut mir leid, aber ich kann sie tatsächlich nicht in der Datenbank finden…<<, sie stockte, >>da scheint es doch einige… Anomalien in ihrem System zu geben. Von hier aus kann ich das Problem nicht lösen, sie sollten auf dem schnellsten Weg die nächste Filiale aufsuchen.<<
Er sah, wie der Routenplaner aufgerufen wurde, sie hatte die Adresse schon eingegeben.
>>Ich hoffe, Blacksuit Kreditkarten konnte ihnen helfen und bedanke mich für das Gespräch, Herr Doring.<<
Er stutzte.
>>Wie haben sie mich gerade genannt?<<
>>Doe. Oh, das ist die Firmenpolitik; solange ihre natürliche Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, werden sie von uns unter dem Namen John Doe geführt. Fassen sie das bitte nicht als Herabwürdigung auf.<<
Sie trennte die Verbindung. Der blinkende Pfeil vor seinen Augen wies den Weg zur nächsten Filiale. Alles würde in Ordnung kommen, wenn er dort war; er beruhigte sich wieder etwas. Er stellte den Einkaufskorb ab, die Tür öffnete sich. Auf der Straße angekommen folgte er den Pfeilen.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, aber diejenigen, die er sah, wechselten die Straßenseite, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er erkannte einen Nachbarn, oder zumindest glaubte er, dass sich unter der Oberfläche einer seiner Nachbarn verbarg. Der Zweifel begann an ihm zu nagen; was, wenn sie seine Daten wirklich verloren hatten? Wenn sie ihm nicht glauben würden? Das war so gut wie unmöglich, das wusste er. Wenn sie den Anzug entfernen würden, könnten sie sicher feststellen, wer er war. Aber dennoch; er hatte Angst. Was, wenn nicht? Wenn er unter dieser grässlichen Oberfläche gefangen bleiben würde? Seine Knie fühlten sich seltsam weich an.
Plötzlich wollte er nicht mehr allein dorthin gehen; seine Wohnung lag beinahe auf dem Weg, und so beschloss er, den Umweg in Kauf zu nehmen. Im Routingmodul fand er den Weg dorthin nicht – natürlich nicht, der Speicher war ja gelöscht worden. Also musste er sich mit einiger Mühe selbst orientieren.
Nach einer Weile bog er entgegen der Pfeilrichtung in eine Querstraße ab, die ihm bekannt vorkam; Alle drei Sekunden wies ihn die Stimme des Anzugs darauf hin, dass er umdrehen solle, er konnte es nicht abstellen.
Zu seiner Überraschung fand er das Haus sofort. Im Flur stank es nach Urin, das war ihm auf dem Weg nach draußen nicht aufgefallen. Vermutlich war auch das eine Fehlfunktion des Anzugs. Seine Hände zitterten leicht, als er auf den Summer drückte; das Schloss ließ ihn auch hier nicht passieren. Für einen Moment hörte er kein Geräusch aus der Wohnung, und er dachte darüber nach, ob er vielleicht an der falschen Tür geklingelt hatte. Dann jedoch hörte er Schritte. Die Tür öffnete sich, und seine Frau stand dahinter, in dem Skin, den sie zu Hause immer trug. Er war ihrer natürlichen Identität nicht unähnlich, nur waren die Konturen ihres künstlichen Gesichts etwas weicher, und ihre Augen hatten eine andere Farbe.
Er lächelte, bis er bemerkte, dass es nicht sein Lächeln war, sondern ein fremdes. Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich weiß, ich sehe seltsam aus, aber es gibt da einige Probleme mit dem Anzug. Ich muss zur Reparatur in die nächste Filiale, aber ich möchte nicht allein gehen…“. Seine Frau legte den Kopf schief.
„Wer sind sie denn?“ fragte sie, er hörte die Angst dahinter auch durch die künstliche Stimme hindurch, und ihm wurde etwas schwindelig.
„Ich bin es, dein Mann.“
„Wer? Ich habe keinen Mann.“ antwortete und zog die Tür ein wenig weiter zu.
„Liebling, ich bin es. Erkennst du mich nicht?“
„Ich hatte nie einen Mann“ sagte sie tonlos und mehr zu sich selbst, dann schlug sie die Tür zu.

„Ich hatte nie einen Mann“, sagte sie tonlos und er sah sich wieder im digitalen Spiegel des Supermarktes. Sein Kopf war ein Bildschirm und der Körper darunter steckte immer noch in dem grässlichen, falschen Skin. Der Kassenautomat hatte nun Augen und bediente sich selbst mit dünnen, metallischen Ärmchen, die aus der Verkleidung ragten.
A12Doring tippten sie auf der veralteten Tastatur, er sah die Zeichen in der Spiegelung des Bildschirms auf seinen Schultern. Die Zahlen verschwanden wieder, Identität nicht existent, bitten achten sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Seine Frau stand vor der verriegelten Ausgangstür und lächelte ihn und den Automaten seltsam an, ihr Mund öffnete sich,

Er erwachte auf der Türschwelle und sah die Köpfe zweier Männer mit identischen Gesichtern über sich, identische Skins bis auf die Kleidung. Der mit dem schwarzen Sakko sah ihn durchdringend an,
„Wir sind von der Wache.“ sagten die beiden fast zeitgleich mit ähnlichen Stimmen.
Der im schwarzen Sakko beugte sich zu ihm herunter;
„Wir nehmen sie fest aufgrund des Verdachts der Nicht-Identität“, er überlegte einen Moment, „sie sind nicht sie selbst.“, fügte er erklärend hinzu, im Hintergrund hörte er seine Frau leise mit dem anderen Agenten sprechen.

Sie lächelte fast hämisch, ihr Mund öffnete sich.
„Ich weiß ein Geheimnis…“ sagte sie, dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.
Der Kassenautomat gab weiter stakkatohaft Zeichen ein, immer wieder. Auf dem Monitor, der einmal sein Kopf gewesen war, blinkte im selben Rhythmus
Doring nicht existent.
Für einen Moment erkannte er in den verzweifelten, aufgeklebten Augen der Maschine seinen eigenen blauen Augen, aber dann wurden sie grün, braun, rot, schließlich farblos.
Die Schultern der Frau wurden breiter, ihre Brust schmaler, ihr gelbes Kleid wurde kürzer und immer heller, alles zugleich, und nach einem Augenblick hatte sie den Skin der Agenten übergeworfen.
„Ich weiß ein Geheimnis“, flüsterte sie, „es gibt keine Blacksuit.“

„Seine Persönlichkeit destabilisiert sich, wir müssen die Suit jetzt entfernen.“ Er blickte an die Decke, dort war der Name Blacksuit Corp. eingraviert, in einem sich wiederholenden Muster. OP-Licht blendete ihn. Ein Mann stand neben ihm und hielt ein Skalpell in den Händen. Er sah auch die beiden Agenten mit den gleichen Gesichtern, der eine im schwarzen Sakko, der andere im weißen, der eine blickte ihn ernst an, der andere lächelte.
„Wir nehmen sie fest wegen des Verdachts der Nichtidentität. Sie sind nicht sie selbst.“ sagte der eine. Seine Arme und Beine waren an den medizinischen Stuhl gefesselt, auf dem er lag, er sträubte sich gegen die Ketten, als der Arzt noch einen Schritt auf ihn zu ging.

Sie lächelte ihn und den verzweifelnden Automaten hämisch an, „Es gibt keine Blacksuit.“

sagte der Agent im weißen Sakko, sein Kollege schien ihn nicht zu hören.
„Wir müssen jetzt anfangen.“, der Arzt setzte das Messer auf seine Brust, er tobte und schüttelte sich, riss mit aller Kraft an den Fesseln.
„Sie sind nicht sie selbst.“ sagte das schwarze Sakko,
der andere Agent lächelte still,
„Es gibt keine Blacksuit.“ flüsterte er noch einmal.
„Sein Anzug destabilisiert sich, wir müssen die Persönlichkeit jetzt herausschneiden.“ kreischte der Arzt, er hörte seine eigene fremde Stimme schreien, aber seine Schreie klangen wie das Wählgeräusch eines alten Modems,
„Sie sind schuldig des Vergehens der Nicht-Identität“, der Agent überlegte oder rechnete einen Moment,
„Sie sind nicht sie selbst.“
Es gibt keine Blacksuit.
Er brüllte vor Schmerz –

Sie sind nicht sie selbst.
Es gibt keine Blacksuit.

Es g7bt keiAe Black4uit.
Sie siBd nicFt sie sel5st.

A7 A767 F19AE 136A4F5F
1BC 4BDC 163F5 354 AD56B

1010001100 0111001110 1110001110 1001010111 1100101010 10101011111 101101000 000000111
1100101010 10101011111 101101000 000000111 1010001100 0111001110 1110001110 1001010111

Runlevel 0. System halted.

Erwache, Nichts.

Der Weg nach oben

Diesen Artikel drucken 11. August 2007

Der Regen peitscht in dein Gesicht, tiefer noch, du fühlst, wie er durch dich hindurch geht, wie Nadeln durchstoßen die Tropfen Haut und Fleisch, prallen an den weiß hervortretenden Knochen ab, schleifen sie langsam, aber mit der Stetigkeit der Zeit herunter, ganz so wie sie es schon Bergen angetan haben, Kontinenten, Welten.
Ab und zu siehst du auf deine Hände, versuchst sie zu erkennen in den Wogen aus gläsernen Splittern, die von der Welt geblieben zu sein scheinen, versuchst das Weiß auszumachen, es gelingt dir nicht. Irrst du dich, irrst du in allem, du musst es wissen. Für einen Augenblick nur berühren sich deine Fingerspitzen und fühlen das Reiben der blanken Knochen, das Knirschen mißhandelter Gebeine, es ist also wahr.
Und dennoch, es gibt nur diesen Weg, nicht wahr, nur diesen einen Pfad, und so gehst du voran, beschleunigst deinen Schritt sogar etwas, du musst hinauf. Die Nadeln werden zu Nägeln, dann zu fast metallischen Splittern, verirrten Splittern einer herrenlose Granate vielleicht, in einem explosionslosen Rausch aus wütendem Glas. Du wirst wieder langsamer, so schnell geht es nicht, so schnell geht es nicht voran, es ist nicht möglich, aber zu langsam darfst du auch nicht werden. Das wäre das Ende, du festigt dein ursprüngliches Tempo, nein, das wäre das Ende, an dieser Stelle wie an jeder anderen waren unzählige schon zum Stehen gekommen, und dann hatten sie sich einfach niedergelegt und waren gestorben. Sie ruhten für ein Weile, einen kurzen Augenblick nur, und dann war es um sie geschehen, zu spät, zu spät. Niemand hat dir das gesagt, in keinem Buch hast du es gelesen, aber du erkennst es dennoch, es steht im Regen geschrieben, in jedem einzelnen Moment.
Ihre Überreste kannst du nicht erkennen, aber du weißt, sie waren, sie sind hier. Sie feuern dich an, weiterzugehen, Schritt um Schritt, nur nicht ruhen, immer weiter, auf die Spitze des Berges, mitten durch das Tal. Voran, voran, es gibt keine Rettung außer der in deinen Schritten. Aber nicht nur diese Stimmen hörst du, auch ist da die Stimme des Anderen, dessen Reich du betreten hast. Seinen mißgestalteten Körper durchschreitest du hier, es war dir klar, als du diesen Platz betratest, er gehört ganz und gar ihm, und mit allem Hass in seinen stählernen Eingeweiden versucht er nun, dich zurückzuwerfen, dich zu stoppen, deiner habhaft zu werden. Diese Stimme übertönt selbst das Rauschen des Wassers, auch die Stimmen der Toten am Wegesrand, wechselhaft ist sie, nur die spurhafte Boshaftigkeit bleibt ihr immer. Wenn sie spricht, verlässt auch dich der Mut manchmal für einen Moment, einige Male hättest du ihr fast nachgegeben. Einmal zitierte er die Bibel, einen bekannte Stelle über das Wandern in finsteren Tälern, fast zu spät erkanntest du die Korruptheit darin, die Kälte einer Rasierklinge, als die der Andere sich gerne sah. So hat er dich schon begrüßt, Eine Klinge bin ich wohl, hatte es durch die Ebene gedonnert, geschmiedet im Feuer der Angst, ein gröhlendes Lachen, dann hatte der Regen begonnen.
Nein, hier gab es keinen Herrn außer dem Anderen, keinen Stecken und keinen Stab, keinen Trost. Nur den düsteren Pfad, steil den Berg hinauf, den du mehr fühlst als siehst, vielleicht ist da nicht einmal ein Weg, deine Augen sehen kaum noch bis zum Boden hinab. Mehr Sicht lässt er dir nicht, nicht mehr als das millionenfach im Regen gebrochene Licht einer fahlen, fernen Sonne, die du hoch am Horizont erahnst. Manchmal stolperst du, schlägst fast auf den schlammigen Untergrund, kannst dich gerade noch fangen, ruderst einen Herzschlag lang hilflos mit den Armen. Dann lacht er, lacht lauthals, während du mit dem Gleichgewicht kämpfst und mühsam einen Fuß vor den anderen setzt, um ja nicht stehen zu bleiben. Aber es gelingt dir, wieder und wieder, und Wut strömt dann durch seine Stimme, spitzt die flüssigen Dolche noch ein wenig, Du bist mein, mein, mein.
Du schluckst den Schrecken herunter, verschließt dich seinem Brüllen oder versuchst es zumindest, Schritt um Schritt, die Bergspitze rückt näher, sie muss. Dort, über den Wolken, muss die Sonne nah sein und der Himmel klar, du bist dir sicher, und für einen Moment findest du im Geiste dorthin, atmest tief ein, fühlst die Wärme. Dann spürst du wieder das Peitschen des Regens, den Wind im Gesicht, die toten Stimmen im Boden und die schreiende über dir. Schritt um Schritt, es gibt nur diesen Weg. Du musst hinauf.

Was bleibt

Diesen Artikel drucken 10. August 2007

Er sah ganz nach unten auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Da war eine horizontale Linie, wie man sie oft in Büchern sah, darunter stand eine kleine Zahl; überhaupt war die ganze Schrift kleiner als die des Textes darüber. Dann waren da zwei Worte geschrieben, ein Name, sein Name. Daneben waren noch zwei kurze Sätze, eben so klein gedruckt wie die Zahl, die einige wichtige Fakten aufzählten; das war sein Leben, oder zumindest eine grobe Zusammenfassung davon. Immerhin war es eine betragsmäßig kleine Zahl, das tröstete ihn für einen Moment, eine kleine, die nur zwei Stellen hatte; aber er hatte schon weiter hinten im Buch nachgesehen, die größte war knapp dreistellig, und das war nicht wirklich beruhigend. Er las die beiden Sätze gar nicht; sie interessierten ihn nicht mehr. Er starrte nur eine Weile auf seinen Namen, ohne etwas bestimmtes zu denken. Dann suchte er wieder die Stelle, an der eine kleine, tiefgestellte Zahl auf diese, seine Fußnote verwies, und las die Zeilen darüber und darunter. Es waren keine besonderen Sätze; sie waren nicht fett gedruckt oder irgendwie auffällig, auch der Stil war nicht einmal passabel. Es war einfach ein Bericht oder etwas ähnliches, nicht unbedingt nüchtern, aber auch nicht von herausstechender Erzählweise. An irgendeiner Stelle war da also dieser Satz, dass die Protagonistin jemanden kennengelernt hatte; einen Moment lang war er sich nicht mehr sicher, wie sie hieß, und dachte an allerlei andere Menschen, aber dann fiel ihm der Name wieder ein. Nun, dort stand in simplen Worten, dass sie jemanden kennenlernte; das war er selbst. Über seinem Namen stand diese kleine Zahl, die auf die Fußnote verwies. Wenn er ein Buch las, übersprang er solche Verweise meist, wenn das nicht das Textverständnis störte; die meisten Menschen machten das wohl so.
Seine Fußnote brachte in der Tat kein wichtiges Element hinzu, dass für den Textfluß von essentieller Bedeutung gewesen wäre. Es war die Anmerkung eines aufmerksamen Verfassers, der seinem Leser jede erdenkliche Zusatzinformation liefern wollte, auch wenn er den Bericht einer Notwendigkeit folgend auf das Nötigste beschränken musste. Er fühlte sich zumindest ein wenig bestätigt, als er die Zeilen unter dem Verweis gelesen hatte; er tauchte weiterhin auf, in den acht folgenden Sätzen zumindest. Neun Sätze also, neun Sätze waren geblieben von ihm; er zählte noch einmal, ihm wurde schlecht. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es ziemlich genau, wagte aber nicht, es auszusprechen. Es war ihm zu wenig, das gestand er sich ein, während er immer wieder diese neun Sätze las. Das Buch legte einen gewissen Wert auf die Kohärenz der Sätze untereinander, und einem anderen Leser würde es sicher so erscheinen, als beschrieben diese neun Sätze alle wesentlichen Ereignisse in nahtlosem Übergang, aber für ihn klafften da kilometerbreite Lücken selbst zwischen den Worten. Er erinnerte sich an einen Abend auf einer Brücke, im Sommer: es war heiß gewesen, und die meisten anderen Menschen waren aus der Stadt geflohen, an den nahen Badesee. So waren sie fast allein gewesen auf dieser Brücke in der Nähe der großen Kirche. Sie waren geblieben bis nach Mitternacht; er erinnerte sich noch an die Geräusche des Wassers, an das leise Gespräch. An das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben.
Er suchte nach diesem Abend; er fand ihn nicht. Er suchte in den Konnotationen, in dem Flüstern zwischen den Sätzen; auch dort, nichts.
Eine Stunde verbrachte er damit, auch wenn er schon längst wusste, das er ihn nicht finden würde. Er war einfach nicht da; und schlimmer noch, er selbst wurde sich unsicher, ob seine Erinnerung ihn nicht betrog; das Buch hatte doch keinen Grund zu lügen, nicht wahr, es war nur ein Bericht. Nach einer Weile wurde er wieder ruhiger; der Abend an der Brücke war nicht da. Natürlich war das nicht der einzige Moment, der er vermisste; er begann es kurz zu überschlagen, ihm fehlten etwa acht Monate. Acht Monate, einfach weg. Es war aussichtslos, nach ihnen zu suchen; mehr war davon einfach nicht übrig. Von ihnen beiden nicht. Er sortierte die Sätze gedanklich; einer von ihnen beschrieb, wie sie sich kennengelernt hatten. Vier fassten singuläre Ereignisse oder gemeinsame Unternehmungen zusammen, fast unfassbar grob in seinen Augen, aber zumindest las er dort die beiden Worte ‚glücklich‘ und ‚zufrieden‘. Einer beschrieb ihr Liebesleben, einer so etwas wie eine allgemeine Entwicklung, zwei das Ende. Einige Minuten versuchte er, die vier beschriebenen Momente im Gedächtnis wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Erst als er kurz den Blick von der kalten Beschreibung abwandte, erinnerte er sich wieder, und als er danach wieder auf das Buch blickte, verzweifelte er innerlich. Es war doch ganz anders gewesen, oder? Der Zweifel wurde nur stärker, als er dann die beiden Trennungssätze las, und auch deshalb wurde er fast wütend: Es war so vereinfacht, auf so unfaire Weise vereinfacht. Er hätte gerne darüber gestritten, dargelegt, was fehlte, aber da war niemand. Nur dieses dumme Buch. Er schloss es und schob es von sich fort. Starrte eine Weile auf den Deckel, schmollend. Dann zog er es wieder zu sich heran, seufzte dabei leise. Es nützte ja nichts. Er betrachtete den Einband, den Namen der Protagonistin, dann blätterte er einige Minuten unschlüssig. Hätte er vor einem Jahr hineingesehen, vor zweien, dann wären da sicher mehr Sätze gewesen; vielleicht wäre die Fußnote sogar im Fließtext aufgetaucht. Aber das war vergangen.
Als er später wach da lag, fand er diesen Gedanken wieder: die ganze Sache war war nicht fair, ein schlechter, ein böser Scherz. Nicht nur, dass man immer nur ein Abschnitt des Leben eines anderen wurde, ein Kapitel oder auch nur ein Absatz. Nein, nicht nur das; auch schrieb jeder sein eigenes Buch beständig neu. Das lag nicht an den Menschen, sie taten es ohnehin kaum bewusst, vielmehr war der Platz in jenen Büchern begrenzt, so schien es zumindest. Kam etwas Neues hinzu, musste etwas Altes weichen; der Anstand gebot, nur Weniges ganz zu verwerfen, sondern eben zu kürzen, weiter zusammenzufassen. Nach und nach verschwanden die Details, dann die Momente, am Schluss die Menschen, die aber nur selten ganz. Meist blieb zumindest eine Art Karikatur übrig, etwas Fratzenhaftes wie diese seine Fußnote.
Man sagte, manche Erinnerungen blieben stärker als andere, und so schlug er das Inhaltsverzeichnis auf; tatsächlich, mehr als zwei Drittel des Buches schienen die Kindheit zu beschreiben. Gegen Ende wurden die Kapitel immer kürzer; beim Überfliegen fand er weiter hinten auch sehr viel mehr Fußnoten. Einige Namen erkannte er, andere waren ihm völlig fremd, und das ließ in ihm eine tiefe Beklemmung wachsen. Das war das schlimmste, dafür hätte er nicht herkommen müssen, er wusste es schon lange; das man ausgesperrt war aus dem Leben eines anderen, nicht mehr daran teilhaben konnte, das war schlimmer als alles andere. Er las die Fußnoten, die zu den Unbekannten gehörte und versuchte, sich dadurch ein Bild von ihnen zu machen. Für einen Moment gelang es, es gefiel ihm sogar – und schockierte ihn im nächsten Augenblick so sehr, dass er fast erwacht wäre. Wenn er das konnte, dann war es auch anderen möglich. Noch schlimmer, andere Leser würden seinen Namen lesen, seine Fußnote, sie würden sich ein Bild machen. Er dachte daran, was sie dann sagen würden: Ja, würden sie sagen, so ein Mensch war das also, deshalb konnte es nicht gutgehen, ja, man sieht es gleich, das ist eine stimmige Geschichte.
Zitternd blätterte er zurück zu der Seite, auf der er auftauchte und nach neun Sätzen wieder verschwand. Er nahm sich vor, die beiden Seiten davor und danach zu lesen: Er achtete darauf, keine der Zahlen unten auch nur aus den Augenwinkeln zu betrachten. Zunächst deprimierte ihn die Schilderung nur noch mehr, doch dann verglich er die beiden; es war in dem trockenen Sprachstil schwer zu erkennen, und er war sich nicht sicher (und würde sich nie sicher sein), ob es nicht mehr sein Wunsch war als etwas, das wirklich in dem Buch zu finden war. Natürlich fand er keine direkten Verweise auf seine Person; abgesehen von dieser einen Seite, den neun Sätzen darauf und der Fußnote existierte er in der Schilderung schlicht und einfach nicht. Doch wenn er den weiteren Verlauf ihres Lebens las, dann erkannte er eine Art Ablenkung, eine Veränderung, subtil und kaum zu erkennen, als ob die gekreuzten Wege ihren Pfad abgelenkt hatten. Vielleicht war es wirklich nur sein frommer Wunsch, aber die bloße Möglichkeit ließ ihn lächeln. Es war kein gelöstes Lächeln, es war zerknittert und hatte Risse, aber immerhin war es ein Lächeln. Noch einmal sah er auf seine Seite hinab, las die brutalen Sätze. Dann schloss er das Buch, hielt es für einige Minuten in den Händen und dachte noch einmal an all die Dinge, die wenigstens in seiner Erinnerung noch existierten. Dann stand er auf und stellte das Buch in ein Regal, das Sekunden vorher sicher noch nicht da gewesen war. Das machte nichts; er wusste inzwischen, dass er träumte.
In dem Regal waren noch andere Bücher, auch das verwunderte ihn nicht mehr. Ein Einband fiel ihm sofort ins Auge; sein Name stand darauf. Er hatte die gleiche Farbe und war, bis auf den Namen, fast nicht von dem anderen zu unterscheiden.
Als er Sekunden später erwachte, schämte er sich. Noch halb im Schlaf versuchte er, die Menschen auszumachen, die für ihn zu Fußnoten geworden waren. Es dauerte eine Weile, aber dann fielen ihm ein paar Namen ein; ja, es war wirklich beschämend. Neben den Namen fielen ihm nur kurze Beschreibungen ein – zwei oder drei Zeilen. Wie gemacht für Fußnoten.

Gesicht.

Diesen Artikel drucken 5. Juni 2007

Der Blick findet zögernd in den Spiegel, als hätte er diesen Weg lange nicht mehr genommen, aber dann verweilt er doch dort, einen ruhigen, langen Moment lang, und mustert, was er findet. Es sind dunkle Augen, die sich da selbst betrachten, ganz nüchtern und klar. Die Pupillen werden größer, versuchen jeden Lichtstrahl einzufangen, den die blanke Fläche zurückwirft, kriechen bedächtig von Merkmal zu Merkmal. Eine Nase ist da, mitten im Gesicht, etwas verbrannt von der Sonne. Sie wirft einen leisen Schatten auf eine Wange, dreht sich, der Schatten wechselt die Seite, nein, nichts verbirgt sich darin, nur Fleisch.
Auch ein Mund mit Zähnen. Lippen, kaum gespitzt und nur wenig rissig an den Rändern. Einen Augenblick lang üben sie scheinbar unbewusst Szenen, einen Kuss, den verbitterten Ausdruck des Abgeschlagen-Seins, noch eine Fratze der Boshaftigkeit und ein langsam auftauendes Lachen, das die kontrastierenden Augenbrauen mit einbezieht. Dann scheinen sie des Spieles müde zu sein, werden wieder nominell, normal, leer. Die Augen nehmen nur diesen Eindruck auf, streifen noch über die unwirschen Haare, suchen das Gesamtbild, finden es und verlieren es wieder.
Das Gesicht wirft noch keine Falten, oder etwa doch, es ist undeutlich, aber da sind schon Krater, wenn auch nicht die des Alters. Sie sind klein und scharfkantig, und nur im richtigen Licht kann man sie erkennen, nur im richtigen Licht und auch das nur manchmal; wenn man sie sieht, dann hinterlassen sie den Eindruck der Leere zwischen Industriehallen, ganz kalt und von einer schalen Dämmerung ausgeleuchtet. Manchmal scheinen sie wie eine Sinnestäuschung, als wäre da etwas Fremdes auf dem Spiegel. Die Hand findet zur Glasoberfläche, klopft dagegen, Staub löst sich, das Bild wird klarer.
Doch nein, die Krater bleiben. Nichts mehr zu retten. Aber wer könnte das schon von sich behaupten?
Ein Lächeln übermannt den Spiegel.

Die andere Welt/Depression

Diesen Artikel drucken 14. März 2007

Manchmal, da kann man sie fast sehen, fast berühren, diese andere Welt, doch meist bleibt sie schemenhaft. Aus den Augenwinkeln nur nehmen wir sie dann wahr. Und doch bleibt Sie ein Sinnes-Spiltter, die flüchtige Wahrnehmung eines überreizten Nervensystems, sagen wir uns gerne, obwohl wir es besser wissen, besser wissen müssten.

Natürlich haben wir sie schon lange beobachtet, immer schon, manchmal verstohlen zu ihr hinüber gesehen, und vermutlich hat sie das selbe getan.

Dort war Musik nur das dumpfe Rauschen von anonymen Maschinen, immer gerade so diffus, dass es – nur fast – eine Bedeutung verbergen konnte; jahrelang konnte man diesem Rauschen zuhören, seine Botschaften blieben immer Täuschung, die Zufälligkeit von Statik, die doch immer entschlüsselt werden wollte und dennoch nur rastloses Plappern blieb. Der Raum hatte etwas Endgültiges, Hoffnungsloses dort, nirgendwo die Unendlichkeit eines Ozeans oder Sternenhimmels, nur noch die stählerne Sarkophaghaftigkeit der Bühne eines absurden Theaterstücks. Licht war ein grelles Lachen, das keinen Schatten mehr ließ, ohne irgendeine Farbe zum Erstrahlen zu bringen, ein gebliches Lächeln voller unsteter Risse zwischen den faulen Zähnen. Menschen waren dort nur verzerrte Fratzen und Hass, und nichts entstellte dort drüben mehr als ein Lachen, sei es noch so rein und glockenhell. In dieser Gegenwelt gab es keine Menschen mehr, die zu Räubern, Mördern und Schlimmerem geworden waren; nur noch Mörder, die manchmal zu Menschen wurden. Was hier gut war, das schien dort mehr ein Scherz, eine zynische Wendung. Ideen und Gefühle alterten dort schneller als alles andere, sie bekamen Risse und erschienen oft nur noch wie alte, kitschige Filme auf verdorbenem Zelluloid, die niemand mehr ernstnehmen konnte. Jede schöne Illusion unserer Welt wurde dort zur Desillusion, zum in sich verdrillten Konter eines bösartigen Schlägers, der uns in den Untiefen unserer Psyche auflauerte, und keine Worte begleiteten noch seine Schläge, nur das dumpfe Hallen seltsam euphorischer Ausweglosigkeit.

Nehmen wir sie wahr, so nimmt sie auch uns wahr, ihre Passivität ist ein falsches Spiel, genau wie unser Erschrecken ein Spiel ist. Wir gehören zu ihr, wie sie zu uns gehört.
Sie ist da, diese Gegenwelt, vielleicht versteckt in den Falten der Zeit, vielleicht auch nur in uns, aber sie existiert, sie ist da – und wartet.
Sie ist überall und zugleich im Nirgendwo verschwunden. Sie ist nur ein zusammengepresster kleiner Punkt in unseren Hirnen und gleichzeitig in allem, was uns umgibt. Und unser ganzes Leben lang suchen und ersehnen wir das Wort – die Gleichung – die Formel, die all das Chaos in uns endlich entfesseln kann. Damit wir wissen, dass wir uns nicht täuschen, keiner Halluzination unterliegen, nur um -ganz- in dieser anderen Welt zu erwachen und sie wenigstens einmal wach und konzentriert durchdringen zu können, nur damit wir einmal diesen Teil von uns wirklich begreifen können. Im Anfang war das Wort – heißt es. Und so sollte es auch am Ende stehen, nicht wahr?