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Hätte sie mir von dem Traum nicht erzählt, mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Ich bin mir sogar sicher, dass alles anders geworden wäre, wenn wir an jenem Abend nicht zusammengesessen hätten. Aber natürlich bleibt das Spekulation; ich kann es nicht wissen, und vermutlich ist das auch besser so.

Es war an einem Dienstag im Jahr 1987, das weiß ich noch genau. Ich weiß auch noch, was für Musik gespielt wurde, die Erinnerung an die Szene ist ganz klar erhalten geblieben. Im Hintergrund lief ein müder Countrysong. Ich weiß nicht, ob das passend war oder nicht; vielleicht schon. In meinem Kopf kann ich immer noch die kühle Stimme des Sängers hören, wenn ich daran zurückdenke, also glaube ich, dass es irgendwie schon passend war: Sonst hätte ich es mir wohl nicht so genau gemerkt. Manchmal denke ich, dass das die einzige Erinnerung ist, die wirklich mir gehört, mir. Als ob an diesem Abend irgendetwas in mir gestorben wäre. Das ist natürlich dumm; ich lebe, nichts an mir hat sich geändert, abgesehen von der Art, wie ich die Dinge sehe. Meine Perspektive hat sich gedreht, das mag sein.

Sie erzählte es beiläufig, und vielleicht ist das der Grund, warum ich die Musik in dem Café als so passend empfand, das denke ich manchmal. Aber auch das kann nicht stimmen; sie war aufgeregt, nicht aufgelöst, aber doch sehr aufgeregt, nur hatte ich kaum Interesse an dem Gespräch gezeigt. Ich schaute gerade einem hübschen Mädchen nach, das vor dem Fenster mit ihrem Hund spazieren ging, als sie von dem Traum zu erzählen begann: Ich drehte den Kopf wieder zu ihr. Den Ausdruck in ihren Augen werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen; vielleicht wird der Rest der Szene irgendwann verblassen, das könnte sein. Ich werde bald 45, und irgendwann wird der Verstand wohl träger werden, irgendwann werden sich meine Erinnerungen davonstehlen. Diesen Ausdruck aber, den werde ich sicher nicht vergessen, bis zum Ende nicht. Er stand nur für einen Bruchteil eines Moments in ihren Augen; ich habe mir das nicht eingebildet, glaube ich, er war da, einen unbeschreiblich grausamen Augenblick lang. Ich kann nicht beschreiben, was dieser Ausdruck genau war; man kann es nicht, niemand könnte es, befürchte ich. Es war so, als würde ich durch sie hindurchsehen, oder als würde ich durch sie in mich hineinsehen; beides, zugleich.
Ich hatte einen Traum, gestern, hatte sie gesagt, von dem muss ich dir erzählen. Er beschäftigt mich, und ich muss jemandem davon erzählen.

Es war ihr Traum, nicht meiner, und das lässt die Sache unwahrscheinlich erscheinen lassen, aber ich kann mir genau – ganz genau – vorstellen, wir ihr Traum aussah. Sie hat ihn nicht sehr detailliert beschrieben, aber trotzdem habe ich ein konkretes Bild vor Augen. In diesem Bild sitzt sie in dem Café. Es ist sehr voll, ich kann den Rauch riechen, ich kann das Stimmengewirr hören, den Kaffee schmecken. Und dann kommt jemand herein, den ich nicht erkennen kann; er trägt eine Sportjacke und eine Wintermütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Er will nicht erkannt werden, das hat sie damals zu mir gesagt; er will nicht erkannt werden, niemand soll sehen, wer er ist. Er ist der Tod.

Bis heute verstehe ich diesen Satz nicht; denn er ist nicht der Tod, nicht in dem Bild, das ich von der ganzen Szene habe. Ich frage mich oft, ob ich sie falsch verstanden habe; ob mein Bild einfach nur falsch ist. Aber Bilder können nicht so einfach falsch sein. Sie sind subjektive Eindrücke, und vielleicht ist der Grund dafür, dass ich diese Szene niemals vergesse, genau der: Ich habe ihren Traum gesehen, aber durch meine Augen. Für sie war der Traum nur eine interessante, eine beängstigende Episode. Wir haben nach diesem Tag nie wieder darüber gesprochen, einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Für sie war es keine Katastrophe, sondern nur eine kleine Anekdoten. Ich glaube, sie hat wirklich den Tod gesehen in ihrem Albtraum: nur eine Figur, ein Spieler auf dem Spielfeld, der zusammen mit demselben verschwindet, wenn man erwacht. Ich dagegen habe mich gesehen, mich, und ich bin keine der Spielfiguren. In meinem Bild komme ich herein durch die Tür, nicht der Tod, nur ich in der Verkleidung des Todes.

Aber egal, wer der Mann ist; wir sind uns einig darüber, was er tut. Er setzt sich an ihren Tisch. In meiner Vorstellung nimmt er den Platz, den ich hatte, als sie mir davon erzählte, direkt am Fenster. Er fragt nicht, ob er sich setzen darf, und in ihrer Erzählung war das der Punkt, an dem ich den Charakter eines Albtraums erkannte. Hier beginnt die Gewalt, dachte ich damals. Die Würfel sind jetzt gefallen; hätte er sie gefragt oder sich nur an einen anderen Tisch gesetzt, dann wäre alles offen gewesen, aber so ist klar, dass es ein schlechtes Ende nehmen muss.

Er sieht sie an: Man kann kein Gesicht erkennen, so hat sie es beschrieben. Da ist ein Gesicht, aber man kann es nicht erkennen. Als hätte man diese Krankheit, bei der man Gesichter nicht unterscheiden kann. In meinem Bild ist das ebenso; aber ich weiß eben, dass ich unter dieser Maskerade stecke, ich bin mir ganz sicher. Das Ungesicht grinst; es grinst hämisch. Und dann sagt er nur zwei Sätze; er sagt sie ganz ruhig, aber auch so, dass man weiß, wie lange er sie studiert hat.

Glaubst du, was du siehst? Was siehst du denn?

Er lässt die Sätze ein oder zwei Sekunden wirken, starrt sie an, sucht nach der Reaktion. Dann steht er von seinem Stuhl auf und hebt ihn fast spielend hoch, ohne jedoch darauf zu verzichten, seine Kraft zu demonstrieren. Es ist eine Geste der Überlegenheit, eine, die sie klein wirken lässt und auch wirken lassen will.
Dann hebt er ihn über den Kopf, dreht sich herum und lässt ihn auf einen der anderen Gäste herabsausen.

Es ist eine rohe Tat, aber keine, die diese Art von Unwohlsein erzeugt, von der sie mir damals erzählen wollte. Ich habe dieses Bild genau vor Augen, wie der Stuhl krachend zerreißt, aber es macht mir keine Angst. Er oder ich, wir wollen diesen Gast nicht töten oder verletzen, darum geht es nicht. Wir wollen etwas zeigen, das noch viel schlimmer ist.

Als der Stuhl mit diesem lauten Geräusch explodiert, verstummen die Gespräche plötzlich. Ich kann keinen Rauch mehr riechen; in meiner Vorstellung dampfen selbst die Kaffeetassen nicht mehr. Die Gäste verharren; sie frieren nicht ein wie in einem Film, sie bleiben nur sitzen und starren.
Einen Moment dauert es, bis das Geräusch des zerstörten Stuhls verklungen ist, dann ist es still. Der Mann tritt von seinem Werk zurück. Und was man dann sieht, das ist der getroffene Gast, doch da ist kein Blut. Als sie mir davon erzählte, erwartete ich ein sehr blutrünstiges Bild; doch da war kein Rot, nichts. Nur dieser Mensch oder besser: dieses Ding. Ich kann nur versuchen, es zu beschreiben –
Sein Kopf ist nicht verletzt worden; er fehlt einfach nur, zumindest der größte Teil. Er scheint schräg abgebrochen zu sein, wie von einer alten Statue. Die Ränder sind spröde; da ist keine glatte Bruchkante, dieses Ding ist nicht eingerissen und es hat auch nicht nachgegeben wie weiches Fleisch. Es ist gesprungen, gesprungen wie ein Tonkrug. In ihrem Traum steht sie auf, um es genauer zu erkennen, und erst dann begreift sie, was wirklich geschehen ist; dieses Wesen war tatsächlich aus Ton. Das Innere war schon immer hohl: die dünne Schicht aus gebranntem Ton hat es schon immer zusammengehalten. Es war nur eine Oberfläche, und er oder ich haben diese Oberfläche zerschmettert. Da war gar kein echtes Wesen, kein wirklicher Mensch, den wir hätten töten können, nur dieses beschädigte Tongefäß, diese Sammlung von Fälschungen.
Ich weiß nicht genau, was dann geschieht; ich weiß, dass der Mann ohne Gesicht ihr etwas Hämisches zuruft und dann all die anderen Gäste zerschlägt, zerschlägt wie das erste Gefäß auch, aber ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge es geschieht oder wie er es tut. Manche scheinen nur unter seinem Blick zu bersten; er muss sie nicht schlagen, um sie zu zerbrechen, aber das ist meine Interpretation und nicht ihre. Sicher bin ich mir aber, dass auch sie irgendwann zuschlägt; sie hat das so erzählt, sie beobachtet die Szene zunächst nur, voller Angst, voller Ekel. Aber mit jedem Gast, der mit einem klirrenden Geräusch zerbirst, wächst auch die Wut in ihr; es ist eine unbestimmte Wut, ich kann sie mir genau ausmalen. Es ist die Wut von jemandem, der etwas sehr Wertvolles verloren hat. Die Wut einer Betrogenen. Und so packt sie irgendwann eine der großen Kaffeetassen und zerschlägt die Frau hinter der Kasse.
Für sie endete der Traum an dieser Stelle; entweder das, oder sie hat mir vom Ende einfach nicht erzählt. Dann bin ich aufgewacht, hat sie gesagt, ich war schweißgebadet und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
An diesem Dienstag hat sie noch eine Weile darüber geredet; sie wollte von mir wissen, was ich davon hielt, aber ich konnte nicht viel sagen, das Bild hatte sich schon in meinem Kopf gebildet, während sie davon erzählt hatte, und so war ich mit mir selbst beschäftigt. Meine Erinnerung an das Gespräch verwischt sich an dieser Stelle; es war mir einfach nicht mehr wichtig, was sie sagte. Ich weiß noch, dass ich mehrmals nach dem Ende fragte , aber sie erzählte mir nichts mehr. In meinem Bild endet der Traum nicht mit der Zerschlagung des Kassierergefäßes, deshalb fragte ich nach; aber vielleicht hat sie wirklich nicht mehr gesehen.
In meiner Vorstellung ist es nicht die Kassiererin, die als letztes zerschlagen und somit entlarvt wird, nein. Sie steht vor diesem geborstenen Gefäß, hält die zerschmetterte Kaffeetasse noch in der Hand, und blickt zu dem Ungesicht – und damit zu mir – herüber. Von den Gästen ist keiner ganz geblieben, alle sind geborsten, alle waren nur Hüllen, nur Oberflächen. Nur ich stehe noch im leeren Raum zwischen den zerbrochenen Gefäßen. Ich gehe einige Schritte auf sie zu, in der Hand eine alte Teekanne.

Heuchlerin

nenne ich sie dann zweimal, bevor ich auch diesen Tonkrug zerschlage, diese Lüge enttarne. Das ist nicht das letzte Bild der Szene, eins muss noch kommen, das verstehe ich inzwischen, denke ich. Auch ich muss entlarvt werden, und so kommt es auch; die Kanne zerschlägt mein Ungesicht, und auch darunter ist nur hohle, leere Dunkelheit, die Schwärze eines geplatzten Betrugs.

Ich denke manchmal, es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich diesen Traum wirklich gehabt hätte; dann wäre ich aufgewacht, und alles wäre gut gewesen. Aber ich hatte ihn nicht; ich kann nicht erwachen, ich bin schon wach. Oder ich bin an diesem Dienstag im Jahre 1987 auf eine Weise aufgeweckt worden, die man nicht zurücknehmen kann, die nicht korrigierbar ist. Für sie ist es ein Traum geblieben, etwas, was man am ehesten als ein Spiel ohne Einsatz verstehen kann. Für mich ist es zur Wirklichkeit geworden, und die gibt es nicht ohne Einsatz.

Es ist nicht so, dass mein Leben an diesem Tag geendet hätte; das habe ich schon gesagt. Aber trotzdem hat sich vieles verändert. Vielleicht liegt es nicht nur an diesem Erlebnis, vielleicht ist es auch eine Form von Selbstbetrug, es nur auf ihre Erzählung zu schieben, aber ich lebe seit diesem Tag allein. Ich mache meine Arbeit, das habe ich auch vorher schon getan. Doch ich bin in den Wachdienst gewechselt: ich bewache nachts Industriegebäude. Mir ist klar, warum ich das tue und nichts anderes; ich ertrage keine Menschen mehr um mich. Sicher bin ich einsam, da mache ich mir nichts vor. Aber es ist eine andere, eine irreversible Art von Einsamkeit. Menschen, die einsam sind, wünschen sich einen anderen Menschen, der in ihrer Nähe ist. Das wünsche ich mir nicht. Ich fühle mich einsam, aber ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist.
Mein Leben ist ja auch nicht schlecht, das kann ich nicht behaupten. Manchmal esse ich abends ein Steak, oder schaue fern: Das bringt mir ein wenig Zerstreuung, auch wenn ich Filme, in denen Menschen spielen, nur schwer ertrage; mir sind Tierdokumentationen lieber.

Es ist immer das gleiche, wenn ich doch einen Spielfilm einschalte oder mit dem Bus zur Arbeit fahren muss; alles ist normal, ich sehe die Menschen um mich herum, ich höre ihre Gespräche. Doch dann drehe ich den Kopf, vielleicht sehe ich aus dem Fenster oder nach den Fischen in meinem Aquarium. Und dann ist es wieder da, das Geräusch der klirrenden Tonkrüge, und aus den Augenwinkeln sehe ich ihre hohlen, leeren Gesichter; diese Fälschung, die sie Mensch nennen. Etwas Ähnliches passiert manchmal, wenn ich zu lange in den Spiegel sehe; es wäre auch eine unerträgliche Ungerechtigkeit, wenn es nicht so wäre. Deshalb endet der Traum auch so und nicht anders, es musste so sein. Ich bin nicht anders als sie; Ich bin nur eine Oberfläche, ein Außen, mehr nicht. Darüber muss man sich keine Gedanken machen: Ich habe es getan, und manchmal bereue ich es.

5 Antworten zu “Ton”

  1. Liiiiiisa sagt:

    Misanthrop.

    Warum muss das schrecklich sein?

  2. Was muss schrecklich sein?

  3. Antsan sagt:

    Erstmal: Deine Schriftstücke, die ich bisher gelesen habe, sind eindrucksvoll.

    Jetzt zum Thema:
    Ich glaube, ich kenne in etwa das Gefühl, aber ich hab es abgelegt. Ich habe festgestellt, dass jeder Mensch mehr als eine Hülle sein kann. Es gibt keine graue Masse. Das ist ein Illusion der Leute, die es glauben und sich, dieser Illusion folgend, niemals mit den Menschen um sie herum beschäftigen. Das ist zumindest mein Eindruck.
    Wenn man nur wenige kennen lernt, kann man natürlich auch nur wenige als „echt“ betrachten.

    Andererseits ist das nicht ganz das, was in der Kurzgeschichte beschrieben ist. Vielleicht hab ich es einfach ein klein wenig issverstanden, was die Aussage ist, sofern es überhaupt eine geben soll.

  4. Danke 🙂
    Also, zunächst einmal bin ich ja nicht mit dem Erzähler identisch. Allerdings kann ich den Gedanken, den er da hat, sehr gut nachvollziehen. Auch das, was du da sagst, ist ein Aspekt der ‚leeren Hülle‘. Aber es gibt auch andere, vielleicht sogar tiefere, schließlich zerschlägt er ja nicht nur die graue Masse im Café, sondern auch seine Freundin und sich selbst.
    Wenn die große Tragödie des Lebens der Tod ist, dann ist die große Tragödie des Zwischenmenschlichen sicher die Tatsache, dass wir nicht in den anderen sehen können; wir können ihn nie wirklich berühren. Wir tauschen nur Symbole, Akte von Oberflächen aus. Aber wer garantiert uns dann, das auf der anderen Seite wirklich jemand ist, der diese Symbole wirkt? Wenn unser Denken an eine Form von Gestalt gekoppelt ist, wer garantiert uns dann, dass hinter diesem Denken jemand steckt, der denkt?
    Es gibt da eine Metapher… das erste, was jemand traditionell schreibt, der eine Programmiersprache lernt, ist das Hello-World-Programm.
    Es macht nichts anderes, als „hello world“ auf dem Bildschirm auszugeben – ja, auszugeben, nicht etwa: „hello world“ zu sagen, denn wir haben das Ding ja so programmiert. Da ist niemand, der Hello World sagen möchte.
    Was aber, wenn der Mensch ganz ähnlich ist? Ein Programm, dass immer nur ich bin ich bin ich bin ich bin wiederholt, ohne dass jemand das sagen würde?
    Diese Frage ist sicher ein weiterer Aspekt.

  5. Achso, und falls dir der Text gefällt, solltest du vielleicht mal Blacksuit lesen.

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