Kategorie 'System/Kreis: Kapitel 3'

Der Takt, nach dem wir alle tanzen (Takt/Frequenz) (4)

Diesen Artikel drucken 1. August 2005

Die Luft schmeckte bitter, es lag an den Fabriken, sagte er sich und wusste, dass es hier siet Jahren keine Fabriken mehr gab. Dennoch, er glaubte den beißenden Geruch von verbrannter Steinkohle zu erkennen, konnte es nicht erklären.
Er war zurückgekehrt, zurückgekehrt zu der Brücke, seinem Platz. Doch der Ort hatte sich verändert, erkannte er kaum schmerzvoll, die Brücke schien sich geneigt zu haben, hing schwer und träge nur knapp über dem Platz.
Auch die Anzugmenschen dort unten schienen sich verändert zu haben, er blickte wieder herunter, sie waren viel näher, viel wärmer, das Grau war ein wenig aus ihren Gesichtern geschwunden, aus den Gesichtern aller Menschen, übrig geblieben war nur der gehetzte Kummer von gefangenen Tieren.
Die Drogen spülten das Bild eines Zoos durch seinen Kopf, er in einem kleinen Zwinger, angekettet.
Er hatte immer nur in Ketten gelebt und tat es immer noch, Bitterkeit verdrängte das Bild und auch die Drogen für einen kurzen Augenblick.
Es war ironisch, er hielt zitternd den schwelenden Stummel einer Zigarette, nein, zynisch.
Es gab keinen Ausweg, hatte nie einen gegeben, das System war kohärent, es gab keine höhere Erkenntnis als diese. Jeder Flucht wurde zum Widererwachen, er hatte diesen Begriff einmal von dem Mädchen gehört, ein schiefes Lächeln zwang sich in sein Gesicht.
Er fühlte keine Reue, was sie anging, er zögerte, zumindest empfand er jetzt keine, aber seine Empfindungen waren ohnehin sehr verschwommen.
Für einen Moment hatte er vergessen, warum er hier war, dann fanden seine Finger das kleine Kästchen in seiner Manteltasche, umschloß es fest mit den Händen. Es musste so sein, er wollte frei sein, wollte nichts anderes mehr.
Seine Ohren waren erfüllt vom Rauschen seines eigenen Herzens, ein schneller, lauter Takt, und er erkannte einen ähnlichen Takt in den Bewegungen der Massen auf dem Platz, den gleichen Takt, nur maschineller, zerstückelter, seine überreizten Neuronen sprachen mit sich selbst, software failure, er wusste es, ließ seinen Blick dennoch auf dem Takt ruhen, ließ ihnen freien Lauf.
Die Arme hielten sich starr an der Brüstung fest, um nicht zu fallen, er musste sich konzentrieren, um dem Takt mit den Augen zu folgen, sah unscharf und doppelt.
Dieser Takt, er stammte nicht von einem Herzen wie das dumpfe Dröhnen in seinen Ohren, nein, eine Million, eine Milliarde Herzen schuffen diesen Takt, nicht in einem einzigen, harmonischen Zusammenspiel, sondern in einem chaotischen Zusammenwirken. Aus ihren asynchronen Schlägen, zu dem unspezifischen Brummen eines Bienenstocks verschwommen, erhob sich dieser Takt, tot und kalt wie ein erloschener Stern, nicht länger menschlich, sondern ganz und gar künstlich, nicht mehr wie der Rhythmus von Musik, sondern nur noch Taktfrequenz, Systemtakt, der Takt, nach dem die Welt ihren absurden Tanz richtete.
Die Konturen um ihn herum verschwammmen, doch der mechanische Takt blieb, blieb in seinen Ohren, überlagerte den biologischen Rhythmus, schien ihn verschlingen zu wollen, frass ihn auf.
Seine Hände hektisch das schwarze Päckchen hervor, er hatte es langsam, überlegt, würdevoll tun wollen, aber nun war er panisch, riss die Spritze heraus und ließ das kleine Holzkästchen fallen. Vor langer Zeit hatte er es gekauft, nie geglaubt, es einmal zu benutzen.
Seine Hand holte weit aus, zielte auf die Wade. Ein kurzer Schmerz, er fühlte, wie seine Synapsen niederbrannten, spürte eine Bewegung, begann zu schweben, und für einen Augenblick war er frei.
Er hörte ihr Lachen, eine letzte freundliche Geste, dann schlug er auf.
Um seinen Körper herum stoben die Menschen auseinander, und für den Zeitraum eines kleinsten wahrnehmbaren Teils des Taktes bildete ein winziger Teil eines gigantischen Systems aus Rädchen und Prozessen einen vollkommen symmetrischen Kreis, einen symbolischen Krater.
Der Moment verstrich, die Lücke schloß sich wieder, wurde reintegriert.
Und die Welt tanzte weiter ihren gewohnten Tanz.

Ende von Rotation Drei. Gesamttitel wird eingefügt, wenn mir einer einfällt.
Aus gegebenem Anlass kein Zitat.

Mastermind (3)

Diesen Artikel drucken 28. Juni 2005

Sein Blick war klar. Sein Atem, sein Puls war ruhig. Er spürte es, fühlte, konnte es durch die Dunkelheit vor seinen geöffneten Augen wahrnehmen, ein Stück der Ewigkeit – oder etwas, das er dafür hielt, fügte er hinzu – schloß sich um ihn.
Ein Zentrum, ein statischer Kern in einem unermeßlichen Meer aus rotierenden, kollidierenden, kalkulierenden Splittern einer zerfasernden Welt.
Und er spürte auch, wie er sich dem Ziel näherte, die Ruhe im Inneren wurde ein Teil von ihm oder er wurde ein Teil dieser Ruhe, die beiden Sichtweisen waren letztlich äquivalent, hatte er einmal konstatiert, dennoch bevorzugte er die erstere Lesart, vielleicht aus Eitelkeit, er wusste es nicht.
Es hatte ihm zunächst Angst gemacht, unglaubliche Angst sogar, auch wenn er sich das erst viel später eingestanden hatte, und doch war er beim ersten Mal verschreckt gewesen, fast panisch, und war aufgesprungen von dem Sessel, in dem er jetzt wieder locker ruhte, und er für einen winzigen Moment konnte er die Angst von damals fast wieder spüren, fast schmecken, und er musste sich zur Ordnung rufen.
Jetzt jedoch blickte er kalt und leer auf diesen Sturm, diesen Variablensturm, wie er es genannt hatte, in Anlehnung an den Beruf, den er vor langer Zeit ausgeübt hatte. Und für eine Weile, die immer wie ein ganzes Jahr schien, blickte das Chaos zurück, aus hunderttausend gebrochenen Augen, mit eben demselben, unpersönlichen, fernen Blick, ein hunderttausendfach vergrößernder Spiegel, steril und kalt und leer wie er selbst.
Und er fühlte, wie eine weitere Ewigkeit verstrich, während er den Blick starr festhielt, nicht mehr losließ, nicht mehr loslassen konnte.
Er wusste es ganz genau, er wusste ganz genau, was geschehen würde, vielleicht konnte er es nicht besitzen – leider nicht – aber er konnte es beherrschen, eine gewisse Kontrolle ausüben, es für einen Moment niederzwingen, und deshalb war er vollkommen leer und fokussiert.
Und wartete.
Und irgendwann begann das Chaos, zu weichen, es löste sich langsam und ließ leise fluchend den Blick auf die tieferliegenden Strukturen zu, die Splitter schienen langsamer um ihn zu rotieren, aber die Veränderung fand so langsam, so fließend statt, dass er den Blick kurz hätte abwenden müssen, um es zu sehen. Das weiße Rauschen der Farben und Licher nahm ab, zuerst an den Rändern, dort, wo die Ruhe endete, Abgrenzungen wurden klarer, der Kontrast baute sich langsam auf, so, als wäre es eine gestörtes – oder verstörtes – Funksignal, dass dort langsam an Kontur gewann, durch unzählige Filteralgorithmen gejagt und restauriert, rekonstruiert wurde, und in gewisser Weise hielt er diesen Vergleich für angebracht, auch wenn er sich den Gedanken sofort verbat. Die wirbelnden Massen schienen widerstrebend Regeln und Relationen zu gehorchen, sich ihrem ruhigen Kern langsam zu beugen, wie ein Gebäude, dessen Mauern sich langsam der Schwerkraft beugten, ächzend, flehend, mit der leisen Ankündigung, wiederzukehren.
Und von einem Moment zum anderen hatte er sein Ziel erreicht und gestattete sich, wieder auszuatmen, während er sich umblickte, langsam und vorsichtig noch.
Der Sturm hatte sich gelegt, und er blickte auf die ruhige See vor sich. Feinste Drähte aus Licht lagen da vor ihm, verbanden große und kleine Lichter miteinander, die sich in einer unendlich weiten Ebene vor ihm ausbreiteten.
Er würde sie am ehesten als Zahlen beschreiben, obwohl sie das nicht waren. Aber er würde es auch nie jemandem erklären, dachte er. Es waren keine Zahlen, wohl aber vielleicht.. Werte. Personen, Institutionen, Relationen. Alles fand er hier wieder, geordnet, verständlich, wenn er sich nur darauf konzentrierte, nicht mathematisch oder rational angeordnet, keine präzise Kalkulation, nein, vielleicht eher so etwas wie die Konkretisierung oder systematische Darstellung von Intuition. Seine abstrakt gewordenen Augen schweiften über die gigantische Ebene und blieben eine kurze Zeit bei dem Moment, den er vorgestern wahrgenommen hatte, als er an der Brücke stand und – wie immer – auf das Chaos unter ihm blickte.
Und er konnte jedes anonyme Gesicht wiederfinden, konnte die Abhängigkeiten erkennen, die kleinen dünnen Fäden, die von jedem dort unten zu jedem anderen verliefen, manche waren etwas dicker, er erkannte Zuneigung oder Hass darin, je nachdem, er konnte nicht erklären wie, aber es war ihm klar, wenn er sich dieses Bild ansah, diese Modell, diese Metastruktur. Selbst die Gebäude hatten ihren Platz wiedergefunden hier, sie strahlten in einem hellen Funkeln, repräsentierten gewisse Interessen, gewisse Konventionen, den Code of Conduct beispielsweise, auch natürlich das unbedingte Prinzip, dass diesem wie vielem der anderen großen Licher innewohnte.
Dies war keine Zauberei, er hatte das nie geglaubt, es hatte auch nichts mit Religion zu tun, nein, es war nur eine sehr… spezielle Ansicht der Welt, die sich ohnehin in seinem Kopf befand, er wusste es, es gab Ränder seiner Wahrnehmung, auch hier, er konnte selbstverständlich nicht in die Zukunft blicken oder durch die Wände eines Hauses, dass er nie betreten hatte, nein, das war unmöglich, auch die Welt gehorchte den Gesetzen der Physik, sie war nur eine komprimierte, eine gefilterte, durch Konzentration temporär geordnete Ansicht seiner Wahrnehmungen, jeder kleinsten. Es waren die ganz winzigen und die titanengroßen Dinge, die der ruhige Kern, der er war, hier verarbeitete, interpolierte, zu einem kohärenten Bild des Systems zusammensetzte, dachte er wieder und wieder und schwebte über die Ebene.
Hierher kam er oft, machmal, um nur etwas zu überdenken, wie ein Schachspieler, der eine Partie noch einmal spielte, um Fehler zu analysieren, und so schob er dann mit seinen geistigen Armen einige Pfäden zur Seite, sah, was geschah, welche Veränderungen sein Unterbewusstsein entdeckte konnte, antizipieren konnte. Die Rolle eines Schachspielers gefiel ihm, er gestattete sich diese Arroganz, er war unberührt, er verschob nur Menschen, kleine Winkelzüge, kleine Anstöße, das System und seine Regeln erledigten den Rest, es waren Marionetten, nichts als leere Figuren, die er auf diesem gigantischen Brett wie auch in der realen Welt verschieben konnte, wie er wollte.
Hier hatte er auch geplant, wie sie zur Seite zu schaffen war, kam ihm in den Sinn, er wusste nicht, warum. Es war ganz einfach gewesen, wie erwartet, er hatte nur einige ganz geringe Eingriffe machen müssen, und es hatte funktionieren, und jemand anders würde für ihren Tod büßen müssen, ein Geschäftspartner, ein Feind, jemand, den er ohnehin aus dem Weg räumen musste.
Dieses Mal war etwas anders, er fühlte es jetzt ganz deutlich, hatte es die ganze Zeit gespürt, aber nicht gewagt, es zu denken. Er witterte es, konnte es aber nicht sehen, eine Gefahr vielleicht. Bemüht blieb er ruhig, versuchte noch mehr Ordnung herzustellen, den Fehler zu finden, drehte sich weg von den dünnen Knoten unter der Brücke, hin zu dem Moment, der ihn offensichtlich, wie er verärgert eingestand, immer noch beschäftige.
Und plötzlich stand sie vor ihm, doch es war nicht das Bild, dass er erwartet hatte, es schien selbstständig, selbsttätig. Die rote Träne schien über ihren Lippen gefroren zu sein, doch ihre Augen waren offen und klar, und sie blickten ihn aus unendlichen Höhen an, fixierten ihn, er spürte, wie die Angst in ihm wuchs, wie das die geronnene Ordnung zu zerfließen begann, langsam, wie ein Dieb, der sich hinter seinem Rücken davonschleichen wollte, er musste sich konzentrieren, rief er sich zu, konzentrieren auf dieses Täuschbild, und er suchte einen Schwachpunkt, einen Fixpunkt, und fand ihre Augen.
Und erschrak.
Diese Augen waren nicht leer, sie waren lebendig, sie zeigten ihr Wesen, ihre Wut, ihre Trauer, und doch waren sie wie Spiegel, klarer und stärker, als er es für möglich hielt, und sie nahmen ihn gefangen, er wich zurück, sie folgten, er wand sich ab, sie drehten sich um ihn.
Und er sah sein eigenes Spiegelbild in ihren abstrakten Pupillen und erkannte sich selbst als kleines Licht, von dem dünne Fäden aus Licht zu anderen Lichtern führten, Teil des Systems, wie er lakonisch feststellte, und er sah nun durch ihre Augen, und wie in Trance folgte er seiner eigenen Repräsentation in die Vergangenheit, sah die Abhängigkeiten, die sich plötzlich aufbauten, die dünnen Fäden, die ihn wie eine Marionette von einem Moment zum anderen hatten taumeln lassen, immer nur taumeln lassen, so wie jede andere Marionette auch, und ihre Augen blieben das letzte, was er sah, bevor die Ordung um ihn herum endgültig zerbrach und das Chaos über ihm zusammenschlug wie ein rachsüchtiger Wolkenbruch, graue Pupillen, in denen sich seine eigene Bitterkeit und die ihre widerspiegelte.

„Keep me away from the wisdom which does not cry, the philosophy which does not laugh and the greatness which does not bow before children.“ – Khalil Gibran

Die Logik des Wolfes (2)

Diesen Artikel drucken 27. Mai 2005

Sie hatte am Morgen angerufen, mit einer ruhigen Stimme gesprochen, ein Treffen erbeten. Er war irritiert gewesen, aber er wollte, er musste wissen, was vorging, und der Klang ihrer Stimme hatte ihn dem Treffen zustimmen lassen, und er war zu ihr gekommen, und schon noch bevor sie Platz nahm war es aus ihr herausgesprudelt, es waren etwas überhastete verwirrende Satzfetzen gewesen, aber er hatte schnell verstanden, worum es ging, und sie hatte ihm von dem Jungen erzählt, von dem Brief, von ihrer Entscheidung, von dem Entzugsprogramm, von dem neuen Arzt, den sich nun einmal in der Woche aufsuchte, und von ihrem Umzug, auf Land wollte sie gehen, dort an der frischen Luft und nur für sich arbeiten, sogar etwas Triumph schwang in ihren Worten mit.
Und nun saßen sie hier, er in einem tiefen, schwarzen Sessel, sie auf einem Stuhl nur eine Armlänge entfernt, und immer noch erzählte sie, sie sprach von der Hoffnung, von dem Programm, an dem sie teilnehme wolle, von dem Entzug, sie wirkte klar und nüchtern, und dennoch stießen die Worte immer noch in einem ungebremsten Schwall über ihre Lippen, er fühlte sich an ein Kind erinnert, dass von einer der vielen kindlichen Traditionen schwärmte.
Und er hörte immer noch zu, scheinbar.
Seine Augen wandten sich von der Bücherwand, an der sie gehaftet hatten, wieder zurück zu ihren Augen, und für einen Moment gestattete er sich einen Blick auf das vage Funkeln echter Hoffnung, das langsame Aufflammen von etwas, dass er nicht kennen oder kontrollieren konnte.
Der Schlag kam von unten, wie ein Blitz, wie der kleine Funken zwischen zwei Schaltgattern eines Mikroprozessors, schnell und präzise, mit exakt der richtigen Abstimmung von Kraft und Richtung, ein einzelner Vektor, keine Ecken, keine Kanten, kein Zögern, nur ein schneller, harter Schnitt durch die Luft, so beiläufig und doch kraftvoll, dass das Leuchten in ihren Augen noch blieb, siebeneinhalb Sekunden lang, als hätte es für einen kurzen Moment den Tod vergessen.
Die Entscheidung selbst, so dachte er, war schnell gefallen, sie war obligatorisch, a priori, gewesen. Er konnte nicht zulassen, dass sie ging, dass sie seiner Kontrolle entglitt, dafür, so sagte er sich, auch wenn er das Pochen eines Zweifels hinter dieser Begründung spürte, wusste sie einfach zu viel über ihn, wer wusste, ob sie eines Tages mit den Männern in den grauen Anzügen vor seiner Tür stand, nein, hatte er bekräftigt, er konnte es nicht zulassen.
Und doch hatte er noch eintausendzweihundert lange Züge des Pendels hinter ihm dort gesessen und nichts getan, hatte nur über das Wie nachgedacht, die Herangehensweise überdacht, und er hatte dabei stumm dagesessen und sie reden lassen, einfach nur reden lassen, während er analysierte und seinen Blick über die endlosen Bücherreihen vor ihm wandern ließ.
Und schließlich war seine Augen an einem der Buchrücken haften geblieben, und er hatte sich erinnert, erinnert an eine Nacht vor vielen Nächten, in der sie hier gesessen hatte und im Rausch eines der Bücher gelesen hatte, und er hatte sich auch an die vielen wirren und düsteren Worte erinnert, die in dieser Nacht aus ihrem Mund geflossen waren wie ein reißender Strom, der sich seinen Weg durch einen tiefen Talkessel bahnte. Sie hatte von Wölfen gesprochen, von großen dunklen Männer, von der Angst, eingesperrt zu sein, und er hatte über Gewalt nachgedacht, über die seltsame Beziehung zwischen Räumen und Gewalt. Er hatte sich einen geistigen Exkurs von seiner methodischen Frage erlaubt, den Zusammenhang zwischen der räumlichen Wahrnehmung und dem Anwenden von Gewalt neu überdacht, seine eigenen Erfahrungen reflektiert.
Es stimmte, so hatte er befunden, während der Rezipient von Gewalt – er weigerte sich, in irgendeinem Zusammenhang von Opfern zu sprechen, denn es gab keine Opfer – eine Krümmung wahrnahm, ein Sich-Schließen des Täters um den Rezipienten, einen metaphorischen Kreis der Hölle, so verhielt es sich mit dem Täter umgekehrt, für ihn wurde der Raum größer, die Distanz wuchs, das Entkommen des Rezipienten – besser, die Option des Entkommens – entwickelte eine fast schon räumliche Dimension, dehnte die Abstände zwischen den beiden Subjekten.
Und dann hatte er sich ihrer Angst vor dem Eingesperrtsein besonnen und schließlich diesen Weg, dieses Wie gewählt, denn diese Methode schien die Verdrehung, diese Verkrümmung des Raumes abzumildern, zu verhindern durch Präzision und Geschwindigkeit, und in der Tat war er zufrieden, sein Arm, so hatte sein sensorisches Ich diesen winzigen Moment wahrgenommen, hatte den sich verzerrenden Raum zerschnitten, ähnlich einem Teppichmesser, dass einen Globus zerschnitt – es blieben winzige Krümmungen, winzige Spuren der Tat, kleine Dellen, topologische Unebenheiten, aber sie waren subtil, sie besaßen kein geordnetes Ziel mehr und zerfloßen in alle Richtungen.
Er hatte von diesem Schlag gelesen, vor langer Zeit schon, in einem alten Buch, dass in traditionellem Chinesisch verfasst worden war, und für einen Augenblick war er nicht sicher gewesen, ob er ihn korrekt ausgeführt hatte.
Ein gewisser Stolz mischte sich in die Leere seines Selbst. Er blickte in ein bleicher werdendes Gesicht, dessen Augen sich geschlossen hatten, schön und still, ein kälter werdendes Lächeln auf den Lippen, fast wie im Schlafe.
Es war perfekt gewesen, dachte er. Der Angriff war nicht von Emotionen geleitet worden, von Wut oder Trauer. Auch nicht von Rationalität, von Warum und Weil. Die Quelle dieses Schlags war er selbst gewesen.
Es war perfekt gewesen, dachte er noch einmal voller Bewunderung, dann floß eine einzige blutrote Träne aus ihrer Nase, in langsamen, kriechenden Bewegungen, und zerstörte sein Bild. Noch einmal pochte der Zweifel leise in seinem Hinterkopf, pochte auch in dem Arm, der jetzt schmerzte vom Brechen des dünnen Knochens.
Er schob es auf die seltsamen Umstände und stand auf, um sie wegzuschaffen.

„Die meisten Menschen sind Mörder. Sie töten einen Menschen. In sich selbst.“ – Stanislaw Jerzy Lec

Erwachen/Systeme (1)

Diesen Artikel drucken 19. Mai 2005

Von hier oben konnte er auf sie herabschauen, er gewann einen Überblick über das System unter ihm, und in gewisser Weise spiegelte der erhabene Standort dieser Brücke sein inneres Verhältnis zu dem unter ihm wider, und so schien sie ihm ‚angemessen‘, seiner Person angemessen, seinem Zustand, seiner Position angemessen.
Aus diesem Grunde – und, wie ihm bewusst war, aus einigen anderen, praktischen, fast pragmatischen Gründen – stand er oft hier und blickte auf den Platz herab, den die Brücke bedrohlich hoch überspannte, fühlte die fragile Mischung aus Ekel und Bewunderung und einigen anderen Emotionen, vielleicht die Mixtur, die ein Jäger vor dem Tigergehege fühlte, in einem Zoo.
Ja, vielleicht war der Ausdruck Zoo ‚angemessen‘ für diesen Platz.
Seine gepflegt und jung wirkenden Hände vollzogen einige schnelle, präzise Bewegungen, zogen eine Schachtel und ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche, entzündeten eine der Mentholzigaretten. Er ließ die Asche achtlos über die Brüstung rieseln.
Und wieder blickt er nach unten.
Die Menschen verloren sich dort unten auf ihren endlosen Pfaden, auf ihren kleinen, kurvigen Wegen über den Platz, und von der Brücke aus wurden sie zu einer undefinierbaren, fraktalen Masse, in der das Individuum als singuläre Erscheinung verschwand, zu einem statistischen sample von Systemzwängen und Marketingstrategien wurde. Sanft zog er noch einmal an der Zigaretten.
Der Platz war eingerahmt, er korrigierte sich, er entstand erst durch die umliegenden Bürogebäude, die in einem zynischen Zug den Platz sowohl schuffen als auch permanent zu bedrohen schienen, und so wirkte der Platz auf den Betrachter kleiner, als er tatsächlich war. Vielleicht war das Absicht gewesen, dachte er amüsiert, vielleicht hatten die Architekten dieser Konstruktion diesen seltsamen Widerspruch absichtlich realisiert, damit die Menschen ein wenig schneller über den Platz liefen, wenn sie zu arbeiten hatten. Er musste an ein Buch denken, das zwischen vielen anderen ähnlichen Büchern in seinen Regalen standen, geschrieben von einem wirren, zerstreuten Geist, und doch von einer merklichen Wahrheit hinter seinen Worten beflügelt.
Das Logo, dass in immer blankpolierten, spiegelnden Farben über jedem Eingang der Gebäude prangte, war überall gleich, was ihn zu der Vermutung geführt hatte, dass jedes dem gleichen Unternehmen gehörte, er wusste nicht, wie es hieß, aber letztlich war das auch irrelevant, irrelevant für ihn und vermutlich sogar für die Menschen unter ihm, denn die Arbeiten, die sie verrichteten, folgten keinem offenen Plan mehr, keiner Richtung, sie waren nunmehr Rädchen in einem System von größeren und kleineren Rädchen, und wie jedes gute Zahnrad gaben auch sie sich der Indifferenz preis.
Früher hatte er sich manchmal sogar gewünscht, auch nur ein Rädchen zu sein. Heute war das anders.
Er ließ den Zigarettenstummel fallen.
Vor langer Zeit war er wie sie gewesen. Je häufiger er hier stand, desto stärker war ihm das bewusst gewesen, und er nahm davon zunächst beunruhigt Kenntnis, bis er darin seine eigene Überlegenheit erkannte.
Sein altes Ich erkannte er oft wieder hier, vor allem in all den Fluchtwegen, die ein Zahnrad zu nehmen versuchte, wenn es kein Zahnrad mehr sein wollte. Und so sah er manchmal einen oder zwei Menschen dort unten, die anders waren; sie trugen eine Krawatte von anderer Farbe, manchmal auch ein im Genick verstecktes Tatoo, genau auf Höhe des Kragens, aber immer noch zu entdecken, vielleicht ein kleines Gerät, dass die anderen nicht besaßen, manchmal etwas Ausgefalleneres, und für einen Moment waren diese Menschen anders, sie blickten sich um, während sie über den Platz liefen, in ihre Augen kehrte der Glanz des Individuellen zurück, ein bisschen so, als ob Leben in einen toten Körper zurückkehrte. Er kannte den Zahnrädchencode, wie er es nannte, den Code of Conduct des Unternehmens nicht, aber manche dieser Trends verschwanden wieder, viele schon nach Stunden, oder aber die Menschen verschwanden, die sie auslebten. Andere schienen den Code of Conduct auf so subtile Weise zu unterminieren, dass sie blieben, sich verbreiteten, sich in einer Form von viraler Kontamination reproduzierten, bis schließlich jedes Wesen dort unten davon infiziert war – und die Individualität wieder erlosch. Genauso war auch er einmal gewesen, hatte das Stück Individualität gesucht, dass ihn seiner selbst versichern konnte, zuerst in den Medien, auf Musiksendern, später in Büchern, dann in Drogen, doch überall war die Form viraler Kontamination vorhanden, die er auch hier fühlte, und deshalb war er gescheitert, immer wieder gescheitert, aber das war in einem anderen Leben gewesen. Er konzentrierte sich auf die Pfade, mit denen die Menschen ganz im Sinne des Systems den Boden überzogen, abstrakte Muster, die eine zielgerichtete Geschäftigkeit symbolisieren sollten, die im Realen keine Entsprechung fand, denn kaum einer der Menschen dort unten wusste, warum er eigentlich das tat, was er tat, sie alle waren winzige Teile eines winzigen Prozesses in einer verschachtelten Welt von Prozessen.
Oft hatte er darüber nachgedacht, das Problem wieder und wieder überdacht, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass diese Form zeitlich begrenzter Individualität die Strategie eines Meta-Rädchencodes, des Systems selbst war, eine weitere Art von Kontrolle darstellte.
Er erfühlte die Präsenz eines anderen hinter ihm und drehte sich mit der Beiläufigkeit eines Unbeteiligten um, blickte in die hungernden Augen eines Menschen im schwarzen Anzug.
Wie dieser Mann hatte auch er sich nicht mit einfachen Trends, einfachen Variationen des Gegebenen zufriedengegeben, nein, er hatte weitergesucht, nach Erfahrungen, die die Grenzen des Normalen – seiner damaligen Sichtweise nach – sprengen mussten, und er hatte viel zu viel genommen.
Diesen Mann kannte er, er gab ihm nur noch einige Wochen, bis er aus dem System fallen würde, gab ihm deshalb nicht die übliche Menge, sondern eine gestreckte Dosis. Vollzog den Austausch in einer ruhigen, bedachten, aber nicht übermässig angespannten Geste und konzentrierte sich dann wieder auf den Platz. Eigentlich musste er nicht mehr selber diesen Job machen, er tat es dennoch, er wusste nicht warum, und es war tatsächlich nicht relevant für ihn. Vielleicht war es eine perverse Freude an dem, was seinen Kunden geschah, vielleicht auch nur Langeweile, vielleicht auch ein bisschen die Arroganz der Überlegenheit, die er für sich selbst zu Schau stellen konnte, er konnte es nicht entscheiden und es war für seine Tätigkeit auch nicht wichtig.
Noch einmal blickte er Mann in dem schwarzen Anzug nach, er konnte nie wissen, wie jemand in seinem Zustand reagierte. Er grinste. In gewisser Weise garantierte der Tod seiner Kunden oder ihr Abdriften ins Bewusst-Lose seine eigene Sicherheit; verraten konnten sie ihn sicher nicht, und das beruhigte ihn.
Oft dachte er, die Regeln des Spiels seien sehr einfach; jeder in diesem System dort unten konnte wählen, konnte die Anpassung wählen, die den Konformismus, die Selbstaufgabe und schließlich den Tod den Geistes oder, in einer absurden Beibehaltung des Sinnes, den Geist des Todes implizierte.
Oder er konnte die Rebellion wählen, die Auflehnung, das Aufbegehren, vielleicht, weil diesem System gewisse abstrakte Konzepte fehlten, die manche als ‚menschlich‘ bezeichneten, er bewunderte die Naivität dieser Forderungen, doch diese Menschen landeten schließlich auf Kanälen, die das System unsichtbar bereithielt, bei ihm, und das würde den Tod ihres Körpers implizieren, und nichts war gewonnen. Ein geringfügiger Teil seiner Persönlichkeit fühlte sich mehr zur Rebellion hingezogen, aber das war verständlich, so dass er es geschehen ließ, und er dachte an das Mädchen, dass ihn oft besuchte, eine Kundin, eigentlich, aber auch Ausdruck dieser geringfügigen Rest-Sympathie, denn er ließ sie selten zahlen, zumindest nicht mit Geld, wie er lakonisch feststellte. Sie ähnelte den anderen Rebellen sehr, sie schien die Epoche der Bedeutungslosigkeit durch Deutungslosigkeit auflösen zu wollen, diesen Satz hatte er einmal gelesen und fand ihn passend.
Und es gab den dritten Weg, den Weg, den er gegangen war, allein, als einziger, und schon das machte seine Überlegenheit aus, fand er. Er stand immer außerhalb, gehorchte nur seinen Regeln, und das war es, was ihn so von den Menschen dort unten unterschied, ihm diktierte kein System von ethischen, sozialen und medialen Systemen seinen Weg, sie konnte ihm nichts mehr anhaben, er hatte den Durst nach Individualität irgendwann aufgegeben und war so zum Individuum geworden, er war das corrupted file geworden, der unverdaubare Datensatz für die globalen Algorithmen dieser Zeit.
Manchmal kam es ihm fast so vor, als wäre es nicht die Brücke, die den Platz überspannte, sondern er selbst, mit je einem Fuß auf den sich gegenüberliegenden Konzerndächern. Der Gedanke gefiel ihm, und er verweilte noch ein wenig bei ihm, als er sich auf den Weg zurück machte, weg von der Brücke, weg von den Konzerngebäuden.

„Die höchste Erkenntnis tut ab die Erkenntnis, höchste Liebe vergisst die Liebe. Höchste Tugend ist nicht Tugend.“ – Lü Bu We