Die Ordnung und ihr Ende (4)
19. November 2006Er erkannte, dass etwas nicht richtig war, dass hier etwas nicht an seinem Platz war, als er die Verriegelung seines Wagens zuschnappen ließ. Unschlüssig blieb er in der Einfahrt stehen, die reuige letzte Nacht pochte noch in seinem Hinterkopf, und so brauchte es einige Sekunden, bis sein Verstand erkannte, was er vermisste.
Seine Statue. Sie war nicht an ihrem Platz auf dem sorgsam gepflegten Rasen des Vorgartens.
Nervös schritt er auf ihren leeren Platz zu, die Schlüssel in der Hand. Nur einige weiß-graue Splitter waren noch da, wo sie gestanden hatte, immer gestanden hatte.
Er starrte den Platz eine Weile an, dann ging er zur Haustür. Was war nur geschehen?
Seine Hände zitterten leicht, als er auf die Tür zutrat, doch noch bevor er die Hand mit dem Schlüssel darin heben konnte, schwang sie auf.
Die Ehefrau stand vor ihm, doch ihrem Gesicht fehlte der übliche, freudige Ausdruck des Wiedersehens. Sie schien geweint zu haben, konstatierte er verblüfft. War es wegen der Statue?
Sein Geist begann, in einem gewählten Tonfall eine Frage zu formulieren, er öffnete den Mund, doch die Frau drehte sich abrupt um und ließ ihn stehen.
Mit unsicheren Schritten folgte er ihr ins Haus.
Der Flur, sonst aufgeräumt, ordentlich, fast leer, war voll mit Unrat, alte, längst weggeworfene Zeitungen lagen auf dem Boden, leere Verpackungen, dazwischen andere Gegenständen, Kleiderbügel, alte Jacken und Mäntel.
Taumelnd versuchte er, auf keinen der Gegenstände zu treten, sein Geist gab dem Schrecken und dem Chaos nach.
Er erreichte ein Zimmer. Sie stand in der Ecke, blickte auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes.
Apathisch sah er sich um. Alle Schränke standen offen, die Schubladen waren aus den Kommoden gerissen und ihr Inhalt auf dem sauberen Teppich ausgeteilt worden, selbst – sein – Sekretär gähnte ihn leer an. Geschirr, Papiere, alte Zeichnungen, Kerzen, zerschlagene Gläser und Teller, all das lag auf dem Boden in einem chaotischen Durcheinander ohne Ordnung oder Sinn.
Endlich blickte er auf den Tisch, der seltsam aufgeräumt wirkte.
Auf ihm lag, sorgsam ausgebreitet und rechteckig angeordnet, gut ein Dutzend roter Zettel. Sein Verstand zählte genauer, vierzehn, es waren vierzehn rote Zettel, Hotelrechnungen. Einige waren schmutzig und ausgeblichen, sie musste sie aus den Mülleimern herausgesucht haben.
Er begriff erst, als sie zu reden begann.
Seine Augen wanderten ziellos durch den Raum, was war das doch für ein Chaos, was für ein regelloses Durcheinander, und er hörte nur halb zu, als sie sprach.
Die Ehefrau redete von Scheidung, sie würde gehen, hörte er sie fern sagen, die Worte schienen ihr schwer zu fallen, ein unterdrücktes Schluchzen lag darin, er wisse, warum.
Wieder öffnete sie sein Mund, doch er fand keine Worte, und so zog er nur stumm einen der Stühle heran und ließ sich auf die Sitzfläche sinken, während sie mit einem Satz, den er nicht mehr verstand, den Raum verließ.
Zitternd zogen seine Hände einen weiteren roten Zettel aus der Manteltasche hervor, den fünfzehnten, er legte ihn neben die anderen und starrte auf den Tisch. Erst als sie wieder den Raum betrat schaute er auf, sah die trotzige Wut und die Trauer in ihren Augen und die Koffer in ihren Händen.
Es schien, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann ging sie entschlossen an ihm vorbei. Er hörte, wie die Haustür donnernd hinter ihr ins Schloß fiel.
Seine Ordnung, sein Leben, was war nur geschehen, dachte er, bruchstückhaft und fast im Wahn. Sie war doch seine Frau, sie konnte nicht so einfach gehen, durfte nicht.
Was war nur geschehen, warum hatte sie ihm so nachspioniert, hatte er nicht immer alles für sie getan?
Er hörte, wie draußen ein Kofferraum ächzend aufschnappte.
Jetzt lag alles in Scherben, dachte er, alles, seine Ordnung, sein Leben. Und es war nicht fair, er hatte Fehler gemacht, aber war er nicht immer gut zu ihr gewesen, hatte er ihr nicht ein Leben bieten können, Regeln und Strukturen, damit sie sich in der Welt zurechtfand?
Nein, er konnte das nicht zulassen, dachte er, stand auf, ging zum Sekretär. Es war nicht fair, sie war ein Teil von ihm, sie konnte nicht gehen, er würde das verhindern. Einige Sekunden brauchte er, um mit seinen zitternden Händen die unterste Schublade aufzuschließen, für diese hatte sie keinen Schlüssel, hatte sie nie einen gehabt. Er zog den sorgsam eingewickelten Revolver heraus, dann lief er zur Tür. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß.
Die Nachbarn hörten, wie ein Motor aufheulte, dann einen Schuss. Das Motorgeräusch erstarb. Dann, einige Sekunden später, hörten sie einen zweiten Schuss. Danach wurde es ruhig.