Kategorie 'Kollisionskurs'

Die Ordnung und ihr Ende (4)

Diesen Artikel drucken 19. November 2006

Er erkannte, dass etwas nicht richtig war, dass hier etwas nicht an seinem Platz war, als er die Verriegelung seines Wagens zuschnappen ließ. Unschlüssig blieb er in der Einfahrt stehen, die reuige letzte Nacht pochte noch in seinem Hinterkopf, und so brauchte es einige Sekunden, bis sein Verstand erkannte, was er vermisste.
Seine Statue. Sie war nicht an ihrem Platz auf dem sorgsam gepflegten Rasen des Vorgartens.
Nervös schritt er auf ihren leeren Platz zu, die Schlüssel in der Hand. Nur einige weiß-graue Splitter waren noch da, wo sie gestanden hatte, immer gestanden hatte.
Er starrte den Platz eine Weile an, dann ging er zur Haustür. Was war nur geschehen?
Seine Hände zitterten leicht, als er auf die Tür zutrat, doch noch bevor er die Hand mit dem Schlüssel darin heben konnte, schwang sie auf.
Die Ehefrau stand vor ihm, doch ihrem Gesicht fehlte der übliche, freudige Ausdruck des Wiedersehens. Sie schien geweint zu haben, konstatierte er verblüfft. War es wegen der Statue?
Sein Geist begann, in einem gewählten Tonfall eine Frage zu formulieren, er öffnete den Mund, doch die Frau drehte sich abrupt um und ließ ihn stehen.
Mit unsicheren Schritten folgte er ihr ins Haus.
Der Flur, sonst aufgeräumt, ordentlich, fast leer, war voll mit Unrat, alte, längst weggeworfene Zeitungen lagen auf dem Boden, leere Verpackungen, dazwischen andere Gegenständen, Kleiderbügel, alte Jacken und Mäntel.
Taumelnd versuchte er, auf keinen der Gegenstände zu treten, sein Geist gab dem Schrecken und dem Chaos nach.
Er erreichte ein Zimmer. Sie stand in der Ecke, blickte auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes.
Apathisch sah er sich um. Alle Schränke standen offen, die Schubladen waren aus den Kommoden gerissen und ihr Inhalt auf dem sauberen Teppich ausgeteilt worden, selbst – sein – Sekretär gähnte ihn leer an. Geschirr, Papiere, alte Zeichnungen, Kerzen, zerschlagene Gläser und Teller, all das lag auf dem Boden in einem chaotischen Durcheinander ohne Ordnung oder Sinn.
Endlich blickte er auf den Tisch, der seltsam aufgeräumt wirkte.
Auf ihm lag, sorgsam ausgebreitet und rechteckig angeordnet, gut ein Dutzend roter Zettel. Sein Verstand zählte genauer, vierzehn, es waren vierzehn rote Zettel, Hotelrechnungen. Einige waren schmutzig und ausgeblichen, sie musste sie aus den Mülleimern herausgesucht haben.
Er begriff erst, als sie zu reden begann.
Seine Augen wanderten ziellos durch den Raum, was war das doch für ein Chaos, was für ein regelloses Durcheinander, und er hörte nur halb zu, als sie sprach.
Die Ehefrau redete von Scheidung, sie würde gehen, hörte er sie fern sagen, die Worte schienen ihr schwer zu fallen, ein unterdrücktes Schluchzen lag darin, er wisse, warum.
Wieder öffnete sie sein Mund, doch er fand keine Worte, und so zog er nur stumm einen der Stühle heran und ließ sich auf die Sitzfläche sinken, während sie mit einem Satz, den er nicht mehr verstand, den Raum verließ.
Zitternd zogen seine Hände einen weiteren roten Zettel aus der Manteltasche hervor, den fünfzehnten, er legte ihn neben die anderen und starrte auf den Tisch. Erst als sie wieder den Raum betrat schaute er auf, sah die trotzige Wut und die Trauer in ihren Augen und die Koffer in ihren Händen.
Es schien, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann ging sie entschlossen an ihm vorbei. Er hörte, wie die Haustür donnernd hinter ihr ins Schloß fiel.
Seine Ordnung, sein Leben, was war nur geschehen, dachte er, bruchstückhaft und fast im Wahn. Sie war doch seine Frau, sie konnte nicht so einfach gehen, durfte nicht.
Was war nur geschehen, warum hatte sie ihm so nachspioniert, hatte er nicht immer alles für sie getan?
Er hörte, wie draußen ein Kofferraum ächzend aufschnappte.
Jetzt lag alles in Scherben, dachte er, alles, seine Ordnung, sein Leben. Und es war nicht fair, er hatte Fehler gemacht, aber war er nicht immer gut zu ihr gewesen, hatte er ihr nicht ein Leben bieten können, Regeln und Strukturen, damit sie sich in der Welt zurechtfand?
Nein, er konnte das nicht zulassen, dachte er, stand auf, ging zum Sekretär. Es war nicht fair, sie war ein Teil von ihm, sie konnte nicht gehen, er würde das verhindern. Einige Sekunden brauchte er, um mit seinen zitternden Händen die unterste Schublade aufzuschließen, für diese hatte sie keinen Schlüssel, hatte sie nie einen gehabt. Er zog den sorgsam eingewickelten Revolver heraus, dann lief er zur Tür. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß.

Die Nachbarn hörten, wie ein Motor aufheulte, dann einen Schuss. Das Motorgeräusch erstarb. Dann, einige Sekunden später, hörten sie einen zweiten Schuss. Danach wurde es ruhig.

Grüne Augen (3)

Diesen Artikel drucken 19. November 2006

Das bläuliche Leuchten des Bildschirms verlieh seinen Gesichtszügen eine besondere, blasse Strenge, eine Straffheit, die ihm das Alter eigentlich schon genommen hatte.
Er blickte herab von dem Monitor, nahm die Brille ab, die er sich vor Jahren hatte kaufen müssen, rieb sich leicht gerötete Augen.
Die Uhr an der Wand zeigte 00:30, er konnte eine kleine Pause machen, entschied er, ohne den Gedanken an sein Projekt, wie man im Jargon seines Berufsstandes sagte, vollkommen zu verdrängen.
Dennoch, mit einer gewissen Ruhe, die er sich nun gestattete, sah er auf seine flimmernden Konstruktionszeichnungen, griff dann blind zu der Tasse, die wie immer präzise an ihrem Platz stand, trank einen Schluck.
Die Zeichnung auf dem Bildschirm, sofern andere Menschen sie als Zeichnung bezeichnen würden, bestand aus klaren Linien, Knotenpunkten, Symbolen, die Informationen über Statik lieferten, über Kabelkanäle und Wasserleitungen.
Für andere wäre sie sicher nur schwer zu entziffern, aber für ihn war sie klar und einsichtig. Auch seine Frau würde sie wohl kaum durchschauen, er hatte sich nie die Mühe gemacht, ihr von seinem Beruf zu erzählen, sah keinen Sinn darin. Sie musste nichts darüber wissen, ihre Funktion, ihre Aufgabe war eine andere.
Er lehnte sich ein wenig zurück, das weiche Leder gab nach. Um diese Uhrzeit war immer alleine hier, die anderen waren schon lange gegangen, das war gut so.
Ein Teil von ihnen machte die Arbeit recht gut, auch wenn er es war, der mit den komplexeren Problemen betraut wurde. Doch die meisten Mitarbeiter waren ihm fremd oder fremd geworden, sie mochten – zufällig – etwas von der Arbeit verstehen, aber ihre Haltung gefiel ihm nicht. Sie verstanden nicht viel von den Regeln und Strukturen, die so wichtig für das menschliche Zusammenleben waren, sie waren unstet und manchmal wie die alten Freunde aus Studienzeiten, vergnügungssüchtig, laut und inkonsequent.
Zwar ließen sie ihn in Ruhe, mieden ihn gar, doch dennoch war er lieber alleine hier. Und so arbeitete er oft spät in der Nacht, wenn diese anderen Menschen den Beschäftigungen nachgingen, denen er nichts abgewann, suchten ihr Glück in der Zerstreuung.
Solche Angestellten waren ein unhaltbarer Zustand in seinen Augen, aber seine Proteste hatten nichts geändert an der „Einstellungspolitik“ des Unternehmens, wie sich der Personalchef ausgedrückt hatte.
Seit diese andere Frau in sein Leben getreten war hatte er sich bemüht, den anderen Angestellten mit etwas mehr Nachsicht und Güte gegenüber zu treten, schließlich hatte auch er ja Fehler gemacht. Doch hatte er aus ihnen gelernt, während diese Wilden gar nicht daran dachten, sich ebenso strengen Maximen und Regeln unterzuordnen wie er selbst, und so hatte er diese Nachsicht wieder verworfen.
Ein Bild der Ehefrau stand auf dem Tisch, er betrachtete es einige Sekunden lang, trank noch etwas Kaffee.
Ja, es war ein Fehler gewesen, dieser Frau gegenüber hatte er eine Pflicht verletzt, sogar einige Male. Aber das würde nicht wieder geschehen. Er hatte sich gebraucht, diese Nächte mit der anderen Frau, seine Gedanken fanden zurück zu diesen Stunden, ohne das er sich dessen erwehren konnte. Ihre süßen Worte, ihre sanften grünen Augen, er hat sie vielleicht wirklich gebraucht, ja, auch wenn er wusste, das es nicht richtig gewesen war. Das entschuldigte nichts, doch auch lag all das hinter ihm, er würde ihr nie wieder zuhören, sie nie wieder so ansehen.
Er stellte den Becher wieder ab, streifte dabei die gerahmte Fotografie der Ehefrau, etwas Kaffee floß auf den Schreibtisch.
Einige Sekunden lang starrte er auf den schwarzen Fleck. Dann stand er verärgert auf, holte ein Tuch, entfernte den Kaffee von der makellosen Oberfläche. Schließlich schob er die Fotografie ein wenig weiter nach hinten, neben den stumm leuchtenden Bildschirm, betrachtete die neue Ordnung kritisch.
Ein seltsam drängendes Gefühl der Schuld berührte ihn plötzlich. Nein, er musste sein Vergehen büßen, entschied er. Der Ehefrau konnte er nicht offenbaren, was er getan hatte, nein, das würde ihr Kummer bereiten, und ob schon sie nicht immer seinen Ansprüchen genügte, war sie doch immer noch eine gute Ehefrau. Nein, sie musste in dieser Welt aus seinen Regeln bleiben, durfte nie den Glauben an sie – und ihn – verlieren. Das gebot schon die Nächstenliebe, dachte er etwas zufrieden; ohnehin, was geschehen war lag in der Vergangenheit, es gab keinen Grund, sie damit zu behelligen.
Aber er konnte, er musste etwas anderes tun.
Sorgsam sicherte er seine Entwürfe, damit sie nicht verloren gingen. Den Becher wusch er aus, stellte ihn vorsichtiger als sonst an dem ihm bestimmten Platz.
Dann griff er zum Telefon, wählte eine ihm wohlbekannte Nummer. Nannte den Namen eines Hotels vor der Stadt, eine Uhrzeit.
Er musste einen Schlußstrich ziehen unter diese ‚Angelegenheit‘, wenn es auch nur ein symbolischer sein würde. Das würde ihn reinwaschen.
Doch sie würde nicht einfach so mit ihm reden wollen, natürlich nicht. Seine Hände griffen nach dem Inhalt seiner ordentlich sortierten Schreibtischschublade, zogen ein Bündel glatter, gebügelter Geldscheine heraus, steckten sie ein.
So etwas würde ihm nie wieder geschehen, versicherte er dem warnenden Tonfall seiner eigenen Gedanken, und auch deshalb würde er heute Nacht einen Schlußstrich ziehen.
Er nahm seinen Mantel, verließ das Büro und fuhr los.
Das der Schatten einer alten Frau zwischen den Bäumen der Allee beobachtete, wie er in den Wagen stieg, entging ihm.

Gegen 08:30 Uhr erwachte er in einem Hotelzimmer, die Augen auf die Zeiger des Weckers gerichtet, neben ihm eine junge Frau. Ohne zu zögern zog er sich an, verbat sich dabei jeden Gedanken an die letzte Nacht und an sein Versagen, legte einige abgezählte Scheine auf den Nachttisch und verließ das Hotel, ohne die schlafende Person noch eines Blickes zu würdigen.

Richtungswechel (2)

Diesen Artikel drucken 31. März 2006

Der Tisch leerte sich, ein Automatismus. Fast ein Automat, der ihn abräumte, in einer präzisen Reihenfolge und ihr dabei Zeit ließ, Zeit zum Nachdenken, vielleicht sogar ein wenig zu viel Zeit.
Sie musste noch Milch kaufen, das hatte sie sich sofort auf einen der gelben Zettel geschrieben, die er ihr gekauft und auf die Kommode gelegt hatte, sie musste daran denken, er sollte sich nicht aufregen, die Unerbittlichkeit in seinen Augen kam ihr wieder in den Sinn, er sollte sich nicht aufregen.
Früher war er einmal ganz anders gewesen, nicht so pedantisch, nicht so organisiert, sie erinnerte sich an eine Reise in den Süden, viele Jahre waren seitdem vergangen, damals war er noch nicht so ‚präzise‘ gewesen, wie er es immer ausdrückte, mit ein wenig Abscheu in seiner monotonen Stimme, damals hatte er diesen Tonfall noch nicht besessen.
Der letzte Teller verschwand wieder im Schrank, dann blickte sie stumm die weißen Wände an, wie sie es häufig tat. Vor diesen vielen Jahren hatten sie auch noch nicht so gewohnt, so funktionell, so karg, sie hasste diese weißen Wände, ein abwesendes Lächeln rann über ihr Gesicht, ihre erste gemeinsame Wohnung war bunt gewesen, kitschig und ganz bunt, sie hatte die Einrichtung gewählt, und sie beide hatten dort einige Jahre gelebt, glücklich in dem kleinen Rahmen, den sich die meisten Menschen wünschten, oft hatten sie auch Freunde eingeladen, sie lächelte wieder und blickte durch das Grinsen an den Wänden hindurch.
Das war lange her, und er hatte sich verändert, viele Menschen hatten nicht verstanden, warum sie noch zu ihm hielt, hatten sie damit geradezu bedrängt.
Menschen veränderten sich nun einmal, hatte sie immer darauf erwidert, er bliebe immer noch ihr Mann, das war ihre Antwort gewesen, sie betrachtete das heute weder mit Stolz noch mit Reue, es war nun einmal die richtige Antwort gewesen, sie würde zu ihm halten, er war ihr Mann.
Viele hatten sich mit der Zeit von ihr abgewandt, hatten ihn als Tyrannen erlebt, wie er nach und nach alles Bunte und ‚Unfunktionelle‘ aus ihrem Leben verbannt hatte, wie er immer wortkarger und introvertierter wurde und schließlich kaum noch ein Wort sprach.
Die meisten waren irgendwann einfach nicht mehr hierhergekommen, sie konnte und wollte das nicht ändern, er war ein Teil von ihr und wenn sie ihn nicht akzeptierten, so konnte sie wohl kaum mit gutem Gewissen regen Kontakt mit ihnen pflegen.
Sie wischte bedächtig den Tisch, sah aus dem Fenster, sah zwei ihrer Nachbarn, deren Namen sie nicht kannte, sie unterhielten sich auf der Straße.
So war ihr Freundeskreis kleiner geworden, bald fast verschwunden, einsam geworden war es in diesem Haus, selbst das Kindergeschrei aus dem Nachbarhaus erschein ihr oft mehr als ein willkommener Besuch, sie saß dann oft allein auf der perfekt gemauerten Terasse und lauschte, stellte sich die Kinder vor, deren Stimmen sie jeden Tag hörte.
Doch auch das konnte das Alleinsein nicht aufwiegen, denn oft saß sie die ganze Nacht allein in diesem Haus, aß allein zu Abend, trank allein ein Glas Wein, ging allein ins Bett, meist arbeitete er sehr lang und manchmal kam er erst zum Frühstück wieder nach Hause.
Auch darüber hatten sie früher oft gestritten, über die langen Nächte im Büro, auch über das, was er seine ‚rationale Erwägungen‘ nannte. Und natürlich hatten all die Menschen um sie herum Recht gehabt, er war oft ein Tyrann, doch sie war gewillt, das zu ertragen und zu verstehen, so weit sie konnte.
Vielleicht war es ja wirklich eine Krankheit, die ihn befallen hatte, die Vorstellung gefiel ihr, er konnte nichts dafür, sie legte das Tuch beiseite und griff nach ihrem Mantel, aus irgendeinem Grund suchte er verzweifelt nach einer gewissen Ordnung in der Welt, seiner Ordnung, ganz so wie ein Ertrinkender nach jedem Grashalm griff, es waren die kleinen alltäglichen Rituale, diese beständigen Regeln und auch die kleinen gelben Zettel, die seine Strohhalme bildeten, die ihm halfen den Überblick zu behalten und nicht zu verzweifeln, so stellte sie es sich oft vor.
Sie griff nach den Zetteln auf der Kommode, schob sie in die Jackentasche, dann ging sie auch zum Sekretär, wo er die ’notwendigen Besorgungen‘ ablegte, steckte auch diesen Stapel ein.
Ganz unabhängig von dem, was die anderen Leute sagten, er blieb ihr Mann, mehr als das, sie verweilte einige Sekunden bei einem Porträt ihrer Hochzeit, das er duldete, er war immer noch der, der er damals gewesen war, nur die Details hatten sich geändert, aber Menschen änderten sich nun mal, sie aber sah immer noch den Menschen, den sie vor langer Zeit heiraten wollte, ‚bis das der Tod uns scheidet‚, er blieb ihr Mann.
Sie öffnete die Haustür, schloss sie wieder hinter sich, ging langsam auf die Steinfiguren auf dem Rasen vor dem Auto zu. Es waren die einzigen, die er hier erlaubte, ausgerechnet diese, sie mochte sie ganz und gar nicht, ihr Ausdruck war grotesk und entstellt, sie wusste nicht genau, warum er sie mochte, vielleicht hielt er sie nur für ’notwendig‘ an diesem Platz. Ein befreundeter Künstler hatte sie ihnen irgendwann einmal geschenkt, zu einem Geburtstag oder Hochzeitstag, es war schon lange her, sie erinnerte sich kaum noch an seinen Namen. Sie kniete vor den Steinkreaturen nieder, sah sich kurz um und drehte sie dann ein wenig zur Seite, nur ganz sachte, sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, und wenn er wiederkam und sie selbst vom Fenster aus sah, wie er sie behutsam wieder in ihre Ausgangsposition drehte, schämte sie sich jedes Mal fürchterlich, dennoch tat sie es immer wieder, bevor sie zum Einkaufen fuhr, es war eine Art Sabotage an ihm und seinen Gewohnheiten.
Kühl lächelnd betrachtete sie ihr Werk und stieg dann in den schweren Wagen, warf den Stapel achtlos auf den Sitz neben sich.
Einer der Zettel war nicht gelb, bemerkte sie. Ihre Hand griff danach, sie las, rotes Papier. Der Namen eines Hotels stand darauf, eine Rechnung.
Einige Minuten saß sie starr im Auto, der Motor lief schon. Dann setzte sie zurück und fuhr in die falsche Richtung davon.

„Jede menschlicheVollkommenheit ist einem Fehler verwandt, in welchen überzugehn sie droht.“ – Arthur Schopenhauer, Zur Ethik

Master/Slave (1)

Diesen Artikel drucken 24. September 2005

Der Frühstückstisch war gedeckt, präzise, akkurat, scheinbar mühelos in Perfektion zusammengestellter Chromglanz, dazwischen weiße Porzellanteller, poliert, das Licht müde spiegelnd. Ein hoher Raum, identitätslos, nur ein stilles weißes Grinsen an den Wänden, eine nichtssagende Kücheneinrichtigung, leer, sauber. Er saß auf seinem Stuhl, sie auf ihrem, es war 9:03 Uhr, das wusste er genau, denn er schlug gerade sein Ei auf, schlug immer sein Ei auf um 9:03 Uhr.
Die Zeitung lag auf dem Tisch, sauber gefalzt, die Titelseite nach oben, die Schrift zu ihm gerichtet, drei Zentimeter von dem dunkel eingefassten Rand der Tischplatte entfernt. Er nahm einen Bissen von seinem Ei. Erst essen, dann lesen, beides zugleich konnte er nicht..
Kleine, glänzende Löffel, Messer, die über das Porzellan rasen, ein stummer Tanz von Händen, die Buchstaben in die Luft zeichnen, eine technische, scharfkantige Schrift.
Kein Wort wurde gesprochen, es war auch nicht nötig, dachte er, es war nicht notwendig, dies hier war der Frühstückstisch, es gab keinen Grund, keine rationalen Erfordernisse, wie er gerne sagte, es keinerlei Grund dazu, hier zu sprechen, er blickte in das ausdruckslose Gesicht ihm gegenüber und erkannte sich selbst, nein, es gab keinen Grund, es war perfekt so, die Funktionalität war perfekt, perfekt.
Er blickte auf die Uhr, orientierte sich an den schleichenden Zeigern, es war Zeit für das Brötchen, er führte das Messer mit einer langsamen, geschmeidigen Bewegung, die Augen fest an die Schnittlinie geheftet. Bissen um Bissen aß er, nicht hektisch, aber auch nicht langsam, er hasste diese Art von Trägheit, die manche Menschen beim Essen an den Tag legten, dieses scheinbare Lebensgefühl, dieses Genießen, hinter der sich eine simple Charakterschwäche verbarg, er dachte kurz an einen Schulfreund, an den er sich noch blaß erinnerte, ein Gesicht unter vielen, die schon gegangen waren, während er zurückgeblieben war, ja, er war so ein Mensch gewesen, müde und träge und unendlich genießerisch. Er hatte immer gelacht und gescherzt und gesprochen beim Essen, immerzu, furchtbar, er sah nicht den Sinn dahinter, es war sinnlos, irrational, es gab nun einmal die Zeit des Amüsierens und die Zeit der Nahrungsaufnahme, es war unlogisch beides zu vermischen, warum sollte man auch, es war kindisch.
Die Frau und er, sie hatten nie Kinder gehabt. Vielleicht hatte sie Kinder gewollt, er wusste es nicht genau, sie hatten nie darüber gesprochen. Er selbst es nie gewollt, Kinder machten ihn unsicher, sie waren unberechenbar, stellte er lakonisch fest, sie wussten nichts von Strukturen und Regeln, auch wenn er nicht daran zweifelte, dass er ein guter Vater gewesen wäre.
Er besann sich zurück auf den Teller vor sich und griff zu dem Behälter, der immer rechts in der Mitte des Tisches stand, mit Kanten, die parallel zu denen des Tisches verliefen.
Er war zu leicht, er sah kurz hinein, leer.
Die Frau sah zu und ließ für einen kurzen Augenblick das Messer in ihrer Hand nach unten kippen, so dass die Schneide fast den Tisch berührte, er befürchtete schon, sie würde das makellose Schwarz des Tisches verunreinigen, dann schien sie sich daran zu erinnern und hob die Klinge in einer steifen Bewegung wieder an, sie hatte wohl wieder diese Schmerzen im Handgelenk, dachte er und sah sie argwöhnisch an.
„Wir haben keine Milch mehr. Ich muss heute einkaufen.“ sagte sie in einem lakonischen Tonfall, ein leichte Vibration schwang darin mit, wie ein Lüfter, der nicht ganz rund lief, es musste ihr Handgelenk sein, schloß er, ja, das war logisch, deshalb war sie so unkonzentriert gewesen, er blickte sie noch einen Augenblick an, dann ließ er das Mißfallen wieder aus seinen Augen weichen und ersetzte es durch die gestrenge Milde, die er zu oft besaß.
„Dann werde ich den Kaffee wohl ohne Milch trinken müssen.“ gab er zurück, kopierte ihren Tonfall und strich nur die Vibrationen heraus, aß weiter, trank den Kaffee mit vorsichtigen, kleinen Schlücken, es war keine Milch darin, nun, das war zu verzeihen, entschied er, trank aus.
Seine Fingerspitzen hoben das Besteck, loteten in einem streng eingeübten Augenblick den korrekten Winkel, die korrekte Lage aus, und legten es dann ab, er war zufrieden damit.
Er zog die Zeitung heran, schlug sie vorsichtig auf.
Die Frau, die ihr Frühstück ebenfalls beendet hatte, saß ihm kerzengerade gegenüber, beobachtete ihn träge, wartete auf das Unvermeidliche.
Seine Lippen bewegten sich, er las einige Titelzeilen vor, modulierte seine Stimme dabei, um dem ganzen einen für sie adäquaten Ausdruck zu geben, zog eine Spur Ärger mit hinein, wenn der Titel „Politiker flog auf Staatskosten“ lautete, eine Spur Witz, wenn sie „Igel zerstört Müllfabrik“ lautete. Dann endete sein Vortrag in Schweigen, er hatte seine Schuldigkeit erfüllt, konnte stumm weiterlesen.
Sie stand auf, nahm seinen Teller und ihren, legte beides in der Spüle ab.
Einen Moment lang sah er ihr hinterher, glaubte ein kurzes Zögern zu erkennen in ihren Bewegungen. Die Frau war alt geworden, entschied er in einer kühlen, distanzierten Überlegung, aber das war folgenlos für ihn, sie lebten schon lange zusammen, und wenn er von der fehlenden Milch heute morgen absah, so war sie immer noch eine gute Ehefrau.
Die Güte, die er so oft zu spüren glaubte, stieg wieder in ihm hoch, ja, es war auch Güte, dass er bei ihr blieb, sie war auf ihn angewiesen, an ihn gebunden, konnte nicht allein leben. Das war es, sie war allein lebensunfähig, brauchte Anleitung, Führung in dieser chaotischen Welt, brauchte Regeln und Strukturen, ja Regeln und Strukturen, ein guter Ausdruck, befand er, er erinnerte ihn an seinen Beruf.
Die Frau hatte ihre Aufgabe fast beendet, die Teller standen wieder steril an ihrem Platz, sie drehte sich um, noch einen der Löffel in der Hand, sah ihn unsicher an. Lächelte.
Er blickte zurück, neutral. Ihre Aufgabe war nicht erfüllt.
Sie drehte sich wieder um, und kurz schien es ihm, sie wollte das Besteck in die Spüle werfen, und er erschrak von dem Gedanken. Nein, er täuschte sich, musste sich täuschen, sie legte auch den letzten Löffel an seinen Platz.
Dennoch, er sah sie weiter an, verfolgte ihre Bewegungen.
Früher, vor vielen Jahren, da war sie schön gewesen, sehr schön sogar. Er dachte daran, wie unpräzise, wie unaufgeräumt ihr Leben damals noch war, und er schüttelte sich innerlich. Dennoch, damals war sie schön gewesen, er korrigierte sich, vielleicht objektiv nicht überdurchschnittlich schön, aber doch attraktiv. Das war lange Zeit her, erinnerte er sich, und nun hatte sie keinen Reiz mehr für ihn. Er hatte sich das schon lange eingestanden, es stellte kein Problem für ihn dar, sagte er sich immer wieder, es berührte ihn nicht weiter, die tägliche Routine funktionierte, und außerdem brauchte sie ihn.
Die Frau kam wieder in den Raum, Jacke und Hut im Arm.
Er faltete die Zeitung, trank seinen Kaffee aus, der ihn immer noch bitter an ihre Fehlbarkeit erinnerte, stand auf. Für einen Moment ließ er seine Gedanken schweifen, sah die Frau an. Sah plötzlich andere Augen, gift-grün, makellose Haut, junge Lippen, die leise Worte ausstießen, Flüche jetzt in seinen Ohren. Sein Verstand fing den Gedanken wieder ein, löschte ihn aus.
Es war nicht seine Schuld, sagte er sich, was geschehen war, war geschehen, er konnte es nicht mehr ändern.
Die Jacke wurde ihm übergeben, er blickte in die Augen der Frau und fühlte keine Verantwortung.
Die andere Frau hatte ihn manipuliert, er hatte beschlossen es so zu nennen, immer wieder und wieder manipuliert, dafür konnte er nicht verantwortlich gemacht werden und seine eigene Fehlbarkeit war zu verzeihen, es würde nicht wieder geschehen.
„Bis heute Abend.“, sagte er in einem genauestens austarierten Tonfall, tausendfach geübt.
„Bis heute Abend.“, gab sie zurück, wollte ihn küssen, aber er hatte sich schon umgedreht.
Die Frau blieb in dem Raum, wartete, bis die Tür sich hinter ihm schloß. Schritt zum Tisch, legte die Händen um den leeren Behälter, ließ ihn auf dem Tisch.
Und drehte ihn um einige Grad.

„Schlimm ist der Zwang, doch es gibt keinen Zwang, unter Zwang zu leben.“ – Epikur

post scriptum: Beginn einer neuen, fortlaufenden Erzählung, angelegt auf etwa vier Teile (bisher).