Ein Leben

Diesen Artikel drucken 11. Juni 2009

Heute werde ich 82 Jahre alt.
Meine vier Kinder haben schon angerufen, und ich habe eine Rose auf den Friedhof gebracht. Am Abend kommen meine beiden Jüngsten zu Besuch, sie wollen etwas für mich kochen. Vater, du brauchst nichts für uns herzurichten, das ist nichts mehr für dich, wir machen das schon, das haben sie mir am Telefon gesagt, und das stimmt wohl. Ich sehe sehr schlecht, und meine Hüfte lässt mich nur noch selten in Ruhe. Das Laufen ist schwer, und einige Male musste ich schon meinen Sohn anrufen, weil ich nicht aus dem Bett kam.
Dabei bin ich zufrieden: ich weiß, dass ich wohl nicht mehr lange leben werde, aber so ist nun einmal die Natur. Ich hatte doch alles, sage ich manchmal zu den Kindern. Ich hatte doch alles, ich habe ein paar gute Kinder, ich durfte eine wundervolle Frau lieben, mein Beruf hat mir manchmal Freude bereitet, und Schmerzen habe ich auch keine.
Einmal entgegnete Nikola darauf, dass mein Leben schon schwer gewesen sein: mit dem Krieg und der schwierigen Zeit danach und dem toten Sohn.
Ich glaube, ich verstehe, warum sie so denkt: aber ich würde mich nie über all die Dinge beschweren, die geschehen sind. Dabei bin ich nicht besonders duldsam, mitnichten. Und doch erscheint mir alles, alles, was nach dem Krieg geschehen ist, als erduldbar. Der Anfang nach dem Krieg war schlimm, manchmal wusste ich nicht, woher ich das Brot für die Kinder nehmen sollte: Wir besaßen oft nicht viel und immer gab es mehr zu tun, als Zeit da war. Einen Sohn musste ich zu Grabe tragen: meine Frau beerdigen. Und doch erschien mir  jeder Tag wie ein Segen. Natürlich war ich nicht immer glücklich. Das Leben hält für jeden den ein oder anderen Schicksalsschlag bereit, ohne dass man etwas dagegen tun könnte; Es gab sicher Zeiten, in denen ich trauerte.
Aber niemals, nie habe ich das Schicksal dafür verflucht oder mit meinem gehadert. Vielleicht sollte ich sogar für den Krieg dankbar sein, den ich miterlebte: Manchmal ruft eins meiner Kinder an, und dann erzählen sie mir von den Widrigkeiten, von den kleinen Problemen des Alltags. Meist sage ich nichts dazu, aber manchmal kann ich nicht anders. Die Anja ist also schlecht in der Schule, antwortete ich etwa einmal, ist sie denn gesund? Ja, sie ist gesund. Und seid ihr denn gesund? Ja, sie sind gesund.
Ich versuche immer, solche Gespräche zu vermeiden. Meine Kinder und erst recht meine Enkel können nicht wirklich verstehen, was ich damit meine. Für sie ist es eben erschütternd, wenn das Kind mit zwei Sechsern nach Hause kommt, für mich aber ist es ein Umstand, nur ein Umstand und keine Katastrophe.
Selbstredend würde ich meinen Kindern auch nicht wünschen, es zu verstehen. Denn dazu müsste es wieder so werden, wie es in meiner Jugend war, und das kann kein Mensch wollen, der es einmal erlebt hat. Es wäre vielleicht schön, wenn sie das ganz normale Leben als so befriedigend empfinden könnten wie ich, aber der Preis dafür wäre zu hoch.
Sie hören es nicht gerne, weil ich wohl oft davon erzähle (zu oft, ihrer Meinung nach), aber ich wurde 42 eingezogen, im September. Die zwei Jahre, in denen ich Soldat war, sind in meiner Erinnerung ebenso klar wie meine Kindheit. Ich denke oft daran, dass geht wohl vielen aus dieser Zeit so.
Wie viele andere habe ich das Elend gesehen und den Tod. Das Kämpfen und Sterben in Kälte, Dreck und Ausweglosigkeit. Ich habe auch gesehen, was von den Menschen bleibt, wenn man ihnen alles nimmt: Die Gesundheit, die Kleidung, die Erinnerung, den Verstand. Ich habe gesehen, dass sie selbst dann Mensch bleiben, wenn sie kaum noch mehr sind als ein wimmerndes Häuflein Schmutz und Fleisch: dass im Kern dessen, was wir einen Mensch nennen, nicht mehr ist als die Gnade der anderen. In den Jahren 42 und 43 musste ich oft erleben, wie man diesen Kern auslöschte: man konnte ihn nicht erschießen, man konnte ihn nicht in die Luft jagen. Es reichte, ihn zu vergessen.
Als ich schließlich heimkehrte, da ging es mir nicht anders als den meisten. Ich wollte endlich leben, eine Familie gründen, einfach nur leben. Doch ich habe es nie vergessen, und vielleicht scheint mir deshalb alles so leicht, was nach dem Krieg kam: meine Frau starb nach langer Krankheit, und auch der Unfall meines Sohnes führte mir den Tod wieder vor Augen. Aber nie wieder sah ich, wie dieser Kern, dieses etwas, das alles zusammenhalten muss, verschwand, und diesen Segen können wohl nicht alle Menschen verstehen: meine Kindern nennen es wohl manchmal hinter vorgehaltener Hand ein ‚Trauma‘. Ich nenne es Demut.

Eindrücke

Diesen Artikel drucken 5. Mai 2009

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.