Eindrücke Diesen Artikel drucken

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.

3 Antworten zu “Eindrücke”

  1. käthe friedrich sagt:

    gute geschichte. von der seite habe ich die letzten satze noch nicht betrachtet.deswegen kann er mich auch manchmal täuschen,oder? käthe

  2. Tien sagt:

    Menschliche Abhängigkeitssysteme sind meistens unausbalanciert. An ein Versprechen wie in deinem Text geschildert kann ich nicht glauben, kann nicht einmal an die Konsistenz selbstauferlegter Versprechen glauben. Morgen oder Heute, ich weiß es nicht, will es vielleicht auch nicht wissen, spielt keinen Unterschied. Nicht in dem Moment wo es sich scheidet.

    Für die Texte, die ich von dir kenne, eine erstaunlich positive Tonation.

  3. Hallo Tien,

    das Versprechen ist ja keins, es ist erst einmal nur der Eindruck eines Versprechens, so etwas wie eine Vision oder ein Bild. Eine gerade Linie, die im Unendlichen verschwindet und die man für einen Moment klar sieht, ohne dass man sagen könnte, so etwas sei wirklich oder möglich.

    Und positiv… na ja, ich weiß nicht. Bei dir klingt das regelrecht nach Kritik, wenn es mal nicht (ganz so) negativ ist 😉

    @kaethe: Der Eindruck kann täuschen, ja. Wenn man ihn mit dem vergleicht, was die Wirklichkeit hergibt. Aber der Eindruck als Eindruck kann nicht täuschen. Manchmal schmeckt man ja auch Zimt, ohne Zimt gegessen zu haben – dann täuscht einen der Eindruck insofern, als dass er vorgaukelt, man habe Zimt gegessen. Nichtsdestotrotz bleibt es wahr, dass man Zimt schmeckt. Oder?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert