Der Wunsch

Diesen Artikel drucken 12. Januar 2009

Er ist selten deutlich, eigentlich fast nie, und wenn, dann schreien andere Gedanken und Vorstellungen in seinem Kopf so laut auf, dass er ihn nicht hören kann. Dennoch weiß er sicher, dass er ihn hat, denn zu einem gewissen Teil ist er es, der über dieses Aufkreischen befiehlt. Er braucht diesen Wunsch, aber zu groß und zu schwer darf er ihm auch nicht werden, das ist ihm klar; es ist ein diffizil zu haltendes Gleichgewicht, das ihn und den Wunsch am Fallen hindert, und er hält es, obwohl er sich gar nicht sicher sein kann, ob er den Sturz denn grausamer finden soll als das leere Bett, auf das er jeden Morgen starrt, als den erbarmungslosen Sonnenaufgang, an dem er auf dem Weg zur Arbeit vorbeifährt.

Der Wunsch Aber natürlich gibt es immer auch andere Wünsche und Antriebe, und so hält er eben die Balance, die zwischen dem Hunger (jeder Art von Hunger) und dem Wunsch, die zwischen dem Durst (jeder Art von Durst) und dem Wunsch und so weiter und so fort, so dass er am Ende stets ein wenig von dem Wunsch hat, ohne dass es ihn hinabreißt. Natürlich aber droht das immer; so ist es nun einmal, wenn man balanciert, es bräuchte nur einen kleinen Stoß, einen winzigen Ruck, um alles zunichte zu machen, und jeder, der schon einmal lange genug auf einem Bein stand weiß, dass man sich diesen Stoß irgendwann selbst geben möchte: Die Balance ist nicht nur schwer zu halten, sie ist auch schwer auszuhalten. Vielleicht möchte man sie vernichten, nur damit die Stasis aufhört, damit etwas, nur irgendetwas geschieht; Er weiß nicht, warum dem so ist. Vielleicht ist es eine Art von Destruktivität, die in jedem schlummert, vielleicht auch nur eine Art Spieltrieb. Er jedenfalls erwischt sich manchmal dabei, wie er sich selbst heimlich einen Stoß gibt.
Niemand weiß besser als er, wann der Wunsch am stärksten ist, und wie jeder gute Verschwörer hat er gelernt, unauffällig zu planen und subtil einzugreifen.
So kann es sein, dass er abends ganz beiläufig die Heizung im Bad abstellt, bevor er zu Bett geht. Er sagt sich dann, es sei zu warm oder es koste zu viel Energie.
Wenn er dann am Morgen nackt in der Eiseskälte auf tauben Füßen zittert, dann weiß er natürlich, was er getan hat und eigentlich auch, warum, und er ärgert sich furchtbar darüber, obwohl er weiß, dass er es wieder tun wird. Die frühen Stunden belasten ihn ohnehin schon, und nichts beflügelt den Wunsch mehr als diese feuchte Kälte, die die Füße hinaufkriecht, den Bauch erreicht und schließlich den Kopf befällt.
Das ist sicher nicht die einzige Art von Stoß, die er sich gibt; manchmal denkt er auch daran, das Gleichgewicht ganz zu kippen. Diesem Wunsch kann er nicht nachgeben, das weiß er, aber es gibt andere, vielleicht solche, die man gegen den originären austauschen könnte. Manchmal etwa stellt er eine Flasche aus dem Spiritousenschrank auf den Frühstückstisch und sieht sie fest an; er trinkt nie daraus, zumindest hat er es bisher nicht getan. Es ist nicht so, dass er es nicht wollen würde: er wagt es nur noch nicht. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er seinem Wunsch nachgibt oder diesem anderen. Er weiß das, aber es macht ihm nichts aus. Vielleicht gibt es nichts Schlimmeres auf der Welt, als ewig ein Gleichgewicht zu halten.

Die Schneiderin

Diesen Artikel drucken 23. September 2008

Am liebsten mag sie die weiten, geraden Schnitte durch den Stoff. Man darf sie nur machen, wenn man gerade ein neues Kleidungsstück beginnt, und natürlich darf sie auch nicht beliebig schneiden; im Gegenteil, manchmal schlägt der Aufseher sie schon, wenn sie den Stoff nicht ganz gerade und sauber auftrennt. Aber dennoch, diese weiten, offenen Schnitte erregen sie auf eine seltsame Weise, sie hat selten Zeit, darüber zu nachzudenken, und so genießt sie es meist einfach nur. Aber manchmal weiß sie, was der Grund ist; dann sieht sie auf den blauen oder roten Stoff, blickt genau auf die Schere und auf den Riss, der sich schnurgerade voranbewegt – links ein Stück Stoff, rechts das andere. Sie denkt daran, dass diese Trennung endgültig ist; die linke und die rechte Seite, über die sie mit ihrer Schere befohlen hat, werden sich wahrscheinlich nie wieder begegnen. An einen Mann und an eine Frau denkt sie in solchen Momenten, die irgendwo in der von ihr genähten Kleidung umherlaufen, umherirren und sich nicht finden, weil sie diesen Schnitt so und nicht anders gemacht hat, zwei, die sich nie kennen und niemals lieben dürfen, weil sie es so entschieden hat und kein anderer. In der billigen Spiegelung der feinen Schere sieht sie dann ihren eigenen, grausamen Blick, und manchmal mag sie davon erschrocken sein, wenn auch nicht oft. Einmal hat sie sogar absichtlich einen unnötigen, einen falschen Schnitt gemacht, um sich selbst wieder so sehen zu können. Natürlich entdeckte der Aufseher es und schlug ihr wütend ins Gesicht. Schlimmer als dies aber war das Gefühl, dass sie danach beschlich. Dass nämlich ihre Fantasie zumindest dieses eine Mal wahr geworden sein könnte, dass sie schon deshalb zur Wirklichkeit geworden sein musste, weil sie diese Schläge in Kauf genommen hatte, nur um das Grausame in der Schere zu erkennen. Vielleicht hätte sie dieses Gefühl nicht gehabt, wenn sie nicht so gottesfürchtig wäre, wer weiß das schon; jedenfalls dachte sie danach oft auch nach der Arbeit an diesen Mann und die Frau, wenn sie auf ihrer Pritsche lag und nicht schlafen konnte. Sie träumte sogar von ihnen; es war nicht immer Albträume, aber meist. Sie sah die beiden Menschen, die sie so verflucht hatte. Sie sah die beiden in kalten, hohen Räumen, die so luxuriös waren, wie sie selbst es nur aus dem Fernsehen kannte, und immer waren sie allein; sie saßen in den Ecken ihrer Schlafzimmer, ihrer Wohnzimmer, ihrer unglaublich großen Bäder und weinten. Sie wussten nicht, dass sie aneinander fehlten, und so ahnten sie auch nicht, warum sie sich so einsam fühlten; der Schnitt der Scheren hatte nicht durch Stoff durchtrennt, sondern auch zwei Leben.
Es quälte die Schneiderin lange Zeit, und sie betete oft zu ihrem Herren, er möge ihr vergeben; Bitte, Herr, nimm von ihnen, was ich ihnen angetan habe, flüsterte sie in die schmutzigen Laken, immer wieder. Es half nichts, es kam keine Antwort. Aber zumindest schmerzte sie der böse Wunsch nach einigen Monaten nicht mehr so sehr; schließlich verfiel sie auf einen anderen Gedanken, der ihr schließlich die Ruhe zurückgab. Dieser kam ihr nicht in Traum, auch nicht als spirituelle Eingebung, nein, die Lösung fiel ihr ein, als sie einmal an ihren toten Mann dachte und an die zwei kleinen Kinder, die sie weggegeben hatte. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis sie genug Geld gespart hatte, aber dann konnte sie dem Aufseher mit viel Zureden eine der Hosen abringen, die sie hergestellt hatte; sie suchte sich eine aus, deren Saum schief war. Sie ist jetzt schon etwas zerschlissen, weil sie sie jeden Tag unter den anderen Sachen trägt, aber das stört sie kaum. Die Hosen näht sie immer noch, und bei jedem weiten Schnitt lächelt sie grausam, auch wenn sie es manchmal nicht sehen möchte.


PS: Ich habe mal links eine Tagcloud realisiert. Die vergebenen Tags – bisher sind es nur wenige – stehen aber nicht unter jedem Text. Der Grund dafür ist, dass so eine Anzeige sehr leicht zum ‚Spoiler‘ werden kann, gerade bei Texten, deren Pointe etwas verwinkelt ist. Ich werde mich darum kümmern, dass man die entsprechend zugewiesenen Text nur per Mausklick sieht, aber das kann noch etwas dauern.

edit: Nun habe ich zumindest die aktuellsten Texte mal mit Tags versehen. Ich werde dieses Feature beibehalten, wenn es sich bewährt. Kommentare dazu sind erwünscht 🙂

5 Uhr 55

Diesen Artikel drucken 11. März 2008

Wie sie da sitzen, die Augen noch schlaftrunken, der Blick nach innen gerichtet, vielleicht auch ins Nichts. Wenn das übersteuerte Knistern der Lautsprecher die hohle Frauenstimme zu schaurigem Halbleben erweckt, schrecken sie manchmal hoch, ist das ihre Haltestelle, sind sie schon am Ziel?

Die anthrazit- und beigefarbenen Wände der Großraumabteile sind nicht das Ziel, nicht das Ende, aber auch nicht der Anfang. Dieser Ort ist ein Dazwischen, zumindest kann man das hoffen. Wer den Glauben daran verspielt hat, dem bleibt nur das unverständliche Murmeln des Discmans oder MP3-Players, stets konterkariert von den Betriebsgeräuschen des Zuges, dem Rattern der Räder, dem Heulen des Motors.

Manche der Wartenden tragen schon Zollstöcke oder Werkzeuge an der stets praktischen und unverzichtbaren Arbeitskleidung, andere tragen Krawatten, viele sicher – unsichtbar – einen Flachmann in den abgewetzten oder nagelneuen Hosen. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit, eine gewisse Einförmigkeit unter den Fahrgästen um diese Uhrzeit. Hinter dem Spiel der Oberflächen, des Äußeren, besteht eine fast greifbare Verwandtschaft; hier werden keine Klassenkämpfe geführt, keine beruflichen Animositäten ausgetragen, noch nicht. Steigen sie aus, so wird sich der Malerlehrling wieder am gestylten Äußeren des Bankangestellten stören und umgekehrt, doch noch ist es nicht so weit, noch sind die Unterschiede im Grau des Kunstlichts unkenntlich.

Es ist das Halogenlicht eines Terrariums, eines Käfigs. Die blauen Sitzpolster macht es blau-grau, die Warnstreifen vor den Stufen; gelb-grau. Selbst der Mond, der langsam von der Dämmerung verschluckt wird, degeneriert unter dem grauen Schleier auf den Scheiben zu der Abwesenheit von etwas. Es ist das modernere, das verbesserte Licht; es ist funktioneller als das alte, könnten Ingenieure erklären, deshalb haben sie es abgeschafft.

Und so erscheinen auch die Gesichter hier grauer als sonst, unter der künstlichen Beleuchtung verschwinden die individuellen Merkmale, und auch das mag so etwas wie Konformität schaffen, Konformität durch Funktionalität. Es sind praktische, weil leere Oberflächen, die hier ausdruckslos starren oder die Augen möglichst lange geschlossen halten, anonym wie Konservendosen.

Doch diese Dosen träumen, manchen sieht man es an; sie träumen davon, dass einzig ihrem Gesicht, nur ihnen etwas Individuelles geblieben ist, dass Halogenlicht Unikaten nichts anhaben kann. Es bleibt ein unerfüllter Traum, eine Wunsch ohne Chance auf Verwirklichung, der nur durch die Abwesenheit von Spiegeln am Leben erhalten wird. Auch dies werden Ingenieure so geplant haben; selbst die Scheiben sind antireflex-beschichtet, vielleicht, um diesen Traum aufrechtzuerhalten; auch Ingenieure müssen mit Zügen zur Arbeit fahren.

Aber auch dieses Detail hat etwas Funktionelles. Wer von sich selbst oder einem Anderswo träumt, der wird nicht verrückt; auch begehrt er nicht auf. Das Trauma des Unterworfenseins ist verborgen, solange der innere Rückzug bleibt. Man denkt an zu Hause, an die Kinder; an Hobbies oder Geliebte. Die kleinen Ritzen, die das Innen dann noch mit dem Außen verbinden, Risse in der Isolierung, dichtet man ab. Die Augen geschlossen, die Ohren unter großen Kopfhörern verborgen; die Musik rieselt leise gegen die Fahrtgeräusche an, Dies ist kein Sklaventransport flüstert sie vielleicht von Zeit zu Zeit durch das Dröhnen der Maschine hindurch. Manchmal, wenn die Räder über eine Weiche rasen, ist das erste k kaum zu hören. In solchen Momenten bewegen sich die Menschen unruhig auf ihren Plätzen. Vielleicht sehen sie sich um, entdecken ihre Zelle neu. Sie fragen sich schlaftrunken, wohin die Reise geht; ins Nirgendwo, ins Nirgendwohin, denken sie vielleicht, dann dösen sie wieder.

Der Schalk im Nacken

Diesen Artikel drucken 20. November 2007

Er verfolgt dich, immerzu, und er wird lauter. Bald wirst du wahnsinnig sein; das wird geschehen, es geht nicht anders. Er ist stets bei dir, wie ein Schatten, du schaust die Nachrichten. Beckham kauft sich Schuhe für eine Million Dollar, in Darfur sterben schwarze Kinder, weil sie nichts zu trinken haben, HAHAHA!, HAHAHA!, da ist er schon, du wirst ihn nicht mehr los, HAHAHA!

Jeder Laut reißt ein Stück aus dir heraus, aus deinem Kopf, aus deinem Herz, aus deiner Seele, HAHAHA!, wieder ein Stück weniger. Der Antiterrorminister ist ein Terrorist, HAHAHA!, das Anschlagsopfer selbst ein Täter, HAHAHA! spuckt er dir ins Genick. Schweizer Schokolade finanziert afrikanische Bürgerkriege, HAHAHA!, nein – das ist doch wirklich zum Schießen, oder nicht, Schießen, HAHAHA! Man soll nicht verzweifeln, sagen Sie, und du verzweifelst ja auch nicht, nein, du verzweifelst zumindest nicht daran, dafür ist das Gelächter zu laut.

Du machst den Fernseher aus und verzweifelst nicht, das soll man ja auch nicht, oder. Aber eigentlich willst du nur dieses zynisches Gegacker in deinem Nacken loswerden, und für eine Weile ist es auch still. Du sitzt im Café und hörst die Leute reden, Hartz 4 ist ungerecht sagt der eine, zum Glück sind die Lebensmittel so billig, sagt der andere. HAHAHA!, da ist er schon wieder, HAHAHA!, diesmal muss er sich erklären. Woher kommen denn die ganzen Sozialkürzungen, woher kommen sie denn? Er prustet los. Du zahlst und gehst; die Einschläge kommen näher, du spürst es.

Irgendwann wirst du vor ihm stehen, mit geballten Fäusten. Das ist doch auch keine Lösung, wirst du ihn anbrüllen. Du weißt, was er antworten wird.

HAHAHA, du suchst noch nach einer L-Ö-S-U-N-G, HAHAHA!