Der Wunsch Diesen Artikel drucken

Er ist selten deutlich, eigentlich fast nie, und wenn, dann schreien andere Gedanken und Vorstellungen in seinem Kopf so laut auf, dass er ihn nicht hören kann. Dennoch weiß er sicher, dass er ihn hat, denn zu einem gewissen Teil ist er es, der über dieses Aufkreischen befiehlt. Er braucht diesen Wunsch, aber zu groß und zu schwer darf er ihm auch nicht werden, das ist ihm klar; es ist ein diffizil zu haltendes Gleichgewicht, das ihn und den Wunsch am Fallen hindert, und er hält es, obwohl er sich gar nicht sicher sein kann, ob er den Sturz denn grausamer finden soll als das leere Bett, auf das er jeden Morgen starrt, als den erbarmungslosen Sonnenaufgang, an dem er auf dem Weg zur Arbeit vorbeifährt.

Der Wunsch Aber natürlich gibt es immer auch andere Wünsche und Antriebe, und so hält er eben die Balance, die zwischen dem Hunger (jeder Art von Hunger) und dem Wunsch, die zwischen dem Durst (jeder Art von Durst) und dem Wunsch und so weiter und so fort, so dass er am Ende stets ein wenig von dem Wunsch hat, ohne dass es ihn hinabreißt. Natürlich aber droht das immer; so ist es nun einmal, wenn man balanciert, es bräuchte nur einen kleinen Stoß, einen winzigen Ruck, um alles zunichte zu machen, und jeder, der schon einmal lange genug auf einem Bein stand weiß, dass man sich diesen Stoß irgendwann selbst geben möchte: Die Balance ist nicht nur schwer zu halten, sie ist auch schwer auszuhalten. Vielleicht möchte man sie vernichten, nur damit die Stasis aufhört, damit etwas, nur irgendetwas geschieht; Er weiß nicht, warum dem so ist. Vielleicht ist es eine Art von Destruktivität, die in jedem schlummert, vielleicht auch nur eine Art Spieltrieb. Er jedenfalls erwischt sich manchmal dabei, wie er sich selbst heimlich einen Stoß gibt.
Niemand weiß besser als er, wann der Wunsch am stärksten ist, und wie jeder gute Verschwörer hat er gelernt, unauffällig zu planen und subtil einzugreifen.
So kann es sein, dass er abends ganz beiläufig die Heizung im Bad abstellt, bevor er zu Bett geht. Er sagt sich dann, es sei zu warm oder es koste zu viel Energie.
Wenn er dann am Morgen nackt in der Eiseskälte auf tauben Füßen zittert, dann weiß er natürlich, was er getan hat und eigentlich auch, warum, und er ärgert sich furchtbar darüber, obwohl er weiß, dass er es wieder tun wird. Die frühen Stunden belasten ihn ohnehin schon, und nichts beflügelt den Wunsch mehr als diese feuchte Kälte, die die Füße hinaufkriecht, den Bauch erreicht und schließlich den Kopf befällt.
Das ist sicher nicht die einzige Art von Stoß, die er sich gibt; manchmal denkt er auch daran, das Gleichgewicht ganz zu kippen. Diesem Wunsch kann er nicht nachgeben, das weiß er, aber es gibt andere, vielleicht solche, die man gegen den originären austauschen könnte. Manchmal etwa stellt er eine Flasche aus dem Spiritousenschrank auf den Frühstückstisch und sieht sie fest an; er trinkt nie daraus, zumindest hat er es bisher nicht getan. Es ist nicht so, dass er es nicht wollen würde: er wagt es nur noch nicht. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er seinem Wunsch nachgibt oder diesem anderen. Er weiß das, aber es macht ihm nichts aus. Vielleicht gibt es nichts Schlimmeres auf der Welt, als ewig ein Gleichgewicht zu halten.

2 Antworten zu “Der Wunsch”

  1. Less Jess Ka sagt:

    Wie können die kleinen Kristalle so weich wirken? Vom Wind hin und hergeweht bildet sich eine sanfte Decke. Sie versteckt all die Ecken und Kanten. Sie gibt ihnen den Raum. Es ist nicht so, dass sie verhüllt und übertüncht. Behalte sie nur, die Ecken und Kanten. Trotzdem umhüllt sie dich in ihrer Umarmung. Behalte sie. Sie sind geschützt. Auf der Decke tanzen andere Schatten. Andere, nicht deine. Und doch keine unbedeutenden. Und doch haben sie etwas mit dir zu tun. Auch diese Schatten wirken sanft auf der Decke. Nicht nur nach unten umhüllt sie. Sie schafft auch Raum. Sie schafft Raum für den Schattentanz. Um die verschwimmenden Grenzen des Lichtspieles zu sehen muss die Oberfläche glatt sein.
    Dann macht es vielleicht auch gar nichts, dass dort am Horizont ein weißer Fleck ist. Dann ist es vielleicht alles nicht so schlimm. Und wenn er wächst und immer größer wird. dort schneidet jemand etwas heraus. Dort ist ein Loch im Papier. Dort wird die Welt leer.
    Was ist es, das da auf uns zukommt. Was passiert wenn sich die weißen Flammen durch den Schnee fressen?
    Es ist eine andere Art von Licht, diese weißen Flammen. Sie haben nichts gemeinsam mit dem verschwommenen gelblichen Spiel der Lichter. Sie sind es nicht, die den Baum auf den Boden malen. Sie sind es nicht.
    Noch nicht.

  2. Less Jess sagt:

    Zur Erklärung: Die Verbindung ist eher im Bild als im Text zu finden. Jedoch ist andererseits bei langem Betrachten noch mehr Zusammenhang zu erkennen, denke ich. Denn auch der Wunsch könnte sich in dem stets gegenwärtigen weißen und doch lichtlosen Fleck äußern, der sich langsam durchs Papier frisst. Vielleicht ist es eine Illusion das Gleichgewicht ewig halten zu können, denn irgendwann werden sich die weißen Flammen des Wunsches so weit durchgefressen haben, dass es nichts mehr gibt als den weißen, leeren Wunsch.
    Doch eine Weile scheint es zu klappen. Genauso wie es eine Weile klappt die Augen zu verschließen. Für eine Weile eben.

    Ich denke hiermit wäre ein Verbindungfaden zwischen dem Text und dem Kommentar gesponnen. Weitere sind möglich. Denn vielleicht handelt es sich bei letzterem eher um eine zweite Perspektive. Nicht unbeteiligt. Durchaus mit leidend. Vielleicht sogar mehr leidend. Aber eben aus den Augen eines anderen gesehen. Das muss natürlich nicht in jedem Sinne von außen heißen. Aber in einem speziellen und vielleicht sogar dem tragischsten Sinne heißt es von außen.

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