Klein Pāradies

Diesen Artikel drucken 25. November 2009

Eine Welle schwappt an den Strand, trägt kein Korn davon, fügt kein Gramm hinzu. Die Wellen kommen und gehen nicht – sie bleiben.

Du siehst hinunter auf den Tisch, siehst das mühevoll zubereitete Essen, das schöne Porzellan, die feinen Gläser. Du siehst auch die Gäste, allesamt Verwandte, Freunde. Und alle zusammen sind sie so – mühelos unbeschwert. Und ja;

Solltet ihr nicht glücklich sein? Könnte es nicht schlimmer sein? Könnte es nicht Krieg sein – könnte es nicht Hass sein?

Nein, nicht Krieg, nicht Hass. Nur Sand. Du weißt, unter den Tellern, unter den Gläsern, unter dem Tischtusch da ist der Sand; warm, weich, jedes Korn so weiß, so weiß, dass es schon fast weh tut – aber nicht weiß genug. Weiß, aber nicht zu weiß, warm aber nicht zu warm, strahlend aber nicht zu strahlend. Könnte es nicht viel schlimmer sein? Nein.

Du legst dich nieder in den Sand, hörst die immer gleiche Welle plätschern. Sie streicht über den Sand, verliert ihn wieder.

Weit hinten siehst du ein Boot, ein kleines Ruderboot. Es schwankt von links nach rechts, von rechts nach links.

Du könntest, ja du könntest damit fahren; nicht weit, einige Meter nur. Und dann würdest du zurückwollen und dich matt ins Wasser gleiten lassen. Zurückschwimmen; Schwimmen durch klares Wasser, warm wie der Sand. Durch kleine und große Wellen, kleine ,aber nicht zu kleine, große, aber nicht zu große Wellen. Schließlich lägst du wieder hier; im Sand. Unter einer Sonne, die dich nicht frieren lässt, aber auch nicht verbrennt. In Sand so feinkörnig und weiß und warm, in Sand der dich wärmt, der dich beschützt, der warm ist, weil er keinen Winter kennt und keine Nacht.

Du nimmst ein Stück von deinem Steak, führst die Gabel zum Mund; Oh, wie dieser Sand schmeckt, süß wie Kaugummi. Süß wie die Bonbons, die du als Kind so mochtest. Aber nicht zu süss, nicht zu fett.

Was treibt dich in diesen Sand, an diesen Strand, an dieses über und über vertraute Meer, das Meer ohne Horizont?

Was daran fasziniert, ist nicht sein Ferne; nein. Es ist seine Beständigkeit, es war schon immer da, es wird immer da sein. Du kannst es betreten, jeden Tag, jeden Mittag, jeden Abend. Es ist nie fer,n aber doch unendlich weit von dieser Welt, dieser Welt der Schwierigkeiten, weit von diesen Abgründen; diesen Dingen, die niemand will. Die du nicht willst. Dieser Strand, ja, dieser Strand, liegt dir immer zu Füßen. Du musst nur dorthin finden. Wenn du dort bist, dann legst du dich in den Sand. Du legst dich in Sand, der nie zu warm ist und nie zu kalt; du legst dich in Sand, der so warm ist, weil er keine Nacht kennt und keinen Winter.

Du kennst die Nacht; du kennst den Winter. Und deshalb bleibt er dir immer ein wenig fern, bleibt dir fremd, wie die Umarmung eines Fremden, die zwar zärtlich sein mag und auch gefühlvoll, dich aber niemals kennt; dich niemals verstehen kann, weil sie eben dich nicht kennt. Weil sie den Winter nicht kennt. Und die Nacht.

Du liegst in der Badewanne. Der Schaum ist ganz weich, das Wasser so warm und anschmiegsam. Und wieder ist es Sand: Sand, in dem du liegst an diesem Strand, der nur dir gehört. Es gibt dort keine Fernseher, kein Radio, kein Handy, auch wenn diese Dinge ein Weg zu ihm sein mögen; Es gibt dort niemanden, der dich informiert, belehrt, berät. Der dir sagt, dass diese oder jene Entscheidung notwendig ist oder wichtig. Für den Sand ist nur der Sand wichtig; dem Meer ist nur das Meer wichtig.

Und selbst wenn das Wasser immer das gleiche sein mag, und die Sandkörner, die sich so zärtlich an deinem Körper schmiegen, immer die gleichen Sandkörner sein werden: Ist es nicht richtig so? Ist es nicht dein Ort, deine Heimstatt?

Entspannt liegst du in deinem Sessel, und betrachtest flackernde farblose Bilder aus einer anderen Zeit, die es nie gab. „It will come to you, this love of the land. There’s no gettin‘ away from it.“, sagt ein Mann. Du kennst den Film, kennst sein Ende; du siehst gerne auf deinen Strand. Deine Gliedmaßen werden schläfrig, doch dein Geist reist ohne Mühe zwischen den zwei Welten, an deren einem Ende der Sand wartet. Warmer, weicher Sand. Einen Moment ist da die Fremdheit, das Wissen, dass dies nur Klein Pāradies ist; dann verschwindet jedes Gefühl. Könnte es nicht schlimmer sein? Solltest du nicht glücklich sein? Ja, es könnte schlimmer sein. Ja, du solltest glücklich sein. Dieser – dein Strand – verspricht nicht die Ewigkeit, er ist Ewigkeit.

Partner kannst du verlieren, Jobs, Freunde, Hobbies, Ziele. Der Strand wird immer das bleiben, was er ist; wird immer dort warten, wo er ist. Die Welt, ja selbst Scarletts Welt, ist nicht so weich und warm wie dein Strand. Andere mögen glauben, der Strand könne nicht der Bestimmungsort aller Leben sein. Es ist egal, denn andere gibt es an deinem Strand nicht. Nur dich, das Wasser, den Sand.

Du sitzt auf einem Stuhl in deinem Büro, blickst auf Zahlen und Daten und Aufgaben, auf viel zu wenig Zeit. Einen Moment Pause gestattest du dir, atmest tief ein und hörst das Rauschen der immer gleichen Welle. Denkst an den Strand, den du wieder betreten kannst, wenn die Uhr Sechs zeigt. Du weißt es genau: Um Sechs wirst du wieder da sein, schon auf der Autofahrt, vielleicht, wenn das Radio alte Musik spielt. Vielleicht auch schon auf dem Weg in den Fahrstuhl; die Türen werden sich öffnen, und du wirst lächeln, weil du gar nicht mehr im Lift stehst, sondern bis zu den Knien im Sand. Noch ist es nicht soweit; die Uhr zeigt Vier. Noch weißt du, dass es anderes gibt, andere Menschen, andere Ziele, andere Zwecke, anderen Schmerz. Bald wird eine Welle das Wissen davonspülen, genau wie jeden Gedanken. Als letztes wird ein bestimmter Satz verblassen, immer der gleiche.

Es gibt nur den Strand; mehr als Klein Pāradies kann man nicht erwarten.


PS: Die Notation Pāradies soll andeuten, dass die erste Silbe betont wird.
Dieser Text ist eine Niederschrift eines Improvisationsversuchs, den ich vor einigen Wochen per Mobiltelefon aufnahm. Die letzten vier Absätze habe ich nach der Abschrift hinzugefügt.

Ein Leben

Diesen Artikel drucken 11. Juni 2009

Heute werde ich 82 Jahre alt.
Meine vier Kinder haben schon angerufen, und ich habe eine Rose auf den Friedhof gebracht. Am Abend kommen meine beiden Jüngsten zu Besuch, sie wollen etwas für mich kochen. Vater, du brauchst nichts für uns herzurichten, das ist nichts mehr für dich, wir machen das schon, das haben sie mir am Telefon gesagt, und das stimmt wohl. Ich sehe sehr schlecht, und meine Hüfte lässt mich nur noch selten in Ruhe. Das Laufen ist schwer, und einige Male musste ich schon meinen Sohn anrufen, weil ich nicht aus dem Bett kam.
Dabei bin ich zufrieden: ich weiß, dass ich wohl nicht mehr lange leben werde, aber so ist nun einmal die Natur. Ich hatte doch alles, sage ich manchmal zu den Kindern. Ich hatte doch alles, ich habe ein paar gute Kinder, ich durfte eine wundervolle Frau lieben, mein Beruf hat mir manchmal Freude bereitet, und Schmerzen habe ich auch keine.
Einmal entgegnete Nikola darauf, dass mein Leben schon schwer gewesen sein: mit dem Krieg und der schwierigen Zeit danach und dem toten Sohn.
Ich glaube, ich verstehe, warum sie so denkt: aber ich würde mich nie über all die Dinge beschweren, die geschehen sind. Dabei bin ich nicht besonders duldsam, mitnichten. Und doch erscheint mir alles, alles, was nach dem Krieg geschehen ist, als erduldbar. Der Anfang nach dem Krieg war schlimm, manchmal wusste ich nicht, woher ich das Brot für die Kinder nehmen sollte: Wir besaßen oft nicht viel und immer gab es mehr zu tun, als Zeit da war. Einen Sohn musste ich zu Grabe tragen: meine Frau beerdigen. Und doch erschien mir  jeder Tag wie ein Segen. Natürlich war ich nicht immer glücklich. Das Leben hält für jeden den ein oder anderen Schicksalsschlag bereit, ohne dass man etwas dagegen tun könnte; Es gab sicher Zeiten, in denen ich trauerte.
Aber niemals, nie habe ich das Schicksal dafür verflucht oder mit meinem gehadert. Vielleicht sollte ich sogar für den Krieg dankbar sein, den ich miterlebte: Manchmal ruft eins meiner Kinder an, und dann erzählen sie mir von den Widrigkeiten, von den kleinen Problemen des Alltags. Meist sage ich nichts dazu, aber manchmal kann ich nicht anders. Die Anja ist also schlecht in der Schule, antwortete ich etwa einmal, ist sie denn gesund? Ja, sie ist gesund. Und seid ihr denn gesund? Ja, sie sind gesund.
Ich versuche immer, solche Gespräche zu vermeiden. Meine Kinder und erst recht meine Enkel können nicht wirklich verstehen, was ich damit meine. Für sie ist es eben erschütternd, wenn das Kind mit zwei Sechsern nach Hause kommt, für mich aber ist es ein Umstand, nur ein Umstand und keine Katastrophe.
Selbstredend würde ich meinen Kindern auch nicht wünschen, es zu verstehen. Denn dazu müsste es wieder so werden, wie es in meiner Jugend war, und das kann kein Mensch wollen, der es einmal erlebt hat. Es wäre vielleicht schön, wenn sie das ganz normale Leben als so befriedigend empfinden könnten wie ich, aber der Preis dafür wäre zu hoch.
Sie hören es nicht gerne, weil ich wohl oft davon erzähle (zu oft, ihrer Meinung nach), aber ich wurde 42 eingezogen, im September. Die zwei Jahre, in denen ich Soldat war, sind in meiner Erinnerung ebenso klar wie meine Kindheit. Ich denke oft daran, dass geht wohl vielen aus dieser Zeit so.
Wie viele andere habe ich das Elend gesehen und den Tod. Das Kämpfen und Sterben in Kälte, Dreck und Ausweglosigkeit. Ich habe auch gesehen, was von den Menschen bleibt, wenn man ihnen alles nimmt: Die Gesundheit, die Kleidung, die Erinnerung, den Verstand. Ich habe gesehen, dass sie selbst dann Mensch bleiben, wenn sie kaum noch mehr sind als ein wimmerndes Häuflein Schmutz und Fleisch: dass im Kern dessen, was wir einen Mensch nennen, nicht mehr ist als die Gnade der anderen. In den Jahren 42 und 43 musste ich oft erleben, wie man diesen Kern auslöschte: man konnte ihn nicht erschießen, man konnte ihn nicht in die Luft jagen. Es reichte, ihn zu vergessen.
Als ich schließlich heimkehrte, da ging es mir nicht anders als den meisten. Ich wollte endlich leben, eine Familie gründen, einfach nur leben. Doch ich habe es nie vergessen, und vielleicht scheint mir deshalb alles so leicht, was nach dem Krieg kam: meine Frau starb nach langer Krankheit, und auch der Unfall meines Sohnes führte mir den Tod wieder vor Augen. Aber nie wieder sah ich, wie dieser Kern, dieses etwas, das alles zusammenhalten muss, verschwand, und diesen Segen können wohl nicht alle Menschen verstehen: meine Kindern nennen es wohl manchmal hinter vorgehaltener Hand ein ‚Trauma‘. Ich nenne es Demut.

Eindrücke

Diesen Artikel drucken 5. Mai 2009

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.

Schneeflocken

Diesen Artikel drucken 6. November 2008

Als ich klein war, da hat es einmal geschneit: natürlich hat es sicher viele Male geschneit, als ich noch klein war, aber dieses eine Mal ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich stand auf der Veranda und sah hinaus auf die Straße. Weiße Flocken tanzten in der Luft, und eine schwebte sacht am Dach des Hauses vorbei, wurde von einem leichten Windhauch auf die Veranda geweht und landete in meiner geöffneten Hand oder besser, meinem Handschuh. Voller Verwunderung sah ich dieses weiße, unförmige Ding an: schon damals waren meine Augen ziemlich schlecht (und natürlich hasste ich meine Brille), so dass ich nicht viel erkennen konnte: Aber ich sah, dass die Schneeflocke – meiner damaligen Sprache nach – aus sehr vielen kleinen Schneeflocken bestand, das Wort ‘Eiskristall’ kannte ich damals ja noch gar nicht, und wirklich erkennen konnte ich diese ohnehin nicht. Ich sah nur ein Glitzern und die seltsam losen, aber doch stabil verbundenen kleinen Dinge, die die größere Flocke formten. Von dieser Struktur war ich fasziniert: ich hatte so etwas nie gesehen und fragte mich, wie sie zu Stande kam. Die Flocke löste sich förmlich unter meinem Blick auf; zu der Zeit glaubte ich, dass der Schnee einfach zu Luft wurde, wenn er schmolz; das ist sogar für ein Kind eine seltsame VorstelSchneeflockenlung, aber so dachte ich es mir wohl.
Als ich bald darauf wieder hineingerufen wurde (meine Mutter war immer sehr ängstlich, was meinen Gesundheitszustand anging), fragte ich meinen Vater danach, warum die Schneeflocken nicht einzeln vom Himmel fielen, sondern in größeren Ballen: ich glaube, es dauerte eine Weile, bis er meine Frage verstand. Ich weiß nicht, ob er die richtige Antwort wusste (eigentlich hat es wohl damit zu tun, dass die Eiskristalle in einer Wolke sich ja in Bewegung befinden und sozusagen aneinander kleben bleiben – aber genau weiß ich das nicht) oder ob er sie nicht kannte: vielleicht dachte er sich, die physikalische Antwort sei zu unromantisch oder zu schwer für ein Kind. Aber er hatte ohnehin ein Faible für Geschichten aller Art, vor allem für Märchen, und es ist gut möglich, dass er mir nur deshalb diese andere Antwort gab, denn nachdem er mich kurz etwas verträumt angeschaut hatte (ich wollte immer augenblicklich eine Antwort auf meine Fragen, daher ist mir dies im Gedächtnis geblieben), erzählte er mir folgende Geschichte:
Vor langer Zeit, als die Menschen noch in Höhlen aus Stein lebten, da gab es noch keine Autos und auch kein Haus aus Stein: aber natürlich gab es schon den Schnee. Im Winter fiel er in den Tälern, wie er heute auch bei uns fällt; das ganze Jahr über fiel er in den hohen Bergen.
Doch damals war es anders mit den Flocken; sie fielen ganz allein, und so sah es eher aus wie ganz feiner Nebel, wenn die einzelnen Schneeflöckchen zu Boden schwebten, oder wie ein ganz feiner Nieselregen.
Die einzelnen Flöckchen, so erklärte er mir, sind so klein, dass der Weg zu Boden aus ihrer Sicht beinahe eine Lebensspanne dauert, so klein, dass der Abstand zwischen ihnen immer groß ist, egal wie dicht die Flöckchen auch fielen. Und so sahen sie ihre Artgenossen (dieses Wort wird er nicht verwendet haben, aber es war etwas Ähnliches) nur aus großer Entfernung, und weil sie eben so schlechte Augen hatten wie du, konnten sie auf diese Entfernung fast gar nichts von den anderen erkennen.
Einmal jedoch, da passierte das Unvermeidliche; zwei der Schneeflöckchen hatten so etwas wie einen Auffahrunfall (diesen Ausdruck hat er wirklich benutzt, glaube ich – ich kannte ihn, weil wir einmal einen Unfall mit dem Auto hatten), und obwohl die Natur es eigentlich anders eingerichtet hatte, rasten die beiden nicht etwa haarscharf aneinander vorbei, sondern prallten direkt aufeinander.
Natürlich herrschte zwischen beiden erst einmal betretenes Schweigen: So etwas war noch nie, nie passiert, und keiner wusste recht, was er tun sollte. Schließlich begann eine der beiden zu reden, und natürlich entbrannte ein Streit darüber, wer nun schuld sei an dem Unglück: doch nach einer Weile ging der Streit in eine Diskussion über, schließlich in ein normales Gespräch. Es dauerte lange, bis den Flöckchen gewahr wurde, wie lange sie schon sprachen und wie viel länger noch sie schon zusammen durch den Himmel schwebten.
Sie wussten natürlich, dass man es anders eingerichtet hatte für die Schneeflöckchen, aber ihnen war ebenso klar, dass es keinen Zufall sein konnte, dass ausgerechnet sie aufeinandergeprallt waren, obwohl das doch noch nie vorher geschehen war.
Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass ihre Aufeinandertreffen so etwas wie Schicksal sein musste: nach dem langen Gespräch hatten sie Gefallen aneinander gefunden, und auch wenn es noch Tausende von Auf- und Abs brauchen würde, bis sie sich des ganzen Ausmaßes ihrer früheren Einsamkeit bewusst werden würden, empfanden sie so etwas wie Traurigkeit, als sie den Boden nach langer Zeit näherkommen fühlten. Und sie versprachen sich, wieder zusammen zu reisen, wenn sie wieder in den Wolken ankämen.
So taten sie es auch, und das alles sprach sich bald herum in den Wolken, über den Tälern, auf den Bergspitzen. Andere folgten ihrem Beispiel; immer mehr von ihnen reisten jetzt zu zweit, manche sogar zu zehnt, schließlich reisten sie beinahe immer in großen Gruppen.
Mein Vater sagte mir noch, dass man sogar hören könne, wie sich die Flöckchen flüsternd voneinander verabschiedeten; das sei das Geräusch, das sie beim Auftreffen auf den Boden machen.
Ich hörte ihm damals gebannt zu und hielt die Vorstellung, die er in mir geweckt hatte, noch lange aufrecht, solange ich eben ein Kind war. Heute weiß ich natürlich, dass sie Unsinn ist, dass die ganze Geschichte nur ein Märchen ist. Aber trotzdem beeinflusst sie mich manchmal: Sie gefällt mir immer noch. Ich denke, es hat wohl damit zu tun, dass ich gern glauben möchte, jede gute Geschichte und überhaupt jede gute Sache in der Welt beginne mit der Entscheidung zweier Wesen, sich zusammen auf einen Weg zu machen.