Die Schneiderin

Diesen Artikel drucken 23. September 2008

Am liebsten mag sie die weiten, geraden Schnitte durch den Stoff. Man darf sie nur machen, wenn man gerade ein neues Kleidungsstück beginnt, und natürlich darf sie auch nicht beliebig schneiden; im Gegenteil, manchmal schlägt der Aufseher sie schon, wenn sie den Stoff nicht ganz gerade und sauber auftrennt. Aber dennoch, diese weiten, offenen Schnitte erregen sie auf eine seltsame Weise, sie hat selten Zeit, darüber zu nachzudenken, und so genießt sie es meist einfach nur. Aber manchmal weiß sie, was der Grund ist; dann sieht sie auf den blauen oder roten Stoff, blickt genau auf die Schere und auf den Riss, der sich schnurgerade voranbewegt – links ein Stück Stoff, rechts das andere. Sie denkt daran, dass diese Trennung endgültig ist; die linke und die rechte Seite, über die sie mit ihrer Schere befohlen hat, werden sich wahrscheinlich nie wieder begegnen. An einen Mann und an eine Frau denkt sie in solchen Momenten, die irgendwo in der von ihr genähten Kleidung umherlaufen, umherirren und sich nicht finden, weil sie diesen Schnitt so und nicht anders gemacht hat, zwei, die sich nie kennen und niemals lieben dürfen, weil sie es so entschieden hat und kein anderer. In der billigen Spiegelung der feinen Schere sieht sie dann ihren eigenen, grausamen Blick, und manchmal mag sie davon erschrocken sein, wenn auch nicht oft. Einmal hat sie sogar absichtlich einen unnötigen, einen falschen Schnitt gemacht, um sich selbst wieder so sehen zu können. Natürlich entdeckte der Aufseher es und schlug ihr wütend ins Gesicht. Schlimmer als dies aber war das Gefühl, dass sie danach beschlich. Dass nämlich ihre Fantasie zumindest dieses eine Mal wahr geworden sein könnte, dass sie schon deshalb zur Wirklichkeit geworden sein musste, weil sie diese Schläge in Kauf genommen hatte, nur um das Grausame in der Schere zu erkennen. Vielleicht hätte sie dieses Gefühl nicht gehabt, wenn sie nicht so gottesfürchtig wäre, wer weiß das schon; jedenfalls dachte sie danach oft auch nach der Arbeit an diesen Mann und die Frau, wenn sie auf ihrer Pritsche lag und nicht schlafen konnte. Sie träumte sogar von ihnen; es war nicht immer Albträume, aber meist. Sie sah die beiden Menschen, die sie so verflucht hatte. Sie sah die beiden in kalten, hohen Räumen, die so luxuriös waren, wie sie selbst es nur aus dem Fernsehen kannte, und immer waren sie allein; sie saßen in den Ecken ihrer Schlafzimmer, ihrer Wohnzimmer, ihrer unglaublich großen Bäder und weinten. Sie wussten nicht, dass sie aneinander fehlten, und so ahnten sie auch nicht, warum sie sich so einsam fühlten; der Schnitt der Scheren hatte nicht durch Stoff durchtrennt, sondern auch zwei Leben.
Es quälte die Schneiderin lange Zeit, und sie betete oft zu ihrem Herren, er möge ihr vergeben; Bitte, Herr, nimm von ihnen, was ich ihnen angetan habe, flüsterte sie in die schmutzigen Laken, immer wieder. Es half nichts, es kam keine Antwort. Aber zumindest schmerzte sie der böse Wunsch nach einigen Monaten nicht mehr so sehr; schließlich verfiel sie auf einen anderen Gedanken, der ihr schließlich die Ruhe zurückgab. Dieser kam ihr nicht in Traum, auch nicht als spirituelle Eingebung, nein, die Lösung fiel ihr ein, als sie einmal an ihren toten Mann dachte und an die zwei kleinen Kinder, die sie weggegeben hatte. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis sie genug Geld gespart hatte, aber dann konnte sie dem Aufseher mit viel Zureden eine der Hosen abringen, die sie hergestellt hatte; sie suchte sich eine aus, deren Saum schief war. Sie ist jetzt schon etwas zerschlissen, weil sie sie jeden Tag unter den anderen Sachen trägt, aber das stört sie kaum. Die Hosen näht sie immer noch, und bei jedem weiten Schnitt lächelt sie grausam, auch wenn sie es manchmal nicht sehen möchte.


PS: Ich habe mal links eine Tagcloud realisiert. Die vergebenen Tags – bisher sind es nur wenige – stehen aber nicht unter jedem Text. Der Grund dafür ist, dass so eine Anzeige sehr leicht zum ‚Spoiler‘ werden kann, gerade bei Texten, deren Pointe etwas verwinkelt ist. Ich werde mich darum kümmern, dass man die entsprechend zugewiesenen Text nur per Mausklick sieht, aber das kann noch etwas dauern.

edit: Nun habe ich zumindest die aktuellsten Texte mal mit Tags versehen. Ich werde dieses Feature beibehalten, wenn es sich bewährt. Kommentare dazu sind erwünscht 🙂

Wahnsinnstat

Diesen Artikel drucken 15. Januar 2008

Glas und Metall. Glas und Metall.
Er hatte es als Kind gern getan, obwohl seine Eltern ihn oft dafür gescholten hatten, und jetzt musste er wieder daran zurückdenken: Wenn man mit einem spitzen Gegenstand über Glas schrammte, mit einem Stück Metall oder Stein etwa, so verursachte man kleine Kratzer in der Oberfläche, winzige Risse in der Oberfläche, die man nur bemerken konnte, wenn man sie bei gutem Licht betrachtete. Für das bloße Auge waren es dann immer noch bloße Schmarren, kleine Narben im makellosen Gefüge, die sich nur auszeichneten, weil sie das Licht in einem anderen Winkel brachen als die umliegende, plane Oberfläche. Unter einem Mikroskop dagegen sah dieser kleine Kratzer aus wie die Folge einer Naturkatastrophe: Riesige, zerklüftete Hänge konnte man sehen, mit rissigen Graten darin und unzähligen, fein verästelten Abgründen. Hatte man das Glas zuvor grob genug behandelt, so hatt sich der Grund dieses scharfkantigen Gebirgskessels sogar ganz verflüssigt, für einen Moment, und man sah dort unten auf eine wieder erstarrte, rundliche Mondlandschaft. Bei entsprechender Beleuchtung konnte man vielleicht sogar die Spannungen im Gefüge sehen, in einem schillernden Farbengewirr. Dann waren die apokalyptischen Kräfte zu sehen, die an den Ausläufern der winzigen Canyons zerrten, sie zu zermalmen drohten, und vielleicht wünschte man sich dann, das Glas nie berührt zu haben.
Doch wie so oft blieb auch hier das Wesentliche dem Auge verborgen, denn eine harte Spitze verursachte nicht nur diese oberflächlichen Verwüstungen, das wusste er jetzt. Man erkannte es schon am Geräusch, das der Gegenstand verursachte, an dem sengenden Klirren und Heulen und Quietschen, das Glas – es schwang.
Natürlich konnte man das nicht sehen, dafür geschah es zu schnell, aber das Glas vibrierte tatsächlich, Tausende Male pro Sekunde wurde es hin und her gerissen, von links nach rechts, von oben nach unten, er wusste das aus seinen Büchern.
Meist, ja meist, da erschöpfte sich dieses Vibrieren in dem nervenzehrenden Kreischen, an das man sich nie gewöhnen konnte.
Doch manchmal, da geschah etwas anderes. Vielleicht war da schon der ein oder andere Makel im Glas gewesen, der es im Inneren ein wenig geschwächt hatte, immer noch ein wenig mehr. Vielleicht war es auch zu lange falsch gelagert worden, zu kalt oder zu feucht oder zu warm. Es mochte die Spannung in einem dieser kataklystischen Canyons sein, oder auch nur die Ermüdung des Materials:
Man fuhr wieder über das Glas, mit einem Schraubenzieher vielleicht, und schrammte kleine Narben hinein. Wieder wehrte sich der Stoff, kreischte laut auf – vibrierte. Das Glas schwang, und an einer ganz gewöhnlichen Linie, einer ganz gewöhnlichen,
Brach es plötzlich.
Es riß ganz und gar auseinander, brach in tausend klirrende, verlorene Scherben, die sich ihren eigenen Weg suchten, ganz allein, zu Boden fielen mit ihren scharfen Kanten und den schneidenden Ecken: Selbst wenn man es versuchen würde, man könnte die Bruchstellen nie wieder kleben. Es blieb zerborsten.
Das war schrecklich, war immer schrecklich, aber ist es einmal so weit gekommen, kann man nichts davon wieder rückgängig machen. Und genau das war wohl mit dem Glas geschehen, aus dem er bestand, und niemand konnte daran noch etwas ändern. Das dachte er, dann begann er zu schießen.