Prelude/Lullaby III Diesen Artikel drucken

Stille. Nur das leise Nachgeben der Tasten unter seinen Fingern. Sie schienen ihm zu dienen, zu gehorchen. Keine anderen Menschen in Sichtweite.
Immer noch war er konzentriert auf die kleinen kryptischen Symbole auf seinem Schirm, die sich veränderten, verschoben, nur durch seinen Willen.
Ein Geräusch drang durch dünne Pappwände.
Er sah auf grässlich-grüne Ziffern einer Uhr. Mittagszeit. Sie gingen alle zum Essen. Alle, bis auf ihn.
Sie fragten ihn nicht einmal. Diese unverwundene Unhöflichkeit verwunderte ihn. Anfangs hatten sie ihn immer gefragt. Natürlich hatte er es abgelehnt, mitzukommen. Sie fragten ja nur, um den Schein zu wahren.
Er sei krank. Oder er habe keinen Hunger. So etwas hatte er geantwortet.
Seine Finger zogen sich von den Tasten zurück, wie ein Krebs, der sich aus seiner Schale zurückzog. Bildeten eine Faust. Entspannungsübungen.
Er kannte sich aus, er kannte die Spielregeln. Immer ein Vorwand auf den Lippen, das war eine Regel. Er wollte ihnen nicht mehr zur Last fallen, als er das offensichtlich schon tat.
Jetzt fragten sie erst gar nicht mehr. Er fragte sich warum. Vielleicht war eine seiner Entschuldigungen nicht gut genug gewesen. So war es bestimmt.
Die Mittagspause mochte er. Er grinste. Wenn er an diesem Ort überhaupt etwas mochte.
Wie allein er jetzt war. Er konnte es fühlen. Für einen Moment wich mit den Menschen auch die Angst, gab einen Blick auf das Büro frei.
Das Sonnenlicht war jetzt fast weiß. Das gefiel ihm. Neutrales, simples Weiß. Solches, das man auch für wissenschaftliche Experimente benutzte. Zumindest stellte er es sich so vor.
Das Auge des Sturms. Der Ausdruck fiel ihm ein. So fühlte es sich an.
War es das, was er vermisste; Einsamkeit?
Er dachte an das Ereignis von heute morgen. Vielleicht.
Er wünschte, dass es so wäre, aber andererseits.
Sie störte. Diese Emotionen störten. Es ärgerte ihn.
Er stellte sich vor, wie es wohl ohne sie sein würde. Es war so schwer genug, durch dieses Leben zu kommen.
Warum dann noch das?
Aber nein, sie konnte nichts dafür. Es war seine Schuld, nur seine Schuld. Er würde sich zusammenreißen. Diese irrationalen Reaktionen einfach ignorieren. Wie lächerlich es war.
Er ließ sich tief in den blauen Stuhl sinken, die Hände fast locker im Nacken verschränkt.
Ein Hauch von einem Lächeln zog über sein Gesicht.
Arbeit war entspannend, wenn er allein war.
Er stellte sich vor, wie sie jetzt alle an Tischen saßen, viele Menschen, und redeten, vielleicht über ihn redeten. Und sie, wie sie daneben saß. Mit demselben Lächeln wie heute morgen.
Sie, schon wieder sie. Nie wieder dieser Gedanke.
Ein Geräusch hinter ihm. Wie von selbst schnappte sein Oberkörper hoch, die Schultern weit hochgezogen, der Kopf abgesenkt.
Dann ihre Stimme. Sie? Was wollte sie noch?
Seine Füße fanden den Fußboden, der Sessel drehte sich widerstrebend. Wieder ihre Augen, doch diesmal nicht. Diesmal würde er Widerstand leisten.
Er stellte sich große, dunkle Zellen vor, die die Armada aus seinem Blut rissen.
Das kleine rote Bändchen an ihrer ordentlich gebügelten Bluse bewegte sich mit ihrem Atem, durch ihren Atem. Er zögerte kurz. Oder war es umgekehrt? Ein sinnloser Gedanke.
Ob er heute etwas vorhätte.
Warum wollte sie das wissen?
Er sollte ja antworten, er kannte die Spielregeln, fand immer einen Vorwand.
Doch vielleicht… nein. Er durfte sich nicht wieder gehen lassen, auf keinen Fall. Objektiv. Er versuchte sich daran zu erinnern, was das Wort bedeutete, warum es wichtig war.
Dann huschte ein Nein über seine Lippen, wie ein sich versehentlich lösender Schuss, nur viel leiser.
Zu spät. Spanien siegte wieder. In seinem Geist sah er unscheinbare Moleküle, feiernd, in seinem Blut schwimmend.
Sie legte bedächtig einen Zettel auf seinen Schreibtisch, dann ein Lächeln, sie verschwand.
Was hatte er sich dabei gedacht?
Ein Teil von ihm wusste es.
Der Zettel war gelb, ordentlich beschriftet. Ihre Schrift, er erkannte sie.
Der Name einer Bar. Eine Uhrzeit. Der Hinweis, dass sie sich freuen würde.
Es war unmöglich. Und doch.
Wie konnte das sein?
Er las den Zettel noch einmal. Es konnte nicht sein. Oder doch?
Vielleicht hatte er alles an ihr falsch verstanden, bis jetzt. Vielleicht…
Mit Bedacht faltete er den kleinen Zettel. Vorsichtig steckte er ihn in sein Hemd.

Die Angst flog mit einem entsetzten, aber stummen Schrei hinter die Ränder seiner Wahrnehmung, verweilte dort, beobachtete.
Das Licht war angenehm, plötzlich. Er stand auf.
Wie lange war er wohl nicht in der Kantine gewesen? Er wusste es nicht. Es war zu lange her, fand er, und machte sich auf den Weg.

„Hoffnung ist die zweite Seele der Unglücklichen.“ – Johann Wolfgang von Goethe

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