Prelude/Lullaby IV Diesen Artikel drucken

Mit dem Erschrecken eines Unschuldigen wachte er auf.
Aber sie lag noch neben ihm. Er konnte ihren warmen Körper neben sich spüren. Ihren Atem hören, leise, wie Blätterrauschen in einer Sommernacht. Beruhigt schmiegte er sich an sie, legte einen Arm um sie.
Und schrak wieder hoch, so schnell, dass sein Geist noch für einige Momente in dem Traum verweilte.
Er rief sich zur Ordnung, stand schnell auf von der Couch, als ob sie nun gefährlich für ihn wäre.
Träume. Schon lange hatte er sich nichts mehr aus ihnen gemacht, nicht auf sie geachtet. Sie kamen und gingen, wie Besucher aus einer anderen, fremden Welt.
Einer Spiegelwelt, dachte er, vollkommen anders, aber doch ähnlich, auf eine subtile Weise.
Manchmal zeigten sie ihm Bilder von einem anderen Leben, das nicht seins war, aber auch niemandem sonst gehörte.
Und manchmal war auch die Angst dort, in den Träumen, demonstrierte ihre Macht in schmerzvollen Bildern, dem Tod seiner Mutter, dem Porträt seiner ersten großen Liebe und immer wieder endlosen, menschenleeren Steppen, in denen er alleine war.
Allein. Vielleicht fand seine Einsamkeit noch ein Ende, dachte er und atmete tief ein, immer noch ungewohnt frei. Das Gewicht, das sonst auf seiner Brust lastete, war nicht da. Immer noch nicht wieder da.
Er blickte auf eine Uhr, die auf dem Fernseher stand. Es war noch Zeit. Misstrauisch nahm er wieder Platz auf der Couch, berührte sanft die Lehne. Als wolle er ihr für den Traum danken. Er lächelte. Ein ganz und gar irrationaler, aber schöner Gedanke.
Seine Augen schlossen sich wieder, versuchten wieder zu den Bildern zu finden, die eben so real gewesen waren.
Eigentlich wusste er nicht, ob er so viel Hoffnung haben durfte, warnte ihn etwas, aber er ignorierte es.
Suchte weiter nach den Bildern, nur um sich die Zeit zu vertreiben, erklärte er sich selbst.
Ein Haus, weiß, rote Dachziegeln, die in der Sonne zu glühen schienen, irgendwo auf dem Land. Ein großer Hund auf der Veranda, er erinnerte sich, ein Labrador. Die Tür öffnete sich, er trat ein, wusste, wo er hingehen wollte, die Treppe hinauf, an den großen Fenstern im Flur vorbei, großen, bunten Rahmen mit klaren Scheiben, dahinter weite, grüne Felder, die das Licht zurückwarfen wie blankpolierte Spiegel.
Er trat auf eine Tür zu, sie wich seinem Geist, und dort stand das Bett. Und dort war auch sie, wie er sie verlassen hat, wieder das leise Wispern von Blättern, wenn sie atmete.
Er öffnete die Augen. War das eine mögliche Zukunft? Die Warnung nahm wieder Gestalt an, diesmal ernster. Er durfte sich nicht sinnlosen Hoffnungen hingeben, nicht die Kontrolle verlieren. Doch diese Worte begannen, hohl und blechern in seinem Kopf zu klingen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr. Bald müsste er sich umziehen, sich „fertigmachen“, er fand den Ausdruck furchtbar, hatte ihn irgendwo aufgeschnappt. Der schwarze Anzug lag schon seit Stunden neben ihm, sauber gefaltet auf einem Stuhl.
Wann hatte er ihn zuletzt getragen? Es war bei einer Beerdigung gewesen, entsann er sich. Aber bei welcher?
Früher hatte er diesen Anzug oft getragen.
Er lehnte sich wieder zurück, versuchte besorgt zu wirken, zumindest auf sich selbst.
Die Situation war verwirrend. Es fiel ihm schwer, Begeisterung und Optimismus im Zaun zu halten.
Er fragte sich, ob das nur an ihr lag.
Vielleicht war es Vertrauen.
Unschlüssig drehte er sich zur Seite, hatte die Uhr jetzt immer im Blick.
Vielleicht vertraute er ihr oder auch sich selbst plötzlich.
Vertrauen. Er lächelte. Dieses Wort hatte er schon lange nicht mehr benutzt.
Oder vielleicht… vielleicht war das auch seine letzte Chance. Er dachte an heute Morgen, an die Ampel, an seine Gedanken, während er die Straße überquert hatte, an die schwarze Kiste unter seinem Bett. Und begriff.
Ja, das stimmte. Das war seine vielleicht letzte Chance, die Dämonen zu besiegen, die ihn auffraßen. Dämonen. Was für ein geistloser Ausdruck. Aber das war ihm egal, stellte er verblüfft fest.
Noch einmal schloss er die Augen, suchte ihr Gesicht, das immer jeden Zweifel weggewaschen hatte. Ihre Lippen, die ihn beruhigt hatten, ohne ein Wort zu sprechen.
Er hörte ein Geräusch und setzte sich auf.
Ein Mobiltelefon. Sein Mobiltelefon.
Die Zweifel kehrten genau so schnell zurück, wie sie gegangen waren.
Seine Hand zitterte, als er das Telefon hielt.
Eine Kurznachricht.
Sie würde sich verspäten. Sie wüsste noch nicht genau, wann sie kommen würden.
Nein, korrigierte er, sie würde gar nicht kommen.
Er hatte es doch geahnt, oder ahnen müssen. Die Spielregeln, die Regeln, die ihn schützten, er hatte sie verletzt. Er erinnerte sich an die letzten 30 Minuten, wie peinlich. Wie hatte er sich dazu hinreißen lassen. Wieder sah er ihr Gesicht vor sich, diesmal kalt, gehässig, lachend. Wie hatte er nur…
Sein Körper zitterte. Die Uhr zeigte mit großen, grinsend-goldenen Zeigern schon fast auf die verabredete Uhrzeit.
Verabredet, spottete er über sich selbst.
Die Verzweiflung verwischte jeden Zweifel.
Nein, es hatte nie eine Verabredung gegeben. Anders war es nicht denkbar. Aber er musste sich sicher sein, absolut sicher, also las er die Nachricht noch einmal, noch einmal, noch einmal. Erkannte nicht den Sprachstil des gelben Zettels, des lächelnden Gesichts im Büro. Nur die Sprache des immer noch gehässig lachenden Porträts in der Düsternis seines eigenen Schädels. Ja, er hätte es wissen müssen. Menschen waren Verrat. Das Leben war Verrat.
Er ließ das Handy achtlos fallen.
Das war seine Schuld, nur seine. Die Regeln, er hatte sich nicht an die Regeln gehalten. Die Angst, die mit der Verzweiflung zurückgekehrt war, legte eine kalte Hand auf seine Schulter.
Sie hatte ihn beschützt, dachte er, immer beschützt, hatte ihm Regeln gegeben.
Sie hatte ihn die Tage überstehen und die Nächte zumindest überleben lassen, nur sie.
Nicht dieses kalte, gehässige Mädchen, die Angst hatte ihn bis hierher gebracht, niemand anders.
Die Hoffnungslosigkeit schwemmte auch diesen Gedanken weg.
Ein paar Tränen rannen sein Gesicht hinab, nicht viele, wie bei jemandem, der über Tränen weit hinaus war.
Nur einige kleine, runde Tropfen.
Wie die letzten Ratten, die das Schiff verließen, dachte der Zyniker in ihm.
Er hätte sich keine Hoffnungen machen dürfen, jetzt fiel er umso tiefer, er hätte es wissen müssen.
Warum sollte ihn auch jemand mögen? Ausgerechnet ihn, der Nichts war, nicht mal etwas Gewöhnliches?
Still legte er sich wieder auf die Couch, glitt hinab in Dunkelheit, ließ Agonie und Angst wie Geier über und in ihm kreisen.
Jetzt konnte er nicht mehr zurück, wohin auch.
Ein Bild baute sich hinter seinen geschlossenen Augen auf, er kannte es, wollte es nicht sehen.
Zurück ins Büro? Dort war sie, nein, schon den Gedanken ertrug er nicht.
Das vertraute Haus, jetzt verdorben, verfallen, die Ziegeln gespalten, die Felder von der Sonne verbrannt und vom Wind davon getragen. Auf der Veranda der verwesende Körper eines Hunds, der aus toten Augen starrte.
Nein, er hatte Recht gehabt, dass war seine letzte Chance gewesen, er hatte zu viel gewagt, es gab kein zurück. Vertrauen. Seine Lippen formten das Wort. Es klang spöttisch, klang schon immer spöttisch.
Das Bild begann zu verschwimmen, wurde unscharf unter der glühenden Sonne, die herab brannte. Es zeigte keine Einzelheiten mehr, wie ein entferntes Echo.
Nein, falsch. Seine Augen fanden ein Detail. Etwas, das auf der Veranda lag, als wäre es schon immer dort gewesen.
Eine kleine schwarze Kiste aus Holz, solchem Holz, aus dem man Türen herstellte.

Und er wurde sehr ruhig.
Seine Augen öffneten sich. Eine merkwürdige Klarheit breitete sich aus, Angst und Verzweiflung wichen ihr, stützten sogar seine Beine, kannten seinen Weg. Zielstrebig bewegte er sich.
Es war das Beste so. Er zog die Kiste hervor. Sie schabte mit einem Seufzen über den Boden, ließ sich auf das Bett heben.
Nie wieder würde er verzweifelt sein.
Und die anderen, nun, sie müssten nie wieder verleugnen, was sie dachten. Über ihn dachten.
Seine Hände bewegten sich schnell in der Kiste, von etwas geführt, was nur er sehen konnte. Das wusste er, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr.
Er schob Munition beiseite, fand die drei Briefe, vor Wochen geschrieben, fein säuberlich adressiert, in großen, roten Buchstaben.
Aufmerksam legte er sie gestapelt auf den Tisch, genau an die Tischkante.
Dann nahm er den anderen Gegenstand aus der Kiste, legte ihn auf den Tisch. Strich einen Moment über das warme Holz der Kiste. Schloss sie dann bedächtig.
Das Gewicht war größer, als er es in Erinnerung hatte. Er hob den Lauf.
Dann zögerte er.
Dankbarkeit hatte sich in den absurden Frieden gemischt, den er empfand.
Die letzte Chance. Dankbarkeit, irrationale Dankbarkeit für Hoffnung, die sie kurze Zeit gebracht hatte.
Es war unhöflich, das einfach zu vergessen, es war unhöflich, sie einfach zu vergessen.
Der Lauf senkte sich wieder.
Er fand das Telefon neben der Couch, wo er es hatte fallenlassen. Einen kurzen Augenblick wusste er nicht, was er schreiben sollte, dann huschten seine Finger einige Sekunden über die Tasten. Das Telefon fiel wieder neben die Couch.
Er lächelte zufrieden.

Und mit einem lauten Knall, der einem Schuss ähnelte, schloss sich die Tür aus schwarzem, schwerem Holz hinter ihm.

An einem anderen Ort steht eine junge Frau im Regen. Blonde, kurze Haare, vom Regen aufgeweicht. Winzige Sturzbäche, in denen der Regen entlang kleiner, abstehender Strähnen nach unten fällt.
Sie mag Regen, eigentlich. Aber jetzt ist sie abgelenkt. Sie hat den Kopf tief gesenkt, wie zum Gebet. Aber sie betet nicht. Sie liest.

Warte nicht auf mich.
Kühles, verbleichendes Blau, dass sich in ihrem Gesicht widerspiegelt. Schwarze, grobe Buchstaben, die sich wie kleine Klingen in das Display eingraben.
Warte nicht auf mich.

Eine winzige Träne der Vorahnung huscht durch ihr regennasses Gesicht, unsichtbar.
Sie starrt das Display an, immer länger. Sie sieht auch nicht auf, als der verspätete Bus kommt, auf den sie so lange gewartet hat. Auch nicht, als der nächste Bus kommt.
Sie steht einfach da und starrt auf das Display. Und denkt an die Kiste unter ihrem Bett. Schwarzes, schweres Holz. Wie das, aus dem man Türen macht.

„Man kann nicht für sich allein leben. Das ist der Tod.“ – Leo Tolstoj

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