Seelenverschwörung/Potenziale Diesen Artikel drucken

Beim Rekapitulieren der letzten Texte meines Blogs stieß ich auf eine Frage, die ich selbst nicht ganz beantworten konnte.
Was ist eigentlich das Problem der Menschen, die die Texte beschreiben?
Was ist ihr wesentlicher Antrieb, sich selbst zu zerstören?
Sind sie im pathologischen Sinne krank, weil sie intrinsisch motiviert gegen sich selbst handeln?
Oder ist es die Umwelt, die sie traumatisiert und zu dem Untergang verdammt, der sie schließlich ereilt?
Eine Weile habe ich darüber nachgedacht, und mir ist eine interessante -medizinische- Analogie eingefallen, die vielleicht eine Lösung für diese Fragen anbietet, auch wenn sie vielleicht etwas unbefriedigend erscheint, wir wir sehen werden.
Betrachten wir zunächst einen menschlichen Körper, in den ein Fremdkörper eindringt, vielleicht ein Glassplitter, vielleicht auch ein Bruchstück eines Geschosses, das ist zunächst einmal irrelevant. Wie jeder weiß, der schon einmal einen Holzsplitter unter der Haut hatte, wird der Körper mit Abwehrreaktionen beginnen, da die Immunabwehr den Fremdkörper als Feind identifiziert und Gegenmaßnahmen einleitet, ganz ähnlich wie eine Armee, die einen feindlichen Späher hinter den eigenen Linien entdeckt.
Nun, im Gegensatz zu so einer fiktiven Armee, die rational handeln wird und den Feind mit minimalem Aufwand vernichtet, handelt der Körper weniger rational.
Je nach Material und Größe des Fremdkörpers wird das umliegende Gewebe sich verändern, Wundherde bilden, vielleicht nekrotisieren, eventuell sogar einen Cordon von Geschwüren, bösartigen Geschwulsten bilden. Gelingt es dem Körper nicht den – ja vielleicht harmlosen – Splitter zu zerstören oder abzudrängen, wird immer mehr Gewebe betroffen sein, der Blutkreislauf wird schließlich mit Antikörpern und den Zellgiften zerstörter Körperzellen inflitriert werden, der ganze Körper beginnt zu fiebern, vielleicht sogar zu sterben.
Betrachtet man dieses Verhalten mit einiger Distanz und aus einer mehr philosophischen als medizinischen Perspektive, so scheint es , als ob es da einen unsichtbaren Pakt zwischen eingeschlossenem Splitter und Körper gäbe.
Denn schließlich ist es nicht der Splitter, der den Körper zerstört – sofern er keine lebenswichtige Region berührt, wirkt er sich ja nur bedingt störend auf die umliegenden Organe aus. Es scheint vielmehr so, dass der Körper selbst in einer Art Doppelzüngigkeit, einer konspirativen Überlagerung von Ursache und Wirkung, beginnt, sich selbst zu zerstören.
Oberflächlich versucht der Körper nur, auf die Ursache, den Splitter nämlich, zu reagieren. Gleichzeitig ist diese kausale Wirkung aber wiederum auch Ursache eines Niedergangs des gesamten Körpers.
Mit ausreichend negativer Betrachtungsweise könnte man so sogar sagen, dass ein selbstzerstörerisches Potenzial des Körper exisitiert, dass sich an dem Splitter realisiert, aber eigentlich schon immer vorhanden war und sich nur nach Materialisierung sehnte, ähnlich wie eine Perle immer ein Potenzial, eine mögliche Realität der Auster ist.

Ganz ähnliches gilt für die Seele der Protagonisten. Sie alle haben Dinge erlebt, die sie nie ganz verarbeitet haben, kleine, vielleicht große Bruchstücke dieser in ihrem Geiste behalten, und ganz ähnlich wie der Körper in der Analogie beginnt auch die Seele mit einem scheinheiligen Abschottungs- und Schutzmechanismus, den Fremdkörper einzuschließen. In einem unsichtbaren Pakt, einem geheimen Bündnis, einer subversiven Verschwörung mit dem, was sie eigentlich bekämpfen will, entwickelt die Seele dieser Menschen Strategien, sich vor den Splittern zu schützen, vielleicht durch Flucht (vgl. ‚Dunkler Bunter Regen‘ ff.) oder auch durch das Konstrukt einer eigenen, anderen Realität(vgl. ‚Prelude/Lullaby I-IV‘), die im Kern doch nur zerstören, was sie eigentlich schützen sollten. Es sind nicht die Erfahrungen, die die Protagonisten zerstören, es sind die Dinge, die die Seele mit diesen Erfahrungen macht, denn anstatt sie vollständig zu integrieren, was die einzig rationale Lösung sein mag, realisiert sich in diesen Menschen das Potenzial der Autodestruktivität, nutzt den Splitter aus, um sich selbst zu gebären.
Was bedeutet dies also für die Eingangsfrage?
Nun, es scheint so, als ob der Grund für das Verhalten der Protagonisten sich genau zwischen den Begriffen extrinsisch-intrinsisch bewegt; die kausale Ursache, die „Schuld“ an dem, was geschieht, scheint auf eine schwer fassbare Weise zwischen äußeren und inneren Antrieben zu verschwimmen. Ohne die selbstzerstörerischen, inneren Potenziale der Protagonisten wäre ihr Untergang genauso wenig denkbar wie ohne die Außenwirkungen, die sie diese Potenziale erst realisieren lassen. Diese Antwort scheint sehr unbefriedigend zu sein, und das ist sie auch, schließlich zerstört sie das Konstrukt der unbedingten Unterscheidbarkeit von Außen und Innen und ersetzt sie durch ein dynamisches Zusammenspiel, eben dieser Seelenverschwörung, von der der Titel kündet.

Aus der Warte dieser Potenziale des Menschen könnte man jemanden, der etwas Fiktives aufschreibt (der Begriff Autor oder Schriftsteller ist hier obsolet, weil dies Begriffe sind, die von der Gesellschaft ‚verliehen‘ werden), als jemanden beschreiben, der die Potenziale (negative und positive) seiner eigenen Welt auf einem Blatt Papier realisiert, also quasi die Topologie seiner eigenen Realität der Potenziale kartografiert. In gewisser Weise schafft er dadurch in dem, was erzählt, eben diese Metarealität der Potenziale, besser noch, ein Meta-Alter-Ego seiner selbst, die eben nicht nur enthält, was er ist, sondern auch, was er nicht ist und was er sein könnte. Denn selbst das, was wir nur sehen und dann beschreiben, ist etwas, das allein durch den Vorgang des Rezipierens zu einem unserer Potenziale geworden ist.

Jemand, der Fiktives auf Papier schreibt, ist immer jemand, der eine Auster sieht und eine Perle beschreibt – bad_indicator.

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