Das geheime Zimmer (2) Diesen Artikel drucken

Sie öffnete die Augen, zum fünfundvierzigsten Mal in dieser Stunde, sie hatte mitgezählt.
Immer noch drehte sich die Welt um sie, aber langsam, beruhigend, als sei sie das Zentrum von allem. In gewisser Weise stimmte das, zumindest hier, in diesem, ihrem Zimmer.
Sie schloß die Augen wieder. Die dumpfe Musik, die vom Ende ihres Bettes leise herüberfloß, drang augenblicklich stärker in ihren Geist, Geräusche von Lüftern, Klimaanlagen, Autos – das hatte sie zumindest im Laden auf der Verpackung gelesen – unendlich verzehrt und gewaltsam gestaucht zu langen, grauen Klangtexturen, die in ihrem Kopf zu massigen, menschlichen Körpern kondensierten, die ewig über ihr schwebten. Fast hätte sie ein Gesicht erkennen können, es berühren können, doch sie öffnete die Augen wieder. Halluzinationen und Tagträume, sie war sie gewohnt, sie hatte oft welche nach solchen Abenden, hatte sich an die immer gleichen Symbole gewöhnt, schüttelte sie ab, konzentrierte sich wieder auf die Musik. Die Musik, sie mochte sie, die schweren Klangflächen erinnerten sie an das kosmische Hintergrundrauschen, dass sie während einer Vorlesung einmal zu hören bekommen hatte, oder an ein schlecht komprimiertes Video, dass nur aus groben Artefakten bestand, großen farbigen Blöcken, die das Bild brutal entstellten. Sie stellte sich unwillkürlich ihr Leben vor, in groben, farbigen Blöcken gerastert. Die Halluzinationen kehrten zurück.
Hastig drehte sie sich um, besann sich auf die Gegenwart, und begann routiniert, den vergangenen Abend wieder zusammensetzen, der in ihrem Kopf immer noch nur in Fraktalen existierte, zersplittert, lückenhaft, wie ein Gemälde, dass man absichtlich in kleine Stücke zerrissen hatte.
Als sie wieder zur Bar zurückgekommen war, hatte sie ein Wasser bestellt, das reserviert-angeekelte Lächeln des Barkeepers war aus einem Grund, den sie besser später erforschen wollte, in ihrem Kopf zurückgeblieben.
Und dann war ihr Bekannter doch noch gekommen, etwas spät, wie immer, später als andere Gäste, mit riesigen Pupillen und einem hastigen Lachen auf den ausgetrockneten Lippen. High, aber immer merkwürdig überlegt handelnd. Er hatte sie begrüsst, ihr einige bunte Tabletten zugesteckt, gegen Müdigkeit und Übelkeit, hatte er gesagt. Sie hatte natürlich gewusst, dass es keine Medikamente waren, er nahm nie Medikamente, sie machten zu schnell abhängig, hatte er einmal gesagt, aber die Tabletten halfen immer. Es interessierte sie auch nicht wirklich, woraus sie tatsächlich bestanden, sie hatte Stoff nie an der Wirkung erkennen können, manchmal glaubte, er könne das vielleicht.
Dann waren einige Leute zu ihm gekommen und er war mit ihnen gegangen, nach hinten, Geschäfte. Er sprach nie über seine Geschäfte, aber jeder – oder zumindest sie – wusste, dass er dealte, in großem Stil vielleicht sogar, sie hatte nie gewagt zu fragen. Er hatte sie nie geschlagen, aber sie zweifelte nicht daran, dass er das tun könnte. Sie stellte sich vor, was er wohl mit ihr anstellen könnte.
Ihr wurde schwindelig. Sie griff blind zu der schwarzen Kiste neben dem Bett, suchte mit immer noch leicht zitternden Fingern die runden Tabletten, die sie manchmal nahm, ein leichtes Valiumderivat, fand eine davon und schnitt sich an einer der vielen sterilen Rasierklingen, die in dem Kästchen verstreut lagen. Während sie die Tablette nahm, begann sie mit der Klinge zu spielen, wie sie das nannte. Sie grinste. Spielen.
Ihre Gedanken kehrten wieder zurück zum vorherigen Abend, während ihre Hand sich weiter bewegte, die Rasierklinge locker zwischen zwei Fingern.
Irgendwann war er wieder gekommen, aufgekratzt, überdreht, vermutlich von dem Stoff, den er hinten genommen hatte, vielleicht etwas von dem weißen Pulver.
Wie so oft hatte er gefragt, ob sie noch mitkommen wolle, und sie hatte eingewilligt. Sie hatte es bereut, wie sie es jedes Mal bereute. Sie fragte sich, warum sie immer wieder mitkam. Ihr Bekannter mochte sie, dachte sie, vielleicht war das der Grund. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte, eigentlich glaubte sie nicht, dass er überhaupt irgendjemanden mochte.
Ihr Körper zuckte leicht, als sie etwas zu viel Druck auf die Klinge ausübte.
Sie waren als zu ihm gegangen und sie hatten nicht mehr viel geredet. Danach hatte sie stundenlang hellwach und überdreht neben ihm gelegen. Er hatte geschlafen, sie hatte wach neben ihm gelegen, mit dem lauten Rauschen der Brandung in ihrem Kopf, sie hatten einige Sachen genommen, davor, viel zu viele verschiedene. Sie hatte dort im Dunkeln gelegen und darüber nachgedacht, ob sie etwas von dem weißen Pulver nehmen sollte, dass auf dem Nachttisch lag, nur um etwas abzukühlen, um sich etwas Luft zu verschaffen, um die Halluzinationen loszuwerden.
Schließlich waren vor ihren Augen Menschen aus den Narben an ihren Oberarmen gequollen, winzige Menschen, kleine blonde Mädchen, und sie hatte sich furchtbar gefürchtet und schließlich doch das Pulver genommen.
Ein Kindheitserinnerung ließ sie lächeln. Das Sandmännchen. Schlafsand. Sie hatte die Mädchen Schlafen geschickt und war schließlich selbst eingeschlafen.
Als sie wach geworden war, war es schon fast Mittag gewesen, und sie hatte ihn geweckt. Er hatte sie nur grob geküsst und ihr Geld für ein Taxi gegeben, sich umgedreht und weitergeschlafen.
Sie zuckte wieder zusammen.
Geld für ein Taxi. Eines Morgens hatte er damit angefangen, es ihr zu geben, und sie hatte an diesem Morgen geschrieen und ihn geschlagen, und er hatte nur ihre Arme festgehalten und sie angesehen. Seitdem nahm sie das Geld. Und geschlagen hatte sie ihn nie wieder. Sie wusste nicht, ob aus Angst vor ihm oder aus Angst vor diesem Blick.
Und nun lag sie hier. Die Sonne, die sie in diesem Zimmer aus gutem Grund nicht sehen konnte, war sicher schon untergegangen. Langsam musste sie wieder in das andere Leben zurückkehren, es war schon spät. Morgen musste sie wieder zur Arbeit, Geld verdienen, funktionieren.
Sie fischte den grünen Kasten unter dem Bett hervor. Ein Kreuz war darauf aufgedruckt gewesen, das hatte sie zu zynisch gefunden und es mit etwas Farbe übermalt. Sie strich eine Salbe auf den Arm, stand langsam auf, um nicht hinzufallen und verließ das Zimmer. Wieder war ein Wochenende vorbei, dachte sie, und verschloss die Tür sorgfältig hinter sich, ihr kleines Geheimnis.

„Unter Drogen findet man nicht sich selbst, sondern nur den Teufel.“ – Konstantin Wecker

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