Der Traum (3) Diesen Artikel drucken

Sie lehnte sich vorsichtig in sich selbst zurück. Die Sequenzen waren ihr vertraut, sie überlagerten, schienen einem geheimen Algorithmus nach um sie zu rotieren, sich abzuwechseln wie Bilder eines Kaleidoskops. Doch ihre Entspannung war die einer Totgeweihten, die sich der Unausweichlichkeit des Endes bewusst wurde. Oft hatte sie versucht zu fliehen, den Bildern zu entgehen, zu erwachen, doch es war immer sinnlos, das Aufwachen wurde zum Wiedererwachen oder besser zum Widererwachen, zur Rückkehr in den Traum. Ja, man könnte es Wideraufwachen nennen, in einer metallisch-kalt sarkastischen Umkehrung des ursprünglichen Begriffs, dachte sie in einem Moment der Ruhe.
Aber es ging irgendwann vorbei, sie wusste das auf die merkwürdige halb-bewusste Weise, auf die man manche Dinge einfach ahnt, ohne zu wissen warum, und deshalb ertrug sie es jedes Mal, ließ es routiniert zu.
Es war nicht etwa so, dass sie sich des Vorgangs des Träumens bewusst war, hatte sie einmal festgestellt, vielmehr schien sie in den Bildern aufzugehen, wurde Betrachter und Teil des Bildes zugleich, eine sehr verzehrte Perspektive, wie sie fand.
Escher. Das erinnerte sie an einen Künstler namens Escher.
Die klarer werdende Bilderfront, die sie zum Teil selbst war, zwang ihren Verstand wieder zurück in die Defensive, Reflexion wurde ersetzt durch unreflektierbare Wahrnehmung.
Eine Armee aus hundert Augen oder mehr, starrend, durch die Dunkelheit rollend auf hammerförmigen Füßen, wie Pendel auf und ab schlagend, auf und ab, auf und ab, ein bedrohlicher Nebel aus Pupillen, der sich gleichförmig und ewig auf alles und jeden zu bewegte. Doch nicht dieser Nebel war es, der die Szene dominierte, sondern das Stampfen der Füße, seltsam abgehackt, wie mit einem schlechten Synthesizer erzeugt. Dann ein rascher Wechsel, der Nebel wurde substanzieller, schien unsichtbar zu glühen in der ohnehin herrschenden Dunkelheit. Sie hätte nicht hinblicken müssen, um zu wissen, was es war, sie wusste es ohnehin, aber abwenden konnte sie sich unmöglich.
Ein schwarzer Wolf mit giftig-glänzendem Fell, dass eher an eine Maschine erinnerte, an die glänzenden Klingen der riesigen Stahlungetüme, die in ihrer Kindheit schwarzes Gestein aus den umliegenden Gruben gefördert hatten.
Einmal hatte sie schweißgebadet wachend über diesen Wolf gelacht, er war eine interessante, eine intelligente Projektion ihres Unterbewusstseins, wie sie fand, eine irrsinnige Verknüpfung von Grimms‘ Perversionen und der kühl-strebenden Technologie der Neuzeit, eine postmoderne Variante oder besser Version von Rotkäppchen.
Und tatsächlich, wieder und immer wieder und auch dieses Mal formte sich einen zweite Gestalt aus der Dunkelheit, ein kleines Mädchen mit leuchtend-blutroten Flecken auf der weißen Bluse und panischen, fliehenden Augen, wehrlos.
Und da war doch ein Unterschied zu den albtraumhaften Wölfen aus Kinderbüchern, wusste sie, denn dieser Wolf hatte keine verschlagenenen Augen wie der Barkeeper, dessen Silhouette nunmehr fern am Rande ihrer eingeschränkten Wahrnehmung schwebte, nein, diese Augen waren klar umrissen, silbern, in ihnen spiegelte sich eine simple, unverhohlene Bösartigkeit und ein unbändiges Verlangen wider, eine Forderung, die niemand verneinen oder aufschieben konnte, weder sie noch das kleine Mädchen mit dem zerschlagenen Gesicht.
Das war eine Tautologie, sie ahnte es, das Mädchen und sie verschwammen auf eine seltsame Weise, die Perspektive schien unscharf zu wechseln, ihre Ohnmacht und Verzweiflung war auch die des Mädchens – oder umgekehrt, sie hatte es nie heraufgefunden, sie kannte das Mädchen nicht, hoffte sie oder wollte sie hoffen. Das war ein ein Grund, warum sie oft stundenlang in ihrem Bett lag und weinte, wenn sie an dieser Stelle des Traumes erwachte, wenn der Eindruck der unüberwindbaren Gewalt des Wolfes und des Ausgeliefertseins noch frisch in ihrem Bewusstsein war. Sie hatte einmal einen Text gelesen – sie wusste nicht wo, das Träumen legte ihren Erinnerungen Fesseln an- , etwas Metaphysisches über Räume, halb philosophisch, halb esoterisch, über die Krümmung von psychologischen Räumen. Das hatte sie an dieses Wechselbild ihrer Träume erinnert, denn der Wolf schien den Raum regelrecht zu schließen um sich und das Mädchen, er musste sich nicht bewegen, um sich ihr zu nähern, sie schließlich zu verschlingen und in Dunkelheit zu verschwinden, es war der Raum selbst, der ihm das Mädchen zuschob wie ein Wildhüter, der ein Raubtier zufütterte. Als führe er ein Eigenleben.

Sie erwachte schweißgebadet, wie immer, in ihrem Bett, in dem anderen Zimmer, ihrem einzigen Zimmer, was den Rest der Welt anging. Ohne zu zögern öffnete sie ihren Nachtisch, griff nach den Tabletten, die sie darin unter Illustrierten versteckte, die von Königshäusern und Diäten berichteten, sie hatte das irgendwie als beruhigend sarkastisch empfunden.
Ein letztes Bild blieb in ihrem Kopf hängen, bevor die Tabletten wirkten, das kleine Mädchen aus ihren Träumen, aber irgendwie anders, verfremdet, gebrochen vielleicht. Der Wolf schien durch ihre Augen zu schauen.

„Schlafen ist Verdauen der Sinneseindrücke. Träume sind Exkremente.“ – Novalis

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