Und dann herrschte Stille Diesen Artikel drucken

Er konnte es fast schon sehen, fast schon berühren, und seine Gedanken schweiften ab, schweiften zu der Zukunft oder besser zu keiner Zukunft, und er sah silberne Vögel in den Himmel steigen, in der Höhe glitzern, Kondensstreifen aus Verbrennungsrückständen hinter sich lassend, eine Kunstturnerin, die lange Bänder hinter sich herzieht, und ihr Flug beschrieb eine wunderschöne Parabel, wie vom logos selbst konstruiert, doch jetzt war es nur in seinem Kopf, nur in seinem Kopf, er musste sich beeilen.
Er huschte um die Ecken, geduckt, die sich warm anschmiegende Waffe in der Hand, und er drückte ab, ein leises Zischen, sonst nichts, und noch ein Körper vor ihm fiel aus der Dunkelheit, ihm entgegengestreckt, die gleiche Uniform, er beachtete sie nicht, er musste weiter, musste zu seinem Ziel, und er würde es erreichen.
Sie hatten es nicht anders verdient, alle, und er würde sich retten, aber er hatte es auch nicht anders verdient und er würde sie alle retten, ein paradoxer Gedanke, natürlich, aber es schien ihm wahr, nein, es war wahr, sie alle hatten es nicht anders verdient und deshalb würde er sie alle retten, sie befreien, und er dachte an die Gräßlichkeiten, die er gesehen hatte, Bilder huschten durch die dunklen Korridore seiner Seele, eine Landmine, ein hungerndes Kind, mit schwarzem Haar und ebensolchen Augen, ein Huhn in einem Käfig, ein Mann in einem Büro, die Krawatte weit heruntergezogen wie ein Richtschwert, weinend, ein Blatt Papier in der Hand, das Gesicht einer Nachbarin aus früheren Tagen, die spöttisch und verachtend über den Zaun blickt, nein, es ging nicht anders. Der Mensch war so, er war so, er war immer so, und er dachte an Kindersoldaten und kleine Mädchen mit wunden Fingern, die Teppiche knüpften und an ältere Kinder, die ihren Krieg in einer Diskothek austrugen, nein, in einem Büro, er verwarf beide Bilder, alle Bilder, sie alle waren äquivalent, sie zeigten das gleiche, etwas, dass er ohnehin kannte, die Grausamkeit und die Schmerzen der Menschen, jedes Menschen, aller Menschen, und er schlich weiter, nicht mehr so verstohlen, es waren keine Wachen mehr da, er hatte gezählt, wusste wieviele es waren, und er wurde sicher, sie hatten ihn nicht bemerkt, nicht gehört, der Alarm war nicht losgegangen, es hatte funktioniert, doch er blieb weiter geduckt.
Seine Füße stoppten vor der Stahltür, und er zog ein Kabel und ein Werkzeug aus seinem schwarzen Rucksack, tat irgendetwas mit der Türsteuerung, er wusste nicht genau, was, achtete nicht darauf, seine Hände taten es selbstständig, und die Tür öffnete sich und schloß sich hinter ihm.
Und er lachte. Lachte, weil er an die Bibel dachte, an den Tag des Jüngsten Gerichts, es war so naiv, so dumm, nein, es würde keinen ewigen Richter geben, es gab ihn nicht, und selbst wenn, sein Lachen wurde träge, selbst wenn, es gab keine Erlösung, kein Mensch würde die Probe bestehen, freigesprochen werden, die Menschen waren alle gleich, er wusste es, hatte es gesehen, und die Bilder spannten sich wieder um seinen Kopf wie ein Strick, er lachte wieder, um sie zu vertreiben, Humanismus, was für eine absurd-zynische Idee, diese Welt und den Menschen in ihr verbessern zu wollen.
Seine Hände berührten das Terminal, entfernten Schrauben, verbanden es mit dem System in seinem Rucksack, lang würde es nicht mehr dauern, er hörte die Sirenen heulen, aber es war zu spät für sie, die ihn aufhalten wollten, nicht auf ihn hören wollten, nichts verstanden, auch wenn es so einfach war. Schmerz und Tod und Grausamkeit herrschten nur dort, wo Leben war, sie waren machtlos ohne Leben. Er würde die Welt verbessern, ihr den ewigen Schlaf schenken, den sie nicht anders verdient hatte und der sie retten würde, das Terminal war fast bereit. Seine Gedanken schweiften wieder zu den Stahlvögeln, es waren nur noch Augenblicke, bis sie ihre imaginären Schwingen ausbreiten würden, auf einem Strahl aus Feuer in den Himmel reiten würden, achttausendeinhundertachtundsiebzig Brüder, die sich nur durch ihre Seriennummern unterschieden und alle auf die gleiche Weise in der Sonne glänzten, und er konnte sehen, wie sie ihre bedächtigen Parabeln am Himmel zogen, um darniederzustürzen, ein jeder auf eine Stadt, pflichtbewusst und in Selbstaufopferung. Und wie gefallene Engel würden sie herabstürzen und die Menschen retten, indem sie niemanden verschont ließen, nur noch Ruinen und Asche und eine unermeßliche Stille ließen.
Sein Finger ruhte schon aus dem Auslöser, er lächelte wissend, ein Klischee, der Auslöser war tatsächlich rot, und er war stolz auf sich, er hatte diese Anlage ausgewählt, sie lange observiert, und er hatte alles funktioniert, er sah nicht nach, ob es die richtigen Sprengköpfe waren, seine Informationen waren zuverlässig, es würde funktionieren. Sein Kopf begann in Trance zu rechnen, Achttausendeinhundertachtundsiebzig mal zweihundertfünzig Megatonnen, es würde reichen, die Erde würde lichterloh brennen, so hell brennen, dass jeder es sehen könnte.
Ein letztes Bild gestattete er sich, das Antlitz einer Frau, alt und vergilbt, tot und begraben, dann vollendete er es.
Heute war der Tag des Jüngsten Gerichts, und ein jeder würde vor dem Richter versagen und gerettet werden.
Achttausendeinhundertachtundsiebzig Stahlvögel schoßen in den Himmel, flogen davon. Und dann herrschte Stille.

„Alles Leben ist Leiden“* – Siddhartha Gautama

post scriptum: /single shot sind kurze, einprägsame Geschichten, die keinen direkten (wohl aber indirekten) Bezug zu den zusammenhängenden Texten haben.

* Interpretation des Autors. Buddhas Intention war mit großer Sicherheit nicht so absolut, wie es im Kontext der Geschichte erscheinen mag.

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