Das Vlies Diesen Artikel drucken

Die Farben sind prächtig, die Muster von seltsam krummer, komplizierter Ästhetik. Man könnte sich darin verlieren, schlecht könnte es einem werden, wenn man zu lange den winzigen Strukturen folgt, im Sturzflug in immer winzigere Stickereien abgleitet wie in die Untiefen eines Fraktals.
Doch an diesem Stück ist nichts mathematisch; rechte Winkel sind hier unbekannt, alles windet sich, fließt sogar, wenn man die Augen halb schließt und nur vorsichtig darüber hinweg sieht. Viele Webknechte, Sticker und Schneider hat es gebraucht, um dieses Werk zu vollenden, das nie ganz fertiggestellt ist oder im Moment seiner Vollendung vergeht. Unzählige Materialien sind verwandt worden, exotische sind darunter, solche, die man nicht kaufen kann, Geduld etwa, oder Jähzorn, manchmal sogar Versprechen. Die meisten kann man nicht mehr erkennen, sind sie einmal in das Werk eingeflossen, dafür sind sie trotz der farbenfrohen Struktur nicht ausdrucksstark genug, oder genauer; sie lassen sich nicht mehr trennen, die Abstufungen zwischen ihnen verschwinden.
Und jeder der Arbeiter, so kurz er auch an dem Vlies beteiligt war, ob er nun ein Meister seines Faches war oder nur ein Laie, dem man die Nadeln kurz überlassen hat, hat seine Signatur, seine Spur im Vlies hinterlassen; nichts davon ist verloren, auch wenn vieles nicht leicht oder gar nicht mehr aufzufinden ist, wenn man nicht zufällig darüber stolpert: So tief sind die Arbeiten, gerade die kleinen, manchmal aber auch die großen Flächen, mit den anderen Teilen des Werkes verwoben. Mancher Laie ist für den winzigen Bogen eines kaum zu erkennenden Ornaments verantwortlich gewesen; mit einer Lupe erkennt man leicht seine Handschrift, hat man die Stelle erst einmal ausgemacht. Doch auch die riesigen Muster verschwinden manchmal unter den Hunderten und Tausenden von Stickereien über ihnen; man muss das Vlies schon aus großer Entfernung sehen und man muss auch wissen, was man sucht, dann kann man es erkennen, es ist verborgen wie die Muster von Nazca.
Andere Arbeiten sind leichter zu erkennen; meist sind es die, die zuerst ausgeführt wurden. Nicht, dass es dafür einen Plan gäbe. Es kann 80, 100 Jahre dauern, bis alles getan ist; manchmal geschieht jahrelang scheinbar nichts, nur mit einer Lupe kann man dann die Veränderungen erkennen, die tagtäglich eingeflochten werden. Doch zumeist sind es die ersten Künstler, die das Gesamtbild bestimmen; viel wird sich noch daran verändern, aber die ersten Jahre der Schaffenszeit legen so etwas wie das grundlegende Motiv, das Thema des Werks fest. Ist es schlampig oder hektisch eingewoben worden, so braucht es schon gute und liebevolle Sticker, um wenigstens noch etwas zu retten. Sieht man später darauf, wenn die ersten der Künstler schon lange gegangen sind, wird man das Grundmotiv leicht erkennen, und so fällt es schwer, es später zu verbergen. Natürlich kommt es auch immer wieder zu Unfällen; dann waren sich die verschiedenen Autoren uneins, wie sie ein Ornament zu führen haben, oder man hat sich einfach nicht darüber abgesprochen. Manchmal schleichen sich auch unmotivierte oder sogar schlechte gesinnte Handwerker ein und zerstören das feine Gewebe an einigen Stellen mit ihren Exzessen. So können von Zeit zu Zeit Versetzungslinien oder sogar dunkle Scharten im Gewebe entstehen; entscheidend ist dann immer die Kunstfertigkeit und Hingabe der später kommenden Akteure. Verstehen sie etwas von dem Werk, so können sie wieder kitten; eine Windung hier, eine scharfe Kurve dort, schon ist alles wieder integriert. Gerade dieses Chaos, dieses Aufeinanderfolgen von Bruch, Umbruch und Vereinigung geben jedem einzelnen Werk eine ganz eigene, seltsame Schönheit; ohne Trennungslinien, ohne Wiedergutmachungsfäden und Vergebungsflicken wäre das Vlies symmetrisch geblieben, und sein wahrer Ausdruck wäre nie zur Geltung gekommen. In der Wandlung liegt das Leben, nicht in der Strenge gerader Linien.
Und so geht es bei dieser Art von Kunst auch nicht um die Fertigstellung; die meisten Besucher kommen schon während der Schaffenszeit, sogar schon, wenn erst wenige, grobe Muster zu erkennen sind. Ihnen geht es nicht um das Sein, sondern um das Werden des Werks, viele von ihnen werden sich später selbst daran beteiligen, ihren Fingerabdruck im Gewebe hinterlassen. Andere kommen nur, um den Fortschritt zu sehen, der sich seit ihrem Fortgehen ereignet hat. Vielleicht suchen sie unter den vielfältigen Ornamenten die groben Muster, die sie einst eingeprägt haben, oder wollen sich nur vergewissern, dass ihre alten Fehler von anderen korrigiert oder besser: integriert wurden. Alles ist wiederzufinden; es mag schwer zu erkennen sein, aber kein Quentchen Leben, dass im Vlies gewirkt hat, ist verloren. Der Stoff erinnert sich selbst an das Kleinste, auf eine geheime, kunstvolle Art: Alles ist da, verborgen in den Details.

2 Antworten zu “Das Vlies”

  1. Antsan sagt:

    Sorry, ist nicht nett die schöne Metapher gleich zu zerlegen, aber irgendwie will ich jetzt wissen, ob ich richtig liege…
    Kommt mir vor wie die Menschheitsgeschichte. Und es gefällt mir.

  2. Ja, so könnte man es lesen. Man könnte auch von der Menschseingeschichte sprechen. Jedes Leben ist ein Vlies 🙂

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