Nicht nur Menschen
Sie erkennen sich auf der Straße, nur am Blick, ein unsichtbares Nicken, du also auch. Da ist etwas Gefrorenes in ihren Augen, etwas Unmenschliches, etwas, das schon immer dem Hass gehörte, blind für das Leben, taub für Vergebung. Die meisten anderen Menschen haben schon von ihnen gehört, aber sie knüpfen Erwartungen an diese spezielle Spezies, wie sie sich vielleicht selber nennen würden, sie verknüpfen dieses Gefrorene mit Klischees, Bomberjacken, fremdländischen Flüchen, schlechter Kindheit vielleicht. Aber so einfach ist es nicht, und so gehen diese Einschätzungen oft fehl. Natürlich, es gibt sie, die offensichtlichen unter ihnen, die breitschultrig durch die Städte ziehen und jedem klarzumachen suchen, auf welcher Seite sie stehen, aber es sind nur wenige. Viele von ihnen tragen Anzüge und Aktenkoffer, selbst im Schlaf, gehorchen den Regeln, ewigen Regeln des Marktes, andere tragen Montagekleidung, manche Uniformen. Einige sind Außenseiter, wie sie kalt lächelnd sagen, sich dabei über die kahlgeschorenen Schädel fahren. Eigentlich sind sie ganz unabhängig von sozialem Status, von Einkommen, von politischen Haltungen und Dresscodes, von Hautfarben.
Vielleicht wurden sie schon so geboren, aber das wäre ein wenig zynisch, es erschiene unfair, nicht wahr, es wäre auch zu einfach, würde ihnen in die Hände spielen. Aber die Wahrheit ist; niemand weiß es genau. Gerne erzählt man von Arbeitslosigkeit, von strukturschwachen Regionen, von trinkenden Mütter und schlagenden Väter, und liebend gerne glaubt man all das, weil es Sicherheit bietet, es scheint den Kreis derer einzukreisen, die dieses besondere haben, dieses Gefährliche, das Außenstehende immer nur zu spät erkennen. Doch es ist eine falsche Sicherheit; ob Erklärungsmodelle der Moderne oder Prophezeiungen der alten Zeiten, sie alle gingen immer fehl.
Auch sie selbst wissen wohl kaum, warum sie so sind. Wer diese Gnadenlosigkeit hinter ihre Stirn gepflanzt hat. Was sie antreibt.
Klar ist nur, man hat sich Millionen von Bildern gemacht von ihnen; versucht, dieses Grauen, dieses Grausame einzufangen. Wenn im Film dort jemand einen am Boden liegenden tritt, so soll das einen von ihnen darstellen. Der Serienkiller im Abendprogramm, auch er ist einer von ihnen. Vielleicht war die Geschichte Kains eines der ersten Bilder. Manche würde sagen, Kain sei der erste unter ihnen gewesen.
Und es bleibt erstaunlich; trotz all dieser Vorstellungen, dieser Albträume, die Vorstellung bleibt vage. Selbst das sprachliche Vermögen bleibt unstet und nebulös, es zu benennen scheint unmöglich. Als eine gewisse Art der Gnadenlosigkeit könnte man sie beschreiben, diese Gemeinsamkeit, dieses Wesensgleiche, aber das bliebe eine Umschreibung, eine unsichere Begrenzung, mehr nicht. Das Böse hat man es früher genannt, vor der technischen Revolution, aber dieser Begriff ist obsolet, untergegangen im Fluss von Zwecken, Zielen, Rechtfertigungen.
Und dennoch, da bleibt etwas übrig, ein non-kausaler Rest bleibt von dem, was ansonsten wegerklärt wurde in der Rationalisierung der menschlichen Motive, etwas Unaussprechliches, ein kleiner Funken, dem der Begriff des Bösen vielleicht nie wirklich Bedeutung verleihen konnte. Nur Bilder helfen noch in der Wortlosigkeit, Bilder gesammelt in Jahrtausenden Menschheitsgeschichte. Religiöse Symbole sind darunter, Bilder von Teufel, Dämonen, abstrakten Gestalten spiritueller, naiver Boshaftigkeit. Und später auch die Zeichen einer anderen, totalitären Form, Fotos von zerstörten Städten, von Lagern, von düsteren Gräben voller Schlamm und Tod, in deren Kontext Begriffe wie ‚Sünde‘ oder ‚Hölle‘ nicht mehr zu passen scheinen, ersetzt worden sind durch die Befehls- und Handlungsketten von Ideologien und Prinzipien. Auch Darstellungen von Hungernden sind dabei, von Verdurstenden, von Menschen, die durch den Müll einer anderen Nation krank geworden sind. Andere Zeiten, andere Menschen, andere Bilder, andere Worte – Totalitarismus, Ideologie, Profitdenken, Gewinnmaximierung, Perspektivlosigkeit, Fundamentalismus.
Und obwohl all diese Worte und die mit ihnen verknüpften Konstrukte verschieden zu sein schienen, verschleierten sie doch eine Ähnlichkeit – eine diffuse, nicht greifbare Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit des Charakters, nicht der Oberflächen, etwa so wie die Ähnlichkeit zwischen entstellten Zwillingen.
Mit naiven Termen von Moral oder Antimoral wäre sie nicht zu fassen, diese Eigenart, auch wenn sich manche der Menschen, die sie tragen, dafür zu eignen scheinen.
Die meisten jedoch bewegen sich ganz und gar außerhalb solcher Begrifflichkeiten, ihre Taten decken sie durch Diskurslosigkeit, durch Nicht-Reflexion. Oder sie deuten sie ganz im Rahmen eines moralisches Systems, eines, dass sie sich selbst nach Belieben wählen; so ist es mit Inquisitoren, mit Faschisten, mit Bankkaufleuten, manchmal sogar mit Umweltaktivisten.
Die Wahrheit ist; es gibt keine klaren Erkennungszeichen. Sie müssen keine Waffen tragen. Es braucht keine politischen oder ethischen Bekenntnisse, auch Tätowierungen und Abzeichen liefern keine Sicherheit. Darüber kann man ins Grübeln verfallen; Manche denken gar, jeder könnte einer von ihnen sein, und vielleicht stimmt das auch. Vielleicht ist es sogar schlimmer – jeder von uns ist einer von ihnen, oder könnte so werden wie sie. Vielleicht dienen all die Bilder in Wirklichkeit dazu, uns vor uns selbst in Sicherheit zu wiegen.
EDIT: Lesetipp zu diesem Thema; Louis Borges – Deutsches Requiem und Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität.
[…] oder verkaufen kann, wenn er nicht das > Zeichen hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines > Namens. Damit diese Vorhersage der Bibel Wirklichkeit wird, muß aber zuerst 1 Mann die […]
Aus einer Diskussion über den Text; „Die Differenz zwischen Mensch und deterministischer Maschine heißt freier Wille oder genauer: Bösartigkeit.“