Der arme Hass

Diesen Artikel drucken 12. Februar 2009

Wieviel klarer könnte eine Empfindung noch sein? Einzig und allein ihr Gegenteil besitzt die gleiche (eine größere?) Klarheit und Einfachheit. Spricht man von ihr, muss man eigentlich nichts mehr erklären; das warum ist vielleicht noch eine Frage wert, aber das betrifft das Gefühl selbst nicht, ist nur eine Ergänzung, eine kontingente Information, die ebenso zum Hass gehört wie die Ursache des Unfalls zum Unfall selbst; man mag danach fragen, vielleicht ist es sogar vernünftig, nach einer Antwort zu verlangen, aber wenn man sie hat, ändert das nichts. Aber schon in der Frage selbst unterscheidet sich Hass von seinem Gegenteil: man kann fragen, warum jemand liebt, aber die Frage selbst ist schon widersprüchlich.
Und vielleicht ist dieser Unterschied der Ursprung der Armut. Sicher, oft haben wir gute Gründe zu hassen: manchmal glauben wir das auch nur, aber oftmals mag es stimmen. Vielleicht verhält es sich so bei Kriegstreibern; bei Mördern; bei kalt rechnenden Bürokraten. Wenn es nicht zynisch wäre, könnten wir sagen, es sei klug, vielleicht sogar gut, diese Menschen zu hassen.
Wir gehen gern in diese Falle. Es scheint uns logisch: ist es nicht gerecht, diese Menschen zu hassen? Kann man uns dafür verdammen, dass wir diese Kreaturen, diesen Abschaum hassen? Und dann hat uns die Armut auch schon.
Es ist keine Armut des Geistes, auch keine der Worte oder der Antworten. Nein, alles ist ganz klar und einfach, so wie die Empfindung selbst. Aber sie reicht nicht aus, nicht einmal sich selbst, und darin besteht die Armut.
Wir denken an einen anderen, an das Objekt unseres Hasses. Wir denken an diese verhassten Taten, diese verhasste Art. Vielleicht geschieht es, während wir die Nachrichten schauen. Wir sehen das Gesicht eines Vergewaltigers oder Kriegsverbrechers – und dann hassen wir. Das dreckige Grinsen dieser Fratze stiert uns zuerst aus dem Bildschirm, dann aus dem Inneren unseres Kopfes an. Und die Fratze hat einen Mund. Sie hat Wangen und Ohren. Sie hat Augen. Sie steckt auf einem Hals, der auf einem Oberkörper ruht. An diesem sind Arme und Beine befestigt, an denen ihrerseits wiederum Hände und Füße mit Fingern und Zehen hängen. Alles ist gebildet von Haut und Fleisch, darunter von Knochen und Gelenken.
Wie wir es auch drehen wollen, diese Kreatur, dieses Objekt unseres Hasses ist – ein Mensch. Und bleibt ein Mensch.
Aber ist sie nicht doch ganz anders als wir? Müsste sie es nicht sein? Ist sie nicht ein Dämon, eine ganz andere Art von Wesen als wir? Wir schauen noch einmal auf das Bild: kein Dämon, ein Mensch. Ein verstörender Gedanke kommt uns: vielleicht sind wir ihr ähnlich. Aber das kann nicht sein: sie kann nicht sein wie wir. Und doch sieht sie so aus wie wir, isst wie wir, geht wie wir. Sie kleidet sich so wie ein Mensch: Sie spricht unsere Sprache.
Und dann bleibt nur noch eins: Wir müssen es ändern. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Ding, dieses Höllenwesen uns nicht mehr ähnelt: es reicht nicht, es zu hassen. Denn das schafft einen Unterschied, einen Graben zwischen uns und ihm, der sich in der Wirklichkeit – noch – nicht wiederfindet. Noch nicht. Vielleicht würde es schon reichen, wenn die Kreatur eingesperrt wäre. Vielleicht wäre das Differenz genug. Aber reicht das wirklich aus? Wahrscheinlich nicht. Schließlich spricht sie immer noch unsere Sprache, hat einen Körper, der unserem ähnlich ist. Was mehr könnten wir tun? Wir könnten ihm das Recht nehmen, zu sprechen; zu gehen; zu essen. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Wir lassen sie hungern, und schon ist ihre abgemagerte Kontur der unseren nicht mehr so verwandt. Wir prügeln die Sprache aus ihr heraus. Was dann noch an Gestammel bleibt, erinnert kaum noch an die schönen Worte, die wir verwenden. Wir brechen ihr die Beine, und schon kann sie uns auch das Gehen nicht mehr gleichtun.
Aber ist das genug? Ist der Abstand zwischen uns und ihr groß genug? Ist da nicht immer noch der Hass, der uns sagt, dass dieses Ding nicht einmal in der Erinnerung mit uns verwandt sein darf? Und hat sie nicht immer noch unsere Gliedmaßen? Immer noch Augen, die uns auf so vertraute Weise anstarren?
Es reicht nicht, es reicht immer noch nicht: Es wird nie reichen. Wir können ihr die Augen ausbrennen, die Gliedmaßen abschneiden, wir können sie ermorden. Sie bleibt ein Mensch.
Hass ist arm; ihm fehlt die Wirklichkeit. Er muss sie schaffen. Immer weiter schaffen.

Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

Die schwarze Stadt

Diesen Artikel drucken 5. Januar 2009

Es muss in der Bar gewesen sein; ja, in der Bar war es. Ich saß auf einem Schemel und ließ die Eiswürfel in meinem Glas leise klimpern, als ich zum ersten Mal davon hörte. Mein Spanisch ist schlecht, um nicht zu sagen grausig, aber ich hatte schon eine Weile versucht dem Gespräch zweier älterer Männer zu folgen, und so verstand ich zumindest die Worte ciuadad und negra. Etwas an dem Ausdruck war mir seltsam vertraut, ich war nicht überrascht, ihn zu hören, ich weiß nicht, warum. Vielleicht, so denke ich jetzt, hatte ich ihn viel früher schon einmal gehört, wer weiß. Zu diesem Zeitpunkt schenkte ich dem Detail kaum Aufmerksamkeit; es irritierte mich ein wenig, aber nicht mehr als die winzigen Zufälle, die uns täglich begegnen; ich hörte einfach weiter interessiert zu.
Je länger ich lauschte, desto mehr Worte verstand ich. Die beiden sprachen schnell, und offenbar hatten sie getrunken, aber nach einer Weile schnappte ich immer mehr Worte auf, zunächst nur einfache; avenida, calle, casa und immer wieder la ciudad negra. Schließlich war ich überrascht, dass ich sogar ganze Sätze verstand. Wie gesagt, ich spreche kaum Spanisch und verstehe wenig mehr. Dennoch wurden aus den Silben Worte, aus den Worten Sätze, schließlich war es fast so, als würden die beiden Englisch miteinander sprechen, und ich folgte ihrem Gespräch mühelos.

La ciudad negra

Schnell begriff ich, dass die beiden scheinbar nur über Architektur oder etwas Ähnliches redeten. Sie sprachen nur von Gebäuden, Straßenecken, schienen sich die Lage von Häusern oder Plätzen zu erklären; einmal ging es um eine Kirche und den nicht endenden Pfad, der sich um ihre Türme zog. Ein anderes Mal sprachen sie über die Kurven einer breiten Straße am Meer, deren Windungen immer wieder in die selbe Richtung wiesen. Es dauerte einige Minuten, bis ich ganz begriff; ich sah die kleinen, fast unsichtbaren Handbewegungen der Alten auf dem Tisch, erkannte die Linien, die sie damit zeichneten. Offenbar erklärten sie sich gegenseitig ein Straßennetz; Ich weiß nicht, warum sie es taten, aber sie taten es unentwegt, mit stakkatohaften, montonen Stimmen.
Ich muss dort lange gesessen haben, während ich nur zuhörte; das Gespräch war mir unheimlich, aber ich konnte mich nicht abwenden oder aufstehen. Es war nicht allein die Tatsache, dass ich plötzlich das Spanisch alter Einheimischer verstand, die mich frösteln ließ. Es war die Art, wie sie von den Straßen dieser fremden Stadt sprachen. Sie machten keine Pausen; sie redeten und redeten, ohne auch nur aufzublicken, wenn jemand hereinkam. Dabei war ihr Blick immer fern, so, als ob es sie nicht willentlich davon sprechen würden, als ob sie jemand oder etwas dazu zwingen würde. Meine Anspannung wuchs, ohne dass ich der Situation hätte entgehen können: Ich erwischte mich selbst dabei, wie ich mit meinen Fingernägeln Straßen und Kanäle in meine Serviette ritzte, ganz in der Anordnung, wie sie die Alten beschrieben. Vielleicht waren es zwei Stunden, die ich dort saß; vielleicht war es auch weniger Zeit, vielleicht mehr.

Schließlich sprang ich von meinem Tisch auf: Es war mir augenblicklich peinlich, so zu reagieren, aber ich konnte nicht anders, denke ich. Alle im Raum verharrten einen Moment in der Bewegung und starrten mich an, sogar die Alten. Ich versuchte wohl zu lächeln und ging langsam zur Theke, ich wollte nur noch raus aus der Bar, raus an die frische Luft. Als ich zahlte sah ich, dass die beiden Männer mich immer noch anschauten: Unwillkürlich nickte ich ihnen zu, sie nickten zurück und starrten. Ich nahm mein Wechselgeld und sah noch einmal zu den Alten herüber; ein Wort las ich auf ihren Lippen, sie raunten es sich offenbar zu: ciuadadono, Bürger. Ich wand mich zur Tür und spürte immer noch ihre Blicke. Für einen Moment lang wollte ich losrennen, die Bar und diese grässlichen Männer endlich hinter mir lassen; aber dann besann ich mich und hielt direkt auf die beiden zu. Etwas verblüfft bemerkte ich, wieviel Mühe es mir bereitete, die Frage in verständlichem Spanisch zu stellen: Qué estad la ciudad negra?
Ich glaube, meine Aussprache war so schlecht, dass sie einen Augenblick brauchten, um mich zu verstehen, denn für eine oder zwei Sekunden sahen sie mich nur verständnislos an. Dann jedoch fingen sie an zu schreien und zu fluchen.
Ich weiß nicht, was sie sagten und schrien; dem Klang nach waren es sicher üble Flüche und Schimpfwörter, aber ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ich versuchte, sie auf Englisch zu beruhigen, aber es gelang mir nicht. Wütend redeten sie auf mich ein und gestikulierten mit ihren rauchschwarzen Händen wild in der Luft. Ich konnte den Hass in ihren Augen sehen; es war eine seltsame Art von Hass, und schon damals glaubte ich, ein wenig Neid darin zu erkennen. Vielleicht hätten sie mich geschlagen, wenn sie genug Zeit gehabt hätten, ich weiß es nicht: Der Barkeeper stand plötzlich zwischen uns und schob mich zur Tür raus; auf Englisch deutete er mir, schnell zu gehen. Ich hörte ihre wütenden Schreie noch Hunderte von Metern weit.
Dennoch, der brenzligen Situation knapp entgangen, war ich wieder etwas entspannt, fast euphorisch. Mei seltsames Erlebnis in der Bar erschien mir plötzlich ganz unwesentlich, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Daran erinnere ich mich gut; es war eine klare Nacht, und der Mond stand hell am Himmel. Ich pfiff wohl ein Lied, auch wenn ich nicht mehr genau weiß, welches. Die beiden Alten begegneten mir nicht auf dem Weg zum Meer, und das beruhigte mich noch mehr. Die einzigen anderen Menschen auf den Straßen hielten Abstand zu mir und hatten die Köpfe tief gesenkt: Damals glaubte ich, sie hätten vielleicht Angst vor mir, immerhin bin ich recht groß geraten.

Schließlich passierte ich den Park, den ich schon am Tage mehrfach durchquert hatte. Bevor ich ihn betrat, blieb ich einen Moment lang stehen, um nach Geräuschen nach lauschen; aber ich hörte nichts, und so hielt ich die Passage für ungefährlich. Ich war bereits fast am anderen Ende der Anlage, als ich das Kichern und Glucksen hörte. Im ersten Moment erschreckte es mich furchtbar, weil es zuvor so still gewesen war. Ich sah zu einer der Laternen hinüber, die den Park säumten, und fand die Quelle der seltsamen Laute: es war eine ältere Frau, ihr Alter war schwer zu schätzen, aber alt war sie in jedem Fall, mindestens 60 Jahre alt. Im fahlen Licht der Laterne konnte ich ihre an den Schultern deutlich abgemagerte Gestalt erkennen; Sie trug Fetzen von grau-weißen Tüchern und Stoffen, einige Löcher schienen mit Zeitungen geflickt worden zu sein; vor sich her schob sie einen alten Kinderwagen, der bis zum Rand mit einem schwarzen Material gefüllt zu sein schien. Heute glaube ich, dass es Kohle war; damals konnte ich es nicht einordnen, und in diesem Moment war es mir auch nicht so wichtig. Was mir damals zuerst ins Auge sprang, das war der längliche, schwarze Strich, der sich durch ihr verwittertes kleines Gesicht zog: er war etwa daumendick und führt von der Wange bis hoch auf die Stirn.
Die Frau kicherte nur weiter, während ich mich ihr näherte; erst, als ich sie passierte, sprach sie mit mir. Auch du wirst bald die schwarze Stadt kennen, Markus.
sagte sie in etwas stockendem Deutsch, und ich blieb schlagartig stehen. Sie sagte es nicht noch einmal, kicherte nur wieder und humpelte langsam mit dem quietschenden Wagen voran. Ich war mir sicher, dass ich mich nicht verhört hatte, aber ich wagte nicht, sie danach zu fragen. In meiner Erinnerung blieb ich dort einige Sekunden stehen. Ich hörte nur meinen unruhigen Atem, das Kichern der Alten und das Quietschen der kleinen Räder. Schließlich ging ich weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen: ich bemühte mich, nicht zu laufen, aber ich ging so schnell ich konnte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich unterwegs war; es waren nur einige Hundert Meter zu den Hotels, aber in meiner Erinnerung ist es viel ausgedehnter, ohne dass ich sagen könnte, was daran größer oder länger war. Aber ich weiß, dass ich irgendwann wieder an der Kreuzung kurz vor dem Strand stand und bemerkte, wie sich mein Atem wieder beruhigte.
Hier war alles ruhig; die riesigen Hotelburgen lagen da und schlummerten ebenso wie die meisten ihrer Bewohner. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch schwaches Licht, ansonsten gab es nur die gelbliche Straßenbeleuchtung und das Flackern der Orientierungslampen auf den Dächern. Ich musste an die beiden Männer in der Bar denken, glaube ich; ich lachte ein wenig über mich selbst und über die alte Frau im Park. Es waren sicher Zufälle gewesen, seltsame Zufälle, das dachte ich. Dann drehte ich mich um und sah die Ruine.
Sie war mir bei meinen früheren Spaziergängen nie aufgefallen, und deshalb starrte ich überrascht auf die halbfertigen Stockwerke, die vor mir in den Himmel ragten. Etwas war seltsam an diesem Ding, das wusste ich sofort; es waren die Winkel oder vielleicht auch die Proportionen, sie schienen nicht so recht zu passen. Die Außenwände und die Böden der Etagen wirkten verzogen, als hätte man sie nicht wirklich für den Gebrauch gebaut, sondern nur um einen Effekt zu erzielen. Aber am erstaunlichsten waren die schwarzen Löcher in der Fassade, in denen wohl eigentlich Fenster stecken sollten. Sie waren krumm und ellipsenförmig; für einen Moment lange erkannte ich darin die Pervertierung menschlicher Augen, aber dazu fehlten die Pupillen oder irgendetwas anderes, das den Blick hätte fangen können. Ich muss eine Weile in die Fensteröffnungen gestarrt haben, aber da war nichts, nichts als Dunkelheit.
Als ich mich umdrehte, war das Licht der Straßenlaternen verschwunden. Ich weiß nicht, wann sie ausgeschaltet wurden; ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich ausgeschaltet waren. Es war stockdunkel; das Licht hinter den Fenstern der Hotelburgen, die roten Blinklichter auf den Dächer, verschwunden. Selbst den Mond konnte ich nicht mehr sehen. Ich lief auf die andere Straßenseite, zu dem Hotel, das ich dort eben noch hell gesehen hatte. Aber als ich in der Dunkelheit etwas erkennen konnte, da sah ich nur wieder eine Ruine, eine Ruine mit verzogenen Wänden und Löchern, wo Fenster sein sollten.
Die Panik erfasste mich ganz: ich lief los, ohne zu wissen wohin, immer weiter die Straße entlang. Nach links und rechts sah ich aus den Augenwinkeln immer nur die gitterförmigen Betonfassaden mit den gähnenden schwarzen Löchern darin, kein bewohntes Haus, nichts, nur die Ruinen. Zweimal stolperte ich, einmal schlug ich mir den Arm auf, aber ich lief weiter. Ich muss eine ganze Weile gerannt sein, denn obwohl sich an dem, was ich um mich herum zu meinem Entsetzen sah, nichts änderte, schwand meine Panik allmählich. Schließlich lief ich langsamer, bis ich wieder ging. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber immerhin war ich wieder so ruhig, dass ich mich umschauen konnte; die Ruinen schienen mir nicht alle gleich zu sein, das fiel mir auf. Die, die ich zuerst gesehen hatte, war wirklich wie ein Hotel-Rohbau gewesen. Es gab aber auch Ruinen, die alten Gebäuden ähnelten; ich erkannte eine Kirche, eine Schule. Dann sah ich auch einen Supermarkt, zumindest hielt ich es für einen. Die Straße, der ich gefolgt war (ich glaube, ich bin nirgendwo abgebogen), war kurvig, und ein Instinkt weckte in mir den Verdacht, dass sie an irgendeinem Punkt wieder im Kreis führen musste; aber das ist nur ein Gefühl, und das muss nicht stimmen. Ich wusste nicht, wo ich war; ich war in einer verlassenen Stadt, oder so etwas ähnlichem, aber ich wusste nicht, wie ich von dort wegkommen sollte – oder wie ich dort hingekommen war.

Als ich den ersten Menschen sah, der mir auf der Straße entgegenkam, war ich froh. Fast wäre ich auf ihn zugelaufen, aber ich wollte ihm keine Angst machen und wartete deshalb geduldig, um ihn nach dem Weg zu fragen. Erst als ich ganz nah bei ihm war, sah ich den Strich. Die Angst legte sich wieder um meine Beine. Irgendein Laut entwich mir, ein Seufzen vielleicht oder ein überraschtes Pfeifen, dann war ich stumm. Das Wesen sah kurz zu mir auf; ich konnte keine Regung erkennen, nicht einmal ein Erkennen oder ein Fokussieren. Die Augen waren seltsam leer, auf eine vertraute Weise, und erst jetzt konnte ich auch hören, dass das Wesen unentwegt sprach. Ich verstand seine Worte sofort, ich weiß nicht, ob es Spanisch oder Deutsch war oder irgendeine andere Sprache, ich verstand sie einfach; es sprach von der Stadt, ganz so, wie es die Alten in der Bar getan hatten. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah, wie noch eine Gestalt aus der Dunkelheit kam und langsam die Straße herunterging, dann noch eine, und noch eine, schließlich sah ich viele, alle mit dem Strich durch das Gesicht gezeichnet. Ich sah auch die alte Frau aus dem Park; sie schob immer noch den schmutzigen Kinderwagen vor sich her, aber ihr Kichern war verstummt und vom dem sturren Gemurmel ersetzt worden, dass alle auf den Lippen hatten. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass diese Stadt nicht verlassen war; dies waren ihre Bewohner.
Ich weiß nicht, wieviele ich sah; ich weiß nicht, wie lang ich dort stand. Doch als ich loslief, da sah ich den Morgen am Horizont. Ein oder zwei der Wesen muss ich umgerempelt haben, ich erinnere mich daran, ihre Gesichter ganz nah vor mir zu haben; ich erkannte, wie sehr ihre Augen auf diese Entfernung den blinden Fensteröffnungen der Ruinen glichen.
Ich weiß nicht, wohin ich gelaufen bin: als ich morgens erwachte, lag in in einem kleinen, trockenen Graben gegenüber von meinem Hotel. Es war bereits Mittag. Den Kohlestrich auf meiner Stirn bemerkte ich erst vor dem Spiegel im Hotelzimmer. Ich reiste noch am Abend ab: der Portier sah mich nur hilflos an, als ich meine Geschichte erzählte. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat.
Ich habe die Tore der Schwarzen Stadt durchschritten und bin hierher zurückgekehrt; ich weiß nicht, warum sie mich gehen ließ. Manchmal denke ich, dass sie mich nie ganz losgelassen hat. Wenn ich traurig bin, dann spüre ich sie in mir, die Anwesenheit der Straßen und Plätze und Orte oder besser; ihre Abwesenheit. In manchen Augenblicken spüre ich das ganze unaussprechliche Netz der Gassen unter meiner Schädeldecke, die endlosen Ecken und Kurven und Sackgassen, den Puls ihrer entleerten Bewohner. Ich träume von ihr. Ich glaube manchmal, in ihr erwachen zu können; erwachen zu müssen. Vielleicht habe ich die Stadt nie verlassen.

Nicht nur Menschen

Diesen Artikel drucken 15. September 2008

Sie erkennen sich auf der Straße, nur am Blick, ein unsichtbares Nicken, du also auch. Da ist etwas Gefrorenes in ihren Augen, etwas Unmenschliches, etwas, das schon immer dem Hass gehörte, blind für das Leben, taub für Vergebung. Die meisten anderen Menschen haben schon von ihnen gehört, aber sie knüpfen Erwartungen an diese spezielle Spezies, wie sie sich vielleicht selber nennen würden, sie verknüpfen dieses Gefrorene mit Klischees, Bomberjacken, fremdländischen Flüchen, schlechter Kindheit vielleicht. Aber so einfach ist es nicht, und so gehen diese Einschätzungen oft fehl. Natürlich, es gibt sie, die offensichtlichen unter ihnen, die breitschultrig durch die Städte ziehen und jedem klarzumachen suchen, auf welcher Seite sie stehen, aber es sind nur wenige. Viele von ihnen tragen Anzüge und Aktenkoffer, selbst im Schlaf, gehorchen den Regeln, ewigen Regeln des Marktes, andere tragen Montagekleidung, manche Uniformen. Einige sind Außenseiter, wie sie kalt lächelnd sagen, sich dabei über die kahlgeschorenen Schädel fahren. Eigentlich sind sie ganz unabhängig von sozialem Status, von Einkommen, von politischen Haltungen und Dresscodes, von Hautfarben.
Vielleicht wurden sie schon so geboren, aber das wäre ein wenig zynisch, es erschiene unfair, nicht wahr, es wäre auch zu einfach, würde ihnen in die Hände spielen. Aber die Wahrheit ist; niemand weiß es genau. Gerne erzählt man von Arbeitslosigkeit, von strukturschwachen Regionen, von trinkenden Mütter und schlagenden Väter, und liebend gerne glaubt man all das, weil es Sicherheit bietet, es scheint den Kreis derer einzukreisen, die dieses besondere haben, dieses Gefährliche, das Außenstehende immer nur zu spät erkennen. Doch es ist eine falsche Sicherheit; ob Erklärungsmodelle der Moderne oder Prophezeiungen der alten Zeiten, sie alle gingen immer fehl.
Auch sie selbst wissen wohl kaum, warum sie so sind. Wer diese Gnadenlosigkeit hinter ihre Stirn gepflanzt hat. Was sie antreibt.
Klar ist nur, man hat sich Millionen von Bildern gemacht von ihnen; versucht, dieses Grauen, dieses Grausame einzufangen. Wenn im Film dort jemand einen am Boden liegenden tritt, so soll das einen von ihnen darstellen. Der Serienkiller im Abendprogramm, auch er ist einer von ihnen. Vielleicht war die Geschichte Kains eines der ersten Bilder. Manche würde sagen, Kain sei der erste unter ihnen gewesen.

Und es bleibt erstaunlich; trotz all dieser Vorstellungen, dieser Albträume, die Vorstellung bleibt vage. Selbst das sprachliche Vermögen bleibt unstet und nebulös, es zu benennen scheint unmöglich. Als eine gewisse Art der Gnadenlosigkeit könnte man sie beschreiben, diese Gemeinsamkeit, dieses Wesensgleiche, aber das bliebe eine Umschreibung, eine unsichere Begrenzung, mehr nicht. Das Böse hat man es früher genannt, vor der technischen Revolution, aber dieser Begriff ist obsolet, untergegangen im Fluss von Zwecken, Zielen, Rechtfertigungen.
Und dennoch, da bleibt etwas übrig, ein non-kausaler Rest bleibt von dem, was ansonsten wegerklärt wurde in der Rationalisierung der menschlichen Motive, etwas Unaussprechliches, ein kleiner Funken, dem der Begriff des Bösen vielleicht nie wirklich Bedeutung verleihen konnte. Nur Bilder helfen noch in der Wortlosigkeit, Bilder gesammelt in Jahrtausenden Menschheitsgeschichte. Religiöse Symbole sind darunter, Bilder von Teufel, Dämonen, abstrakten Gestalten spiritueller, naiver Boshaftigkeit. Und später auch die Zeichen einer anderen, totalitären Form, Fotos von zerstörten Städten, von Lagern, von düsteren Gräben voller Schlamm und Tod, in deren Kontext Begriffe wie ‚Sünde‘ oder ‚Hölle‘ nicht mehr zu passen scheinen, ersetzt worden sind durch die Befehls- und Handlungsketten von Ideologien und Prinzipien. Auch Darstellungen von Hungernden sind dabei, von Verdurstenden, von Menschen, die durch den Müll einer anderen Nation krank geworden sind. Andere Zeiten, andere Menschen, andere Bilder, andere Worte – Totalitarismus, Ideologie, Profitdenken, Gewinnmaximierung, Perspektivlosigkeit, Fundamentalismus.
Und obwohl all diese Worte und die mit ihnen verknüpften Konstrukte verschieden zu sein schienen, verschleierten sie doch eine Ähnlichkeit – eine diffuse, nicht greifbare Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit des Charakters, nicht der Oberflächen, etwa so wie die Ähnlichkeit zwischen entstellten Zwillingen.
Mit naiven Termen von Moral oder Antimoral wäre sie nicht zu fassen, diese Eigenart, auch wenn sich manche der Menschen, die sie tragen, dafür zu eignen scheinen.
Die meisten jedoch bewegen sich ganz und gar außerhalb solcher Begrifflichkeiten, ihre Taten decken sie durch Diskurslosigkeit, durch Nicht-Reflexion. Oder sie deuten sie ganz im Rahmen eines moralisches Systems, eines, dass sie sich selbst nach Belieben wählen; so ist es mit Inquisitoren, mit Faschisten, mit Bankkaufleuten, manchmal sogar mit Umweltaktivisten.

Die Wahrheit ist; es gibt keine klaren Erkennungszeichen. Sie müssen keine Waffen tragen. Es braucht keine politischen oder ethischen Bekenntnisse, auch Tätowierungen und Abzeichen liefern keine Sicherheit. Darüber kann man ins Grübeln verfallen; Manche denken gar, jeder könnte einer von ihnen sein, und vielleicht stimmt das auch. Vielleicht ist es sogar schlimmer – jeder von uns ist einer von ihnen, oder könnte so werden wie sie. Vielleicht dienen all die Bilder in Wirklichkeit dazu, uns vor uns selbst in Sicherheit zu wiegen.

EDIT: Lesetipp zu diesem Thema; Louis Borges – Deutsches Requiem und Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität.