Bekenntnisse eines Wissenschaftlers Diesen Artikel drucken

Dies kann kein Plädoyer gegen die so genannten Wissenschaften sein: ein solches zu fertigen wäre widersprüchlich und sinnlos. Eine Anklageschrift zu fertigen ist unmöglich. Zwar sind die Verbrechen offenkundig, aber die Vorfälle sind in ihrer Vielzahl kaum zu erfassen; sogar der Anfang ist nicht leicht zu verorten. Vielleicht begann es schon mit den Griechen, vielleicht davor. Vielleicht auch viel später: Man kann es nicht so leicht einordnen. Aber man kann Beispiele angeben, unzählige Beispiele für das Gift und seine Wirkungsweise. Seht euch um: die Schulen sind voll davon, selbst die meisten Kindergärten. In den meisten ernsten Gesprächen ist es schon vorhanden, wenigstens latent. Es umgibt uns, und vielleicht ist das Grund, weshalb wir uns an seine Wirkung schon so sehr gewöhnt haben.Heiligtum
Die einfachsten seiner vielfältigen Ausprägungen beginnen meist mit Erklärungen. So erklärt man dem Kind, dass Schneeflocken nicht schweben können: sie fallen nur langsamer als andere Objekte, aber wie alle Dinge müssen sie sich der Gravitation beugen. Es gibt keine winzigen Engel und auch keine Feen, die sie sachte heben, ihnen ihre Anmut und ihren Glanz verleihen. Schneeflocken, so erklärt man es dem Jugendlichen vielleicht, sind kristalline Ansammlungen von gefrorenem Wasser, und wenn sie zur Erde zu schweben scheinen, dann ist das nur die Folge eines Kräftegleichgewichts zwischen Luftwiderstand und Gravitation. Ihr Aufleuchten im Gegenlicht ist eine rein physikalische Konsequenz, die mit den optischen Eigenschaften von Kristallen zu tun hat. Man muss nicht spitzfindig sein, um darin den Prozess zu erkennen; den eines Zerbrechens, eines Vernichtens von Vorstellungen. Andere Beispiele betreffen eher die Erwachsenen: So wird man nicht müde zu erklären, dass der Mensch das Resultat einer vom Zufall dominierten Entwicklung ist, die gemeinhin Evolution genannt wird. Die Existenz des Menschen besitzt keine auf einen Zweck ausgerichtete Berechtigung; er ist einfach nur da. Ebenso ist die Erde nicht das Zentrum des Universums, und nicht nur das, es gibt überhaupt kein Zentrum. Es gibt kein Gestirn, kein Objekt, um das sich alles dreht. Wir befinden uns am äußeren Rand einer durchschnittlichen Galaxie in einem durchschnittlichen Teil des Alls. Weiterhin, so wird erklärt, ist der Mensch im Kern eine deterministische Maschine, wie ein Dosenöffner oder eine Batterie, und bei allem, was wir tun, sind es doch nicht wir, die sich dazu entschließen, denn es gibt weder einen freien Willen noch ein Ich, für Dosenöffner und Batterien ebensowenig wie für den Menschen. Es gibt auch subtilere Varianten; kleinere, unauffällige Akte der Zerstörung. Einige dieser Manöver nennt man Statistik, andere Studie. Wie man sie auch nennen will, diese Anschläge auf unsere Träume, Wünsche und Hoffnungen, sie sind zahlreich, und nach und nach, so scheint es, weiten sie sich auf den gesamten Bereich dessen aus, was Menschen Wirklichkeit nennen wollen. Der Mensch glaubt an die göttliche Schöpfung – die Wissenschaften erklären ihm, dass es eine solche nicht gab. Der Mensch flüchtet sich in die Liebe – die Wissenschaften erklären ihm, dass es sich nur um einen chemischen Prozess handelt. Er flüchtet in den Wunsch danach, dass seine Kinder ein besseres Leben führen könnten – die Wissenschaft schärft ihm ein, dass auch die Sorge um den Nachwuchs ein alter, letztlich zufällig installierter Mechanismus ist.
Die Wissenschaften haben im Rahmen eines gigantischen Projekts über viele Hunderte Jahre hinweg systematisch Ordnung geschaffen in der Wirklichkeit; sie haben vermessen, sie haben kartografiert, sortiert, berechnet und studiert. Diese Ordnung begann vielleicht mit Dingen, die der Lebenswirklichkeit fern sind; mit den Planeten und Sternen, mit Begriffen von Glück und Moral, die wenig mit dem zu tun hatten, was der Mensch im Alltag denkt. Doch nach und nach haben Wissenschaftler, haben wir das Projekt ausgeweitet, bis es von den fernen Galaxien über das menschliche Verhalten zu den innersten Sehnsüchten, den tiefsten Wünsche der Menschen reichte.
Und, werte Kollegen, wir haben dabei Schätze gehoben und Unfassbares entdeckt; Wir haben Technologien entwickelt, den Alltag vereinfacht und Erklärungen geliefert.
Aber vor allem haben wir den Menschen ihre Vorstellungen genommen: Wir haben ihnen Erklärungen angeboten, die sie nackt in der Dunkelheit zurücklassen. Wir haben ihre Ideen, ihr kreatives Konstruieren der Welt verhindert und alles Wünschen als nutzlos entlarvt mit unseren Werkzeugen, den Zahlen und Daten und Theorien.

Wir sind Giftmischer, Verhetzer, und schuldig in allen Anklagepunkten; schuldig des Raubens von Illusionen. Schuldig des Zerstörens von Hoffnungen, der Vernichtung aller noch so bescheidenen Vorbilder.

Aber man kann uns nicht bestrafen. Warum?

Weil wir die Gerichte stellen; mehr noch, weil die Gerichte, wie wir sie heute kennen und Mittel der Gerechtigkeit nennen, unsere Idee sind. Uns gehört die Gerechtigkeit genau wie die Rechtfertigung. Kein Herrscher, kein Mächtiger kann sich auf Dauer unserem Wirken entziehen. Sie können einige von uns töten, sie können viele von uns einsperren; aber früher oder später werden sie den Verlockungen erliegen, den Kühlschränken, dem Breitbandanschluss, der Interkontinentalrakete.
Wenn die Menschen es wollten, dann könnten sie unsere Richter stürzen. Sie könnten die Gerichte abschaffen und ihre Mikrofaserkleidung ablegen: sie könnten das Auto stehenlassen und zu Fuß zu den Universitäten gehen, um sie niederzubrennen. Sie könnten, aber sie werden es niemals wollen: Und wenn sie es doch wollen, so wird das nur von kurzer Dauer sein. Am Ende zahlen sie gerne den Preis; Man mag von Macht sprechen, wenn jemand jeden Widerstand zerschlagen kann. Aber diese Autorität, die der äußeren Gewalt, kann nicht bestehen, nicht dauerhaft, denn gegen das Wollen vieler ist selbst Stein weich. Wahre Macht besitzt nicht der, der das Handeln kontrolliert. Doch wenn der Mensch den Kampf nicht wollen kann, dann wird er ihn niemals führen. Unser Preis für ihre Wünsche und Träume ist gut gewählt: sie werden das Geschäft nicht ablehnen.

3 Antworten zu “Bekenntnisse eines Wissenschaftlers”

  1. käthe friedrich sagt:

    text sehr gut. nur gegen ende die erläuterungen zur macht nicht leicht verständlich. liebe grüße kaethe

  2. Christoph sagt:

    Ich denke, dass sich hier ein großer Zwiespalt des menschlichen Bewusstseins offenbart, der sich hauptsächlich aus der Geschwindigkeit der Entwicklung nährt. Wie du schreibst, ist der Beginn dieser Entwicklung in der Antike zu suchen. Ich würde ihn da ansetzen, wo Instinkt zu Bewusstsein – die Handlung zu Absicht wurde. Ich betrachte diese Entwicklung als einen kontinuierlichen Prozess, der abgekoppelt von der biologischen Evolution stattfindet und der, in ferner Zukunft – vielleicht über die Zeitspanne der menschlichen Existenz hinaus – andauert und ein, wie auch immer geartetes, Ende hat.

    Den Zwiespalt den ich hier sehe ist der zwischen der biologischen Herkunft, die das Bewusstsein mit einem evolutionären Zweck hat enstehen lassen, auf der einen, und den sich aus den schieren Fähigkeiten des menschlichen Bewusstseins ergebenden Möglichkeiten auf der anderen Seite.

    Unsere Biologische Herkunft lässt uns lieben – als chemischen Prozess. Sie lässt uns Glauben – als Erklärungsansatz für das Unerklärliche. Sie lässt uns vermuten – zum Ersetzen von Unbekannten in einer Gleichung die wir des Überlebens willens für uns lösen müssen. Diese zweckgebundene Existenz unseres Bewusstseins nimmt uns die Fähigkeit einer Auseinandersetzung mit seinen rohen, auf keine Absicht programmierten Fähigkeiten.

    Diese Entwicklung kann meiner Meinung nach in einer Vergeistlichung des Lebens in geregelte(re) Bahnen geführt werden. Diese Vergeistlichung, von jeher in der Domäne des Glaubens zu verorten, müsste jedoch auch ihrer Zweckbindung enthoben werden – Eine nicht zu lösende Forderung, da bei konsequenter Anwendung der Mensch einfach verhungern würde – da der Glaube von jeher nicht nur spirituelle Anleitung ist sondern auch immer das Verhalten des Menschen lenkt.

    Aktuell ist ein Werteverlust zu vernehmen der meiner Meinung nach seine Ursprünge in der Verdrängung des Glaubens, des Träumens und des Vermutens hat. Hier Manifestiert sich der Zwiespalt ausserhalb unseres Bewusstseins in der Interaktion mit anderen. Es ist offensichtlich das durch die Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens koventionelle Sozialstrukturen zerbrechen. Während große Teile der Menscheit Trost in der Zweckbindung ihrer Existenz finden gibt es andere, man könnte sie überheblich und von meinem Standpunkt aus weiterentwickelte nennen, die erkannt haben das die Zweckbindung uns Trost vermitteln soll wo für sie keiner gebraucht wird! Nicht die Herkunft und Absicht unserer Existenz sind es die uns bestimmen sollten – Die Fähikeiten und deren Umsetzung sind es!

    Liebe ist ein chemischer Prozess, enstanden aus der Notwendigkeit der Fortpflanzung? Dann ersetze sie durch eine ungebundene Liebe gegenüber allem. Schwer? Natürlich – Aber es hat ja keiner gesagt das es leicht wäre 🙂

    Natürlich ist dieser Konflikt in letzter Instanz nur zu lösen wenn das Bewusstsein ausserhalb der Biologischen Hülle sein kann. Eine für mich nicht zu beantwortende Frage – sie betrifft mich in meiner kurzen noch verbleibenden Spanne jedoch auch nicht….daher mache ich mit dem für mich erreichbaren weiter und überlasse das Gottwerden späteren Generationen 😉

  3. Hallo Christoph,

    vielen Dank für deinen Gedankengang. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn ganz richtig verstehe, aber ich versuche mal, dazu etwas zu sagen. Vielleicht hat mein Verständnisproblem damit zu tun, dass wir über unterschiedliche Begriffe reden, wenn du oder ich von „Zweck“ sprechen. In meinem Sinne finden sich Zwecke nicht in der Natur, nirgendwo. Zwecke sind ein genuines Merkmal, welches nur durch bewusste Wesen in die Welt kommt.
    Das Problem scheint mir doch zu sein, dass uns die Naturwissenschaften gerade lehren, es gebe keinen Zweck hinter unserer Existenz oder dem von Bewusstsein. Diese Dinge haben sich evolutionsbiologisch ausgeprägt, aber das ist völlig kontingent; reiner Zufall, die kontingente Variation von physikalischen Systemen unter einem Selektionsdruck. Die großen Wanderdünen in Wüsten sind ebenso Produkt eines Selektionsverfahrens wie wir, um es pointiert auszudrücken; und die Existenz von Wanderdünen hat ebensowenig einen Zweck wie unsere.
    Ich stimme dir zu, dass es z.Zt. eine Tendenz dazu gibt, spezifische Eigenarten des Mensch-Seins zu nivellieren oder negativ zu belegen. Das gilt etwa für das Glauben oder Träumen. Der Hintergrund dafür ist der Versuch, die gesamte Wirklichkeit – und damit auch die Lebenswirklichkeit – naturwissenschftlich zu erfassen und zu rationalisieren. Das hat auch eine psychologische Komponente, denn letztlich geht es natürlich nie ausschließlich um das Erklären, sondern auch um die Bestimmung dessen, was wir überhaupt real nennen: Es geht darum, den Naturwissenschaften die Deutungshoheit über das gesamte menschliche Leben zu verschaffen. Man kann – denke ich – beobachten, dass dieser Prozess, während er früher vielleicht ein Nebeneffekt war, heute durchaus intendiert in den Vordergrund rückt. Wenn man Neurowissenschaftler wie Herrn Singer betrachtet, erkennt man das meiner Ansicht nach recht gut.
    Dieser Konflikt, den du hier vermutest – nämlich der zwischen biologischer Herkunft auf der einen Seite und der Potenz des menschlichen Bewussseins auf der anderen Seite – wird dadurch nicht gelöst, sondern negiert. Wenn du vom „Geist ohne Körper“ träumst, dann setzt du damit den Dualismus zwischen Körper und Geist voraus – und exakt das wird im Zuge der aktuellen Debatten nach und nach eliminiert, zumindest ist das Versuch.
    Ich bin nicht sicher, wie ich das verstehen soll, wenn du sagst, der Mensch könne oder müsse sich von der Vorstellung von Zwecken etc. lösen. Was bedeuten Fähigkeiten, wenn sie sich auf nichts mehr richten können? Warum sollten Menschen ihre Fähigkeiten einsetzen, wenn doch alles, was sie zu tun vermögen, rein kontingent ist, willkürlich, beliebig? Welchen Sinn ergibt das dann?
    Vielleicht kannst du dich etwas genauer erklären 🙂

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