Shrapnel Flakes
23. Juni 2007Dieser Regen.
Sein Blick schweifte über die Dächer.
Dieser verdammte Regen.
Das Wasser fiel schwer auf die Betonflächen, sammelte sich in kleinen Mulden und kroch schließlich gelangweilt in die Drainagerohre. Er hasste diesen Regen, nicht unbedingt, weil er nicht nass werden sollte. Aber er fand das gerade diese Art von Regen der wunderschönen Einheit aus Glas, Keramik und Aluminium ein schmutziges, überaltertes Aussehen gab. Er griff hinter sich, zog einen Gegenstand hervor, legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Normaler Regen war schön, ein Schauer auf dem Land etwa, aber dieser, dieser Regen hatte etwas Schmuddeliges, Herausgewürgtes, etwas, dass Erinnerungen heraufbeschwor. Er wusste nicht genau, woran, vielleicht an alte Gangsterfilme. Ja, vielleicht war das der Grund für sein Unbehagen. Mit einer sicheren Bewegung griff er zwischen den Tablettenschachteln hindurch, fand nicht, was er gesucht hatte, stand von seinem Schreibtisch auf, kehrte mit einer Flasche Öl zurück. Noch einmal blickte er aus dem Fenster. Der Regen war immer noch da, der Wind hatte kurz gedreht. Milchige Tropfen klebten an der Scheibe und weigerten sich noch, der Schwerkraft nachzugeben.
Er schüttelte verächtlich den Kopf und klopfte zweimal auf der Halfter, das er auf den Tisch gelegt hatte. Wenn man dem Hersteller Glauben schenken durfte, entriegelte sich das Holster in weniger als eine Hunderstel Sekunde und schob in einer weiteren Hunderstel die Waffe so hervor, dass sie dem Schützen -hoffentlich – direkt in die Handfläche schnellte. Aber so ganz hatte er das nie geglaubt; ihm kam es viel langsamer vor. Außerdem verursachte das Aufschnappen dieser Halfter ein unüberhörbares Surren, weil sowohl der Verriegelungsmechanismus als auch der Griff kurzzeitig die Schallmauer durchbrachen (aber auch das nur eine Behauptung des Herstellers). Nichts davon gefiel ihm, aber andere Holster waren teuer, und außerdem verpflichtete ihn sein Arbeitsvertrag dazu, nur solche zu tragen. Es seien ‚Sicherheitshalfter‘, hatte sein Boss gesagt. Er hatte nur gefragt, für wen sie sicher seien – für ihn oder für einen Angreifer – aber darauf hatte er keine Antwort bekommen.
Er arbeitete in einem On-Demand-Store, also in einem Geschäft, das die Alten heute noch als Supermarkt bezeichneten. Über Supermärkte wusste er nur das, was seine Mutter ihm darüber erzählt hatte, und was er von ihr gehört hatte, das schien ihm vollkommen unvernünftig und eben auch überhaupt nicht vergleichbar mit seinem On-Demand-Store.
Im Wesentlichen saß er den ganzen Tag vor einem PC, hinter einer vier Zentimetern starken Schutzglasscheibe, die sowohl alle möglichen Arten von Projektilen als auch die meisten handelsüblichen Sprengstoffe abhalten sollte, aber auch das war nur eine Angabe aus einem Handbuch, in das niemand besonders großes Vertrauen setzte. Er saß also hinter dieser Scheibe, und wenn ein Kunde kam, dann musste er zunächst auf einen Knopf drücken, damit der Alarm nicht losging. Der Kunde konnte ihm dann über eine Gegensprechanlage seine Bestellung nennen oder sie direkt über einen Scanner einlesen lassen; die Kette gab drei Prozent Rabatt auf letzteres, seit man festgestellt hatte, dass sich die Eskalationswahrscheinlichkeit signifikant erhöhte, wenn Kunde und Transaktionsagent zu viele Worte wechselten; und in diesem Business ging es immer um Eskalationswahrscheinlichkeiten. Hatte der Kunde seine Bestellung aufgegeben, dann ging der Transaktionsagent nach hinten ins Lager, um die Waren zusammenzusuchen. Währenddessen musste der Kunde ganz ruhig stehenbleiben, sonst ging wieder der Alarm los. Wenn alles gut lief und die Kreditkarte des Kunden gedeckt war, dann schob er die Ware durch ein kompliziertes System von verschiebbaren Wänden in den Vorraum, wo der Kunde sie entnehmen konnte. Leider lief es nicht immer gut.
Er zog die Waffe aus dem Holster, entfernte das Magazin, zog den Lauf nach hinten. Die letzte Patronen fand ihren Weg durch den Auswurfschlitz, flog durch den Raum und rollte unter den Tisch. Routiniert tränkte er einen Lappen mit dem Öl und begann, die Waffe auseinanderzubauen.
Sein Vertrag schrieb vor, die Waffe wöchentlich zu reinigen, aber er macht es täglich, fand es entspannend. Er hätte die Pistole auch im Dunkeln zusammensetzen können, und so überließ er allein seinen Händen diese Tätigkeit, während er hinunter auf die Straße blickte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, und diese wenigen trugen schwere Regencapes oder kleine Schirme. Alle hielten respektvollen Abstand voneinander, aber das war nur natürlich, sie kannten sich nicht, also konnten sie auch nicht wissen, was die anderen im Sinn hatten. Nur ein breiter, glatzköpfiger Mann patrouillierte ungerührt im Muskelshirt die Straße entlang, das Wasser perlte von seinem kahlen Schädel. In der Armbeuge trug er weithin sichtbar die Replik einer alten Magnum, wahrscheinlich eine dieser aufgemotzten Automatikknarren, die Keramik verschossen. Der Glatzkopf hatte sicher zwei Monatsgehälter dafür bezahlt, und jetzt führte er sie spazieren. Es war nicht verboten, die Waffe so zu tragen, im Gegenteil; nach den jüngsten Schießereien war es an Universitäten und Schule sogar verboten, die Waffen nichtoffen zu tragen. Trotzdem mochte er den Glatzkopf nicht, er wusste nicht, warum. Natürlich waren auch die meisten anderen Leute auf der Straße bewaffnet; manchmal verrieten sie sich durch Beulen in der Kleidung, wo keine sein dürften, und ein alter Herr, der kurz seinen Sichtbereich kreuzte, hatte entweder ein Holzbein oder trug eine Automatik an der Wade. Vielleicht ärgerte ihn auch nur, dass er sich eine solche Waffe nicht leisten konnte. Von Zeit zu Zeit stritten sich Leute im Fernsehen darüber, was diese Entwicklung ausgelöst hatte. Vor einigen Tagen erst hatte er wieder zufällig eine Dokumentation darüber gesehen. Ein Soziologe im feinen Anzug hatte dort gesagt, es sei der Terrorismus gewesen, ein anderer hatte ihm entschieden widersprochen, es sei vielmehr die globale Angst gewesen.
Letzteres fand er irgendwie einleuchtender, auch wenn ihn die Diskussion nicht wirklich interessierte. Außerdem waren diese feinen Herren letztlich in gewisser Weise auch nur Politiker, genau wie alle Menschen im Fernsehen irgendwie Politiker waren – und denen traute man nicht. Die Sache war einfach – es gab viele böse Menschen mit Waffen, also mussten sich die Guten auch bewaffnen und hoffen, dass sie nie einen Schuß abgeben mussten. Das war die vorherrschende Meinung (u.A. auch die seines Bosses) und er teilte sie größtenteils.
Er war in der Phase des Umbruchs aufgewachsen, und dem zu Folge hatte er viele Erinnerungen an jene Zeit, wenn auch verschwommene. Manchmal dachte er, die Probleme hätten eigentlich erst begonnen, als Cornflakes plötzlich BULLET POPS oder SHRAPNEL FLAKES hießen und man Büstenhaltern Namen wie FLYING BETTY (das war, so wusste er, ein alter Landminentyp) gab. Natürlich hatte es immer schon Waffen gegeben, auch Waffennarren. Aber an einem gewissen Punkt in seiner Kindheit hatte sich etwas verändert; plötzlich schaffte sich jeder eine an. Auf einmal gab es Waffenkunde als Unterrichtsfach an staatlichen Schulen. Kinder, wie er damals eins gewesen war, freuten sich plötzlich nicht mehr auf üppige Geldschenke zur Kommunion, sondern auf die erste eigene Schußwaffe. Aber natürlich existierten die eigentlichen Probleme schon viel früher, die Gewalt, die Kriminalität, der Terrorismus, alles andere war nur eine Reaktion darauf gewesen. Die ‚Zivile Wehrhaftigkeit‘ (so nannten es die Nachrichtensprecher respektvoll) war ja erst danach entstanden, als eine Art der Lösung. Trotzdem dachte er manchmal, das hätte die Probleme erst verursacht, auch wenn es verrückt war. Genauso verrückt wie das unsichere Leben, das frühere Generationen geführt hatten. Natürlich hatten diese Leute auch weniger Angst gehabt, aber wer nicht sah, konnte sich auch nicht fürchten. Nun sahen die Menschen – und füchteten sich. Auch das war nur natürlich; außerdem konnte man ja etwas tun gegen die Angst.
Er sah kurz auf die Waffe herunter, musterte den Lauf gewissenhaft und befand das Ergebnis für gelungen, baute sie wieder zusammen. Gott Sei Dank hatte er sie nie außerhalb der Schießstandes abfeuern müssen (den musste er ebenfalls einmal in der Woche aufsuchen, aber darum drückte er sich, wenn er konnte). Es würde auch nicht viel Sinn machen, damit auf die Sicherheitsscheibe im Laden zu schießen; zwar gab es Scheiben, die nur eine Seite schützten, aber solche waren teuer, und sein Boss weigerte sich, sie einbauen zu lassen.
Dafür hatten sie wie die meisten Geschäfte natürlich computergesteuerte Systeme im Vorraum, die mit dem Alarm verbunden waren. Vor einigen Monaten hatte ein Typ im Anzug bei ihm ein halbes Pfund Brot kaufen wollen, was schon an sich verrückt genug war. Nur war der Mann, wie sich später herausstellte, vollkommen zugedröhnt gewesen (seine Mutter nannte solche Typen Junkies, aber der Begriff war aus der Mode gekommen, seit synthetisches Crack billiger war als sauberes Trinkwasser) und bestand darauf, mit einem Winchester-Replikat zu bezahlen, das sicher teuer gewesen war. Natürlich hatte er als gewissenhafter Angestellter (und vor allem aufgrund seines Mißtrauens in Bezug auf die Scheibe) sofort den Roten Knopf gedrückt. Der Alarm war mehrstufig, er hatte das schon bei seiner Sicherheitseinführung kennengelernt. Zunächst sagte eine Stimme aus den Deckenlautsprechern nur, man solle sich hinlegen und die Hände hinter den Kopf nehmen, sonst würden weitere Maßnahmen eingeleitet werden. Die zweite Warnung wies einen eindrücklich darauf hin, dass dem Folge zu leisten sei – die dritte war bei der Beschreibung dieser Maßnahmen schon so deutlich, dass er sich oft gefragt hatte, ob das zur Entspannung wirklich noch beitrug. Aber vermutlich war es an dem Punkt sowieso schon zu spät. Jeder, wirklich jeder wusste, was nach der vierten passierte, und wer sich nach der dritten noch nicht hinlegte, der war entweder todessehnsüchtig oder einfach verrückt. Was der Typ im Anzug gewesen war, hatte er nicht erfahren. In jedem Fall hatte er sich nicht hingelegt. Aber was sollte er sagen, er hatte einen Tag freibekommen und war Mitarbeiter des Monats geworden. Das heißt, zunächst war sein Boss regelrecht wütend gewesen, dass jemand soviel Papierkram verursachte (wegen eines halben Pfundes Brot), aber da er ja nicht im mindestens dafür verantwortlich war (das zeigten auch die Videoaufnahmen), war das schnell wieder verflogen, vor allem, da sich die Schäden am Inventar in Grenzen hielten.
Er sah auf die Uhr, während er eine Tablette gegen die Kopfschmerzen einwarf, die vermutlich von dem neuen Valiumderivat herrührten, das er sich besorgt hat; er warf die Schachtel verächtlich durch den Raum, sie prallte an der Wand ab und fiel zielgenau in den Papierkorb.
Jetzt musste er also doch noch raus, um neue Tabletten zu besorgen. Das ärgerte ihn, aber es war wohl nicht zu ändern. Er erhob sich seufzend aus dem Stuhl, nachdem er die Waffe wieder ins Holster gesteckt hatte, um das gekippte Fenster wieder zu schließen. Draußen regnete es weit weniger stark, aber die Straße machte immer noch einen schmutzigen Eindruck. Unten ging immer noch der Glatzkopf auf und ab, und der stärker werdende Strom an Passanten drängte sich unsicher an ihm vorbei. Seine Hände fanden zum Fensterriegel und zögerten. Er betrachtete die Menschen auf der Straße, ein verhärmtes Grinsen drängte sich in sein Gesicht. Dann schlug er das Fenster mit soviel Wucht zu, dass die rahmenlose Scheibe mit einem lauten Krachen in seine Aufhängung schlug.
Auf der Straße duckten sich die Passanten, einer fiel hin, mindestens fünf andere griffen in ihre Jacken, soweit er es erkennen konnte. Selbst der Glatzkopf zuckte ein wenig zusammen und griff zum Holster.
Er lächelte diabolisch und wollte sich wieder setzen, als der Glatzkopf zu ihm hochblickte und finster anstarrte; er hob die Hand in seine Richtung, machte mit Zeigefinger und Daumen eine eindeutige Geste.
Er grinste schief, zeigte dem Glatzkopf den Finger. Seine Hand zitterte ganz leicht, dann drehte er sich vom Fenster weg.
Tabletten. Er brauchte neue Tabletten. Bedächtig griff er nach seiner Jacke und zog sie an, während er zur Tür ging.
Einen Moment lang blieb er stehen, dann lachte er bellend über sich selbst. Wie konnte er das vergessen? Er ging zurück zum Tisch, nahm das Holster und steckte es wieder ein.