Schlafende Kinder (5)
25. April 2005Realitäten huschten an ihr vorbei, unmerklich, leise, in schnellen, asynchronen Schritten, unzählige, unzählbare Wirklichkeiten, in den komprimierenden Symbolismus unbekannter Gesichter gestanzt, die nichts weiter verrieten als die Existenz dieser anderen Realitäten, wie der Klang unbekannter Fremdwörter nur leere Hülsen, entleerte Symbole, klinisch rein von jedem Inhalt, Platzhalter, so steril wie die Klingen in dem schwarzen Kästchen, dachte sie, und stieg in einen der Wagen. Es war spät, so spät wie immer, wenn sie nach dieser Schicht das Büro verließ, und sie kannte den Weg sehr gut, es war immer der gleiche Weg, eine Abfolge von determinerten Szenenwechseln wie in einem Hollywoodfilm, in dem jeder Zuschauer die nächste Szene vorherzusagen vermochte, weil er Klischees folgte, geheimen und nie ausgesprochenen Vereinbarungen zwischen dem Konsumenten und dem Künstler. Sie blickte nachdenklich in die vorbeifliehenden Lichter der inneren Stadtviertel, die wie sie und die anderen Anzugmenschen vom Zentrum der großen Stadt hinfortstrebten, als fürchteten auch sie die Nähe zu den riesigen Stahlblöcken, die in ihrer Mitte standen.
Ihre Hände lagen sanft in den Taschen des sorgsam gebügelten Blazers, spielten scheinbar unbesorgt und kaum bewusst mit dem Auslöser der Pfefferspraykartusche und einem Umschlag, den sie vor Verlassen des Büros sauber gefaltet hatte. Sie dachte an die Stunden, die hinter ihr lagen, Stunden vor Bildschirmen, Stunden über Papieren und den endlosen Zahlenkolonnen darauf gebeugt. Sie war gut in ihrem Job, aber sie hatte ihn nie gemocht, bemerkte sie oft, sie mochte es nicht, sie war viel lieber draußen, an der Luft, und in der Sonne, doch dieser Job brachte mehr Geld, und sie brauchte Geld, ihr Leben war teuer…
Er hatte den Job gemocht, wurde sie schmerzlich erinnert, für ihn war er genau das richtige gewesen, das hatte er zumindest einmal gesagt. Im Büro hatten sie schon darüber geredet, man hatte ihn gefunden, gestern oder vorgestern, sie wusste es nicht, sie hatte nur halb zugehört, hatte nur leise geschluchzt, nur für einen kurzen Moment, wie sie es oft tat. Dasselbe tat sie, als einer der Anzugmenschen zu ihnen herunterkam und eine kurze Rede über den Jungen hielt, ein fast schon ironisches Schauspiel, abgelesene Phrasen aus einem kleinen schmutzig-grauen Büchlein, so eines, wie es die Menschen aus den oberen Stockwerken immer bei solchen Gelegenheiten zückten, um die richtigen, immer gleichen Worte zu sprechen. Sie hatte nicht darüber lachen können, wie sie es früher oft getan hatte. Und danach war es fast wie immer gewesen, nein, eigentlich war es absolut wie immer gewesen. Bis auf die leere Zelle am Ende des Raumes, den blinden schwarzen Bildschirm. In dem grauen Büchlein war festgelegt, dass die Zelle weitere zehn Tage leer bleiben würde, wusste sie, erst dann würde sein Ersatz dort arbeiten, auch wenn er schon eingestellt worden war, heute, nach der Rede, ein Anzugmensch, dessen Blick dem der anderen glich.
Sie fröstelte, während sie den Namen der Haltestelle las. Ihre Finger hatten sich um den Umschlag gelegt, drückten ihn zusammen.
Die leere Zelle am Ende des Raumes. Sie hatte oft dort hingesehen, heute. Häufiger als sonst.
Er war ein Idiot gewesen, dachte sie, halb wütend darauf, dass sie Mitleid für ihn empfand. Er war nur einer dieser Anzugmenschen gewesen, nur einer unter Vielen, eines der vielen unbekannten Gesichter. Und sie wusste, dass sie das nicht glaubte.
Sie stieg aus, eine Haltestelle zu früh, wie immer an einem solchen Wochentag, und erinnerte sich an die Analogie zu den Actionfilmen, die sie früher oft gesehen hatte, ja, es war eine ebenso geheime Absprache, dass sie hier ausstieg, etwas ließ sie ehrlich sein zu sich selbst an diesem Abend. Sie erschrak und dachte doch weiter.
Nein, es war kein Zufall, keine Koinzidenz, dass sie hier ausstieg, denn sie tat es immer. Anfangs hatte sie sich eingeredet, aus Versehen hier auszusteigen, bis sie irgendwann stillweigend den Pakt geschlossen hatte, einfach nicht darüber nachzudenken, doch heute schien ihr das feige. Warum.
Es war immer der gleiche Weg. Er änderte sich nie. Die Jahreszeiten kamen und gingen, bedeckten die kleinen Menscheninseln mit Schnee und Sonnenschein, mit Regen und endzeitlichem Nebel, aber der Weg, der Weg blieb dennoch immer gleich, auf eine subtile, kaum wahrnehmbare Weise, dachte sie, während sie durch die Nacht ging. Ihr Interesse an dieser Wohngegend war nur aus der Langeweile entstanden, hatte sie sich gesagt, und dennoch, sie kannte jedes Auto hier, jede Gardine, jeden sorgsam gejähteten Vorgarten. Und wieder unzählige Menschenleben, an denen sie vorüberschritt.
Sie lachte über sich selbst, lachte lauthals, aber leise, um niemanden hinter den dunklen Fenstern zu wecken, um nicht den Schlaf von Kindern zu stören. Solchen Kindern, wie sie einmal eins gewesen war.
Wünschte sie sich etwa so ein Leben, war sie deshalb hier. Der Gedanke war von soviel Zynismus durchtränkt, von soviel bösem Gelächter, dass sie nicht anders konnte als zu lachen.
Sie wünschte sich so ein Leben.
Das Lachen erstarb und wurde zu einem leise präsenten Schweigen.
Ihr Kopf schüttelte sich langsam, ihre Schritte beschleunigten sich.
Nein, sie konnte nicht hoffen. Die Hoffnung war tot, so tot wie das kleine Mädchen in ihren Träumen, so tot wie die Menschen, die für das kleine Mädchen verantwortlich gewesen waren.
Sie dachte an den Umschlag. Jemand war gekommen, jemand von einer Behörde, und hatte ihr den Umschlag gegeben, als sie im Büro war, das namenlose Gesicht des Mannes hatte sie mit einem betrübten Ausdruck angesehen, vom dem er bestimmt auch in einem grauen Büchlein gelesen hatte, und war dann gegangen.
Ihre Bewegungen wurden langsamer. Sie blieb stehen. Zog den Umschlag aus der Tasche, strich die Faltkante gerade. Musterte den in klaren, sauberen, roten Buchstaben geschriebenen Namen. Den Namen ihrer Abteilung. Die Adresse einer der vielen Stahlriesen.
Und riss den Brief auf.
Ein kleines gefaltetes Papier, dahinter ein größeres.
Mechanisch zogen ihre Finger das kleinere Papier heraus.
Eine Zeichnung, in unsicheren, ungeübten Linien, gestaltet mit vielen, kleinen, auf eine seltsame Art verformten Bleistiftstrichen, dennoch ein klares Motiv, mit der offensichtlichen Mühe von Stunden eingefangen, detailiert, an den Rändern in verwischte graphit-graue Fingerabdrücke übergehend.
Ein Haus, offensichtlich ein Haus auf dem Land, mit einer großen, offenen Veranda und einem Hund vor der Tür, der mit großen Augen freundlich auf den Betrachter sah. Darum Wiesen und Bäume, in der Entfernung einige Felder.
Und vor dem Haus zwei Menschen, undeutlich gezeichnet von einem Amateur, und doch deutlich erkennbare Gesichtszüge, eine Frau mit offensichtlich hellen Haaren und großen tiefen Augen, daneben ein Mann, der fragend lächelt, Unglück in den Augen.
Ihr Mut schwand. Dicke Tränen rannten ihre Wangen hinab. Ihre Hände zitterten.
Ein Automatismus setzte ein, sie fühlte es. Mit einer verstörten Bewegung warf sie den Umschlag zu Boden.
Was für ein Idiot er gewesen war.
Was für ein Idiot.
Sie begann zu gehen, erst ungelenk, dann immer schneller.
Ein romantischer Träumer, ein Lebensunfähiger, der nie einsehen konnte, dass die Welt nun mal so war, wie sie war, und dass man sich eben entweder fügte oder unterging.
Sie begann zu laufen.
Nein, er hatte kein Recht auf ihr Mitleid, es gab kein Mitleid, keine Schuld, keine Liebe, alles Illusionen, alles romantische Verklärungen eines kindlichen Verstandes, sie wusste es, romantische Träumereien und Vorstellungen von jemandem, der immer Kind geblieben war.
Und blieb abrupt stehen, so schnell, das sie erschrocken stolperte und auf die Knie fiel.
Vor ihr lag ein Kind auf dem Bürgersteig.
Flashbacks. Ein weiterer Mechanismus setzte ein.
Es war nur eine Halluzination, die ewige Halluzination des blonden Mädchens, sie sollte aufstehen, sich abwenden, weitergehen.
Und dennoch blickte sie das Kind an, mit weit aufgerissenen Augen, unfähig sich zu bewegen, den Atem anhaltend.
Es schlief. Es schlief. Und es träumte. Es träumte von Dingen wie Häusern auf dem Lande. Von Hunden, die es morgens vorsichtig weckten, von warmen Sommerabenden. Von Prinzen und von Drachen. Von Mitleid. Von Romantik. Vom Bösen, das vom Guten überwunden wurde.
Sie verharrte dort eine Ewigkeit, dann blickte sie auf, als würde sie erwachen. Sie stand auf, drehte sich um, lief zurück, zurück zu dem Umschlag. Sie hob ihn behutsam auf, zog den Blazer aus und setzte sich auf den nassen Boden. Der Wind strich sanft über die schmalen Narben an ihren Armen. Sie bemerkte es nicht.
„Träume sind Wirklichkeiten, die nicht enden wollen.“ – Hans Lohberger