Kategorie 'System/Kreis: Kapitel 2'

Schlafende Kinder (5)

Diesen Artikel drucken 25. April 2005

Realitäten huschten an ihr vorbei, unmerklich, leise, in schnellen, asynchronen Schritten, unzählige, unzählbare Wirklichkeiten, in den komprimierenden Symbolismus unbekannter Gesichter gestanzt, die nichts weiter verrieten als die Existenz dieser anderen Realitäten, wie der Klang unbekannter Fremdwörter nur leere Hülsen, entleerte Symbole, klinisch rein von jedem Inhalt, Platzhalter, so steril wie die Klingen in dem schwarzen Kästchen, dachte sie, und stieg in einen der Wagen. Es war spät, so spät wie immer, wenn sie nach dieser Schicht das Büro verließ, und sie kannte den Weg sehr gut, es war immer der gleiche Weg, eine Abfolge von determinerten Szenenwechseln wie in einem Hollywoodfilm, in dem jeder Zuschauer die nächste Szene vorherzusagen vermochte, weil er Klischees folgte, geheimen und nie ausgesprochenen Vereinbarungen zwischen dem Konsumenten und dem Künstler. Sie blickte nachdenklich in die vorbeifliehenden Lichter der inneren Stadtviertel, die wie sie und die anderen Anzugmenschen vom Zentrum der großen Stadt hinfortstrebten, als fürchteten auch sie die Nähe zu den riesigen Stahlblöcken, die in ihrer Mitte standen.
Ihre Hände lagen sanft in den Taschen des sorgsam gebügelten Blazers, spielten scheinbar unbesorgt und kaum bewusst mit dem Auslöser der Pfefferspraykartusche und einem Umschlag, den sie vor Verlassen des Büros sauber gefaltet hatte. Sie dachte an die Stunden, die hinter ihr lagen, Stunden vor Bildschirmen, Stunden über Papieren und den endlosen Zahlenkolonnen darauf gebeugt. Sie war gut in ihrem Job, aber sie hatte ihn nie gemocht, bemerkte sie oft, sie mochte es nicht, sie war viel lieber draußen, an der Luft, und in der Sonne, doch dieser Job brachte mehr Geld, und sie brauchte Geld, ihr Leben war teuer…

Er hatte den Job gemocht, wurde sie schmerzlich erinnert, für ihn war er genau das richtige gewesen, das hatte er zumindest einmal gesagt. Im Büro hatten sie schon darüber geredet, man hatte ihn gefunden, gestern oder vorgestern, sie wusste es nicht, sie hatte nur halb zugehört, hatte nur leise geschluchzt, nur für einen kurzen Moment, wie sie es oft tat. Dasselbe tat sie, als einer der Anzugmenschen zu ihnen herunterkam und eine kurze Rede über den Jungen hielt, ein fast schon ironisches Schauspiel, abgelesene Phrasen aus einem kleinen schmutzig-grauen Büchlein, so eines, wie es die Menschen aus den oberen Stockwerken immer bei solchen Gelegenheiten zückten, um die richtigen, immer gleichen Worte zu sprechen. Sie hatte nicht darüber lachen können, wie sie es früher oft getan hatte. Und danach war es fast wie immer gewesen, nein, eigentlich war es absolut wie immer gewesen. Bis auf die leere Zelle am Ende des Raumes, den blinden schwarzen Bildschirm. In dem grauen Büchlein war festgelegt, dass die Zelle weitere zehn Tage leer bleiben würde, wusste sie, erst dann würde sein Ersatz dort arbeiten, auch wenn er schon eingestellt worden war, heute, nach der Rede, ein Anzugmensch, dessen Blick dem der anderen glich.
Sie fröstelte, während sie den Namen der Haltestelle las. Ihre Finger hatten sich um den Umschlag gelegt, drückten ihn zusammen.
Die leere Zelle am Ende des Raumes. Sie hatte oft dort hingesehen, heute. Häufiger als sonst.
Er war ein Idiot gewesen, dachte sie, halb wütend darauf, dass sie Mitleid für ihn empfand. Er war nur einer dieser Anzugmenschen gewesen, nur einer unter Vielen, eines der vielen unbekannten Gesichter. Und sie wusste, dass sie das nicht glaubte.
Sie stieg aus, eine Haltestelle zu früh, wie immer an einem solchen Wochentag, und erinnerte sich an die Analogie zu den Actionfilmen, die sie früher oft gesehen hatte, ja, es war eine ebenso geheime Absprache, dass sie hier ausstieg, etwas ließ sie ehrlich sein zu sich selbst an diesem Abend. Sie erschrak und dachte doch weiter.
Nein, es war kein Zufall, keine Koinzidenz, dass sie hier ausstieg, denn sie tat es immer. Anfangs hatte sie sich eingeredet, aus Versehen hier auszusteigen, bis sie irgendwann stillweigend den Pakt geschlossen hatte, einfach nicht darüber nachzudenken, doch heute schien ihr das feige. Warum.
Es war immer der gleiche Weg. Er änderte sich nie. Die Jahreszeiten kamen und gingen, bedeckten die kleinen Menscheninseln mit Schnee und Sonnenschein, mit Regen und endzeitlichem Nebel, aber der Weg, der Weg blieb dennoch immer gleich, auf eine subtile, kaum wahrnehmbare Weise, dachte sie, während sie durch die Nacht ging. Ihr Interesse an dieser Wohngegend war nur aus der Langeweile entstanden, hatte sie sich gesagt, und dennoch, sie kannte jedes Auto hier, jede Gardine, jeden sorgsam gejähteten Vorgarten. Und wieder unzählige Menschenleben, an denen sie vorüberschritt.
Sie lachte über sich selbst, lachte lauthals, aber leise, um niemanden hinter den dunklen Fenstern zu wecken, um nicht den Schlaf von Kindern zu stören. Solchen Kindern, wie sie einmal eins gewesen war.
Wünschte sie sich etwa so ein Leben, war sie deshalb hier. Der Gedanke war von soviel Zynismus durchtränkt, von soviel bösem Gelächter, dass sie nicht anders konnte als zu lachen.
Sie wünschte sich so ein Leben.
Das Lachen erstarb und wurde zu einem leise präsenten Schweigen.
Ihr Kopf schüttelte sich langsam, ihre Schritte beschleunigten sich.
Nein, sie konnte nicht hoffen. Die Hoffnung war tot, so tot wie das kleine Mädchen in ihren Träumen, so tot wie die Menschen, die für das kleine Mädchen verantwortlich gewesen waren.
Sie dachte an den Umschlag. Jemand war gekommen, jemand von einer Behörde, und hatte ihr den Umschlag gegeben, als sie im Büro war, das namenlose Gesicht des Mannes hatte sie mit einem betrübten Ausdruck angesehen, vom dem er bestimmt auch in einem grauen Büchlein gelesen hatte, und war dann gegangen.
Ihre Bewegungen wurden langsamer. Sie blieb stehen. Zog den Umschlag aus der Tasche, strich die Faltkante gerade. Musterte den in klaren, sauberen, roten Buchstaben geschriebenen Namen. Den Namen ihrer Abteilung. Die Adresse einer der vielen Stahlriesen.
Und riss den Brief auf.
Ein kleines gefaltetes Papier, dahinter ein größeres.
Mechanisch zogen ihre Finger das kleinere Papier heraus.
Eine Zeichnung, in unsicheren, ungeübten Linien, gestaltet mit vielen, kleinen, auf eine seltsame Art verformten Bleistiftstrichen, dennoch ein klares Motiv, mit der offensichtlichen Mühe von Stunden eingefangen, detailiert, an den Rändern in verwischte graphit-graue Fingerabdrücke übergehend.
Ein Haus, offensichtlich ein Haus auf dem Land, mit einer großen, offenen Veranda und einem Hund vor der Tür, der mit großen Augen freundlich auf den Betrachter sah. Darum Wiesen und Bäume, in der Entfernung einige Felder.
Und vor dem Haus zwei Menschen, undeutlich gezeichnet von einem Amateur, und doch deutlich erkennbare Gesichtszüge, eine Frau mit offensichtlich hellen Haaren und großen tiefen Augen, daneben ein Mann, der fragend lächelt, Unglück in den Augen.
Ihr Mut schwand. Dicke Tränen rannten ihre Wangen hinab. Ihre Hände zitterten.
Ein Automatismus setzte ein, sie fühlte es. Mit einer verstörten Bewegung warf sie den Umschlag zu Boden.
Was für ein Idiot er gewesen war.
Was für ein Idiot.
Sie begann zu gehen, erst ungelenk, dann immer schneller.
Ein romantischer Träumer, ein Lebensunfähiger, der nie einsehen konnte, dass die Welt nun mal so war, wie sie war, und dass man sich eben entweder fügte oder unterging.
Sie begann zu laufen.
Nein, er hatte kein Recht auf ihr Mitleid, es gab kein Mitleid, keine Schuld, keine Liebe, alles Illusionen, alles romantische Verklärungen eines kindlichen Verstandes, sie wusste es, romantische Träumereien und Vorstellungen von jemandem, der immer Kind geblieben war.
Und blieb abrupt stehen, so schnell, das sie erschrocken stolperte und auf die Knie fiel.
Vor ihr lag ein Kind auf dem Bürgersteig.
Flashbacks. Ein weiterer Mechanismus setzte ein.
Es war nur eine Halluzination, die ewige Halluzination des blonden Mädchens, sie sollte aufstehen, sich abwenden, weitergehen.
Und dennoch blickte sie das Kind an, mit weit aufgerissenen Augen, unfähig sich zu bewegen, den Atem anhaltend.
Es schlief. Es schlief. Und es träumte. Es träumte von Dingen wie Häusern auf dem Lande. Von Hunden, die es morgens vorsichtig weckten, von warmen Sommerabenden. Von Prinzen und von Drachen. Von Mitleid. Von Romantik. Vom Bösen, das vom Guten überwunden wurde.
Sie verharrte dort eine Ewigkeit, dann blickte sie auf, als würde sie erwachen. Sie stand auf, drehte sich um, lief zurück, zurück zu dem Umschlag. Sie hob ihn behutsam auf, zog den Blazer aus und setzte sich auf den nassen Boden. Der Wind strich sanft über die schmalen Narben an ihren Armen. Sie bemerkte es nicht.

„Träume sind Wirklichkeiten, die nicht enden wollen.“ – Hans Lohberger

Die Psyche des Raumes (4)

Diesen Artikel drucken 22. März 2005

Vladimir Sowmeschenjik, Verlorene Wahrheit, Kapitel 2, Seite 44

Über die Psyche und den Raum

[…]Und so erging es auch dem Raum, die physikalische Revolution des 19. Jahrhunderts walzte ihn schier eben so platt wie zuvor schon die Zeit. Das mechanistische Weltbild, eine Meisterleistung der Differenzierung, der Zerlegung und Trennung des Ganzheitlichen, eben der kalten Analyse des Göttlichen, erklärte selbst den Raum zu einem Gefangenen der Physik, eingesperrt in Naturgesetzen, zu ewiger, fast schon christlich anmutender Dreifaltigkeit in Ziffern, in x, y und z verdammt. Der Raum sei gleichförmig flach, breite sich in alle Richtungen gleichermaßen aus, sei lediglich der Träger, die Bühne, das Medium, auf dem der Welten‘ Dinge sich bewegten.
Nun, schnell war der Zauber dieser unheiligen Fraktalisierung des Ganzen verflogen, und selbst der Physiker musste sich eingestehen, dass das Göttliche nicht zwischen den Dingen zu suchen war, dass es viel komplizierter war als jene Formeln .
Und mit dem Glauben an das universelle Chronometer oder dem chronometrischen Universum schwand auch die maskenhafte Starre des Raumes und der Zeit – so zumindest in der Physik Einsteins.
Doch aus einem Grund, den wir nicht genau benennen können, hält sich auch immer noch die Überzeugung, der Raum sei eben so flach, wie es das alte mechanistische Weltbild diktierte.
Dabei ist es doch so augenscheinlich, dass der Raum sich ständig stülpt, sich verändert, nicht in einem physikalischen, sondern in einem psychologisch-spirituellen Sinne.
Betrachten wir so zum Beispiel die Fahrt in einem Auto auf einer schnellen Straße, sagen wir, auf einem amerikanischen Highway. Wir steigen ein und fahren los, und augenblicklich scheint sich die Welt selbst, besser der Raum selbst, um uns zu krümmen. Denn was nun außen ist, verschwimmt unter dem Eindruck der Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen, und demnach wird sich der Effekt verstärken, je schneller wir fahren. Und wer erinnert sich nicht an Momente des Schocks oder des Erstaunens, in denen plötzlich ein im Vergleich zum gigantischen Universum winziges Ereignis aufgebläht wird, so dass es uns zu umschließen scheint, und genau das scheint mir auch die Wahrheit zu sein.
Wie ich schon einmal schrieb, sehe ich mich selbst nicht als Propheten oder als Philosophen, sondern als einen Naturwissenschaftler der Subjektivität.
Psychologen mögen sagen, es sei nicht der Raum, der sich um das Subjekt krümme, sondern viel mehr das Subjekt, dass seine Wahrnehmung krümme.
Doch das ist nicht die ganze Wahrheit – geht die moderne Wissenschaft doch immer noch zu großen Teilen von der Existenz eines objektiven Beobachters aus, absurd angesichts der Offensichtlichkeit von so unmöglich objektivierbaren Geschehnissen. Denn wer will von sich sagen, er sehe „den“ Raum jetzt gerade flach, er habe den objektiven Überblick über das Geschehen, die objektive Sicht des Raumes? Es scheint offensichtlich, dass nur das Göttliche selbst, das Universum selbst dazu im Stande ist, warum also bei dem alten Modell bleiben?
Werfen wir es über Bord, wenden wir uns dem Realen zu, wenden wir uns dem gekrümmten Raum zu. Besehen wir uns da zum Beispiel ein Subjekt, dass in einen Zug steigt, in eine abgedunkelte Kabine und dort die Fahrt über verweilt.
Am Ende der Reise wird das Subjekt sich fühlen, als sei es nicht gereist, verständlich angesichts der Tatsache, dass für das Subjekt der Raum zwischen Start- und Zielbahnhof ja gar nicht existent ist, da er auch nicht wahrgenommen wurde. Aus der Perspektive der Subjektivität, in der ich mich in diesem Buch üben möchte, scheint es, als ob der Raum um den Zug sich verändert hätte, zu etwas wurde, was man in der Physik vielleicht ein Wurmloch nennen würde, auch wenn dies ein psychologisches Phänomen ist, kein physikalisches.[…]

Der Traum (3)

Diesen Artikel drucken 14. März 2005

Sie lehnte sich vorsichtig in sich selbst zurück. Die Sequenzen waren ihr vertraut, sie überlagerten, schienen einem geheimen Algorithmus nach um sie zu rotieren, sich abzuwechseln wie Bilder eines Kaleidoskops. Doch ihre Entspannung war die einer Totgeweihten, die sich der Unausweichlichkeit des Endes bewusst wurde. Oft hatte sie versucht zu fliehen, den Bildern zu entgehen, zu erwachen, doch es war immer sinnlos, das Aufwachen wurde zum Wiedererwachen oder besser zum Widererwachen, zur Rückkehr in den Traum. Ja, man könnte es Wideraufwachen nennen, in einer metallisch-kalt sarkastischen Umkehrung des ursprünglichen Begriffs, dachte sie in einem Moment der Ruhe.
Aber es ging irgendwann vorbei, sie wusste das auf die merkwürdige halb-bewusste Weise, auf die man manche Dinge einfach ahnt, ohne zu wissen warum, und deshalb ertrug sie es jedes Mal, ließ es routiniert zu.
Es war nicht etwa so, dass sie sich des Vorgangs des Träumens bewusst war, hatte sie einmal festgestellt, vielmehr schien sie in den Bildern aufzugehen, wurde Betrachter und Teil des Bildes zugleich, eine sehr verzehrte Perspektive, wie sie fand.
Escher. Das erinnerte sie an einen Künstler namens Escher.
Die klarer werdende Bilderfront, die sie zum Teil selbst war, zwang ihren Verstand wieder zurück in die Defensive, Reflexion wurde ersetzt durch unreflektierbare Wahrnehmung.
Eine Armee aus hundert Augen oder mehr, starrend, durch die Dunkelheit rollend auf hammerförmigen Füßen, wie Pendel auf und ab schlagend, auf und ab, auf und ab, ein bedrohlicher Nebel aus Pupillen, der sich gleichförmig und ewig auf alles und jeden zu bewegte. Doch nicht dieser Nebel war es, der die Szene dominierte, sondern das Stampfen der Füße, seltsam abgehackt, wie mit einem schlechten Synthesizer erzeugt. Dann ein rascher Wechsel, der Nebel wurde substanzieller, schien unsichtbar zu glühen in der ohnehin herrschenden Dunkelheit. Sie hätte nicht hinblicken müssen, um zu wissen, was es war, sie wusste es ohnehin, aber abwenden konnte sie sich unmöglich.
Ein schwarzer Wolf mit giftig-glänzendem Fell, dass eher an eine Maschine erinnerte, an die glänzenden Klingen der riesigen Stahlungetüme, die in ihrer Kindheit schwarzes Gestein aus den umliegenden Gruben gefördert hatten.
Einmal hatte sie schweißgebadet wachend über diesen Wolf gelacht, er war eine interessante, eine intelligente Projektion ihres Unterbewusstseins, wie sie fand, eine irrsinnige Verknüpfung von Grimms‘ Perversionen und der kühl-strebenden Technologie der Neuzeit, eine postmoderne Variante oder besser Version von Rotkäppchen.
Und tatsächlich, wieder und immer wieder und auch dieses Mal formte sich einen zweite Gestalt aus der Dunkelheit, ein kleines Mädchen mit leuchtend-blutroten Flecken auf der weißen Bluse und panischen, fliehenden Augen, wehrlos.
Und da war doch ein Unterschied zu den albtraumhaften Wölfen aus Kinderbüchern, wusste sie, denn dieser Wolf hatte keine verschlagenenen Augen wie der Barkeeper, dessen Silhouette nunmehr fern am Rande ihrer eingeschränkten Wahrnehmung schwebte, nein, diese Augen waren klar umrissen, silbern, in ihnen spiegelte sich eine simple, unverhohlene Bösartigkeit und ein unbändiges Verlangen wider, eine Forderung, die niemand verneinen oder aufschieben konnte, weder sie noch das kleine Mädchen mit dem zerschlagenen Gesicht.
Das war eine Tautologie, sie ahnte es, das Mädchen und sie verschwammen auf eine seltsame Weise, die Perspektive schien unscharf zu wechseln, ihre Ohnmacht und Verzweiflung war auch die des Mädchens – oder umgekehrt, sie hatte es nie heraufgefunden, sie kannte das Mädchen nicht, hoffte sie oder wollte sie hoffen. Das war ein ein Grund, warum sie oft stundenlang in ihrem Bett lag und weinte, wenn sie an dieser Stelle des Traumes erwachte, wenn der Eindruck der unüberwindbaren Gewalt des Wolfes und des Ausgeliefertseins noch frisch in ihrem Bewusstsein war. Sie hatte einmal einen Text gelesen – sie wusste nicht wo, das Träumen legte ihren Erinnerungen Fesseln an- , etwas Metaphysisches über Räume, halb philosophisch, halb esoterisch, über die Krümmung von psychologischen Räumen. Das hatte sie an dieses Wechselbild ihrer Träume erinnert, denn der Wolf schien den Raum regelrecht zu schließen um sich und das Mädchen, er musste sich nicht bewegen, um sich ihr zu nähern, sie schließlich zu verschlingen und in Dunkelheit zu verschwinden, es war der Raum selbst, der ihm das Mädchen zuschob wie ein Wildhüter, der ein Raubtier zufütterte. Als führe er ein Eigenleben.

Sie erwachte schweißgebadet, wie immer, in ihrem Bett, in dem anderen Zimmer, ihrem einzigen Zimmer, was den Rest der Welt anging. Ohne zu zögern öffnete sie ihren Nachtisch, griff nach den Tabletten, die sie darin unter Illustrierten versteckte, die von Königshäusern und Diäten berichteten, sie hatte das irgendwie als beruhigend sarkastisch empfunden.
Ein letztes Bild blieb in ihrem Kopf hängen, bevor die Tabletten wirkten, das kleine Mädchen aus ihren Träumen, aber irgendwie anders, verfremdet, gebrochen vielleicht. Der Wolf schien durch ihre Augen zu schauen.

„Schlafen ist Verdauen der Sinneseindrücke. Träume sind Exkremente.“ – Novalis

Das geheime Zimmer (2)

Diesen Artikel drucken 17. Februar 2005

Sie öffnete die Augen, zum fünfundvierzigsten Mal in dieser Stunde, sie hatte mitgezählt.
Immer noch drehte sich die Welt um sie, aber langsam, beruhigend, als sei sie das Zentrum von allem. In gewisser Weise stimmte das, zumindest hier, in diesem, ihrem Zimmer.
Sie schloß die Augen wieder. Die dumpfe Musik, die vom Ende ihres Bettes leise herüberfloß, drang augenblicklich stärker in ihren Geist, Geräusche von Lüftern, Klimaanlagen, Autos – das hatte sie zumindest im Laden auf der Verpackung gelesen – unendlich verzehrt und gewaltsam gestaucht zu langen, grauen Klangtexturen, die in ihrem Kopf zu massigen, menschlichen Körpern kondensierten, die ewig über ihr schwebten. Fast hätte sie ein Gesicht erkennen können, es berühren können, doch sie öffnete die Augen wieder. Halluzinationen und Tagträume, sie war sie gewohnt, sie hatte oft welche nach solchen Abenden, hatte sich an die immer gleichen Symbole gewöhnt, schüttelte sie ab, konzentrierte sich wieder auf die Musik. Die Musik, sie mochte sie, die schweren Klangflächen erinnerten sie an das kosmische Hintergrundrauschen, dass sie während einer Vorlesung einmal zu hören bekommen hatte, oder an ein schlecht komprimiertes Video, dass nur aus groben Artefakten bestand, großen farbigen Blöcken, die das Bild brutal entstellten. Sie stellte sich unwillkürlich ihr Leben vor, in groben, farbigen Blöcken gerastert. Die Halluzinationen kehrten zurück.
Hastig drehte sie sich um, besann sich auf die Gegenwart, und begann routiniert, den vergangenen Abend wieder zusammensetzen, der in ihrem Kopf immer noch nur in Fraktalen existierte, zersplittert, lückenhaft, wie ein Gemälde, dass man absichtlich in kleine Stücke zerrissen hatte.
Als sie wieder zur Bar zurückgekommen war, hatte sie ein Wasser bestellt, das reserviert-angeekelte Lächeln des Barkeepers war aus einem Grund, den sie besser später erforschen wollte, in ihrem Kopf zurückgeblieben.
Und dann war ihr Bekannter doch noch gekommen, etwas spät, wie immer, später als andere Gäste, mit riesigen Pupillen und einem hastigen Lachen auf den ausgetrockneten Lippen. High, aber immer merkwürdig überlegt handelnd. Er hatte sie begrüsst, ihr einige bunte Tabletten zugesteckt, gegen Müdigkeit und Übelkeit, hatte er gesagt. Sie hatte natürlich gewusst, dass es keine Medikamente waren, er nahm nie Medikamente, sie machten zu schnell abhängig, hatte er einmal gesagt, aber die Tabletten halfen immer. Es interessierte sie auch nicht wirklich, woraus sie tatsächlich bestanden, sie hatte Stoff nie an der Wirkung erkennen können, manchmal glaubte, er könne das vielleicht.
Dann waren einige Leute zu ihm gekommen und er war mit ihnen gegangen, nach hinten, Geschäfte. Er sprach nie über seine Geschäfte, aber jeder – oder zumindest sie – wusste, dass er dealte, in großem Stil vielleicht sogar, sie hatte nie gewagt zu fragen. Er hatte sie nie geschlagen, aber sie zweifelte nicht daran, dass er das tun könnte. Sie stellte sich vor, was er wohl mit ihr anstellen könnte.
Ihr wurde schwindelig. Sie griff blind zu der schwarzen Kiste neben dem Bett, suchte mit immer noch leicht zitternden Fingern die runden Tabletten, die sie manchmal nahm, ein leichtes Valiumderivat, fand eine davon und schnitt sich an einer der vielen sterilen Rasierklingen, die in dem Kästchen verstreut lagen. Während sie die Tablette nahm, begann sie mit der Klinge zu spielen, wie sie das nannte. Sie grinste. Spielen.
Ihre Gedanken kehrten wieder zurück zum vorherigen Abend, während ihre Hand sich weiter bewegte, die Rasierklinge locker zwischen zwei Fingern.
Irgendwann war er wieder gekommen, aufgekratzt, überdreht, vermutlich von dem Stoff, den er hinten genommen hatte, vielleicht etwas von dem weißen Pulver.
Wie so oft hatte er gefragt, ob sie noch mitkommen wolle, und sie hatte eingewilligt. Sie hatte es bereut, wie sie es jedes Mal bereute. Sie fragte sich, warum sie immer wieder mitkam. Ihr Bekannter mochte sie, dachte sie, vielleicht war das der Grund. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte, eigentlich glaubte sie nicht, dass er überhaupt irgendjemanden mochte.
Ihr Körper zuckte leicht, als sie etwas zu viel Druck auf die Klinge ausübte.
Sie waren als zu ihm gegangen und sie hatten nicht mehr viel geredet. Danach hatte sie stundenlang hellwach und überdreht neben ihm gelegen. Er hatte geschlafen, sie hatte wach neben ihm gelegen, mit dem lauten Rauschen der Brandung in ihrem Kopf, sie hatten einige Sachen genommen, davor, viel zu viele verschiedene. Sie hatte dort im Dunkeln gelegen und darüber nachgedacht, ob sie etwas von dem weißen Pulver nehmen sollte, dass auf dem Nachttisch lag, nur um etwas abzukühlen, um sich etwas Luft zu verschaffen, um die Halluzinationen loszuwerden.
Schließlich waren vor ihren Augen Menschen aus den Narben an ihren Oberarmen gequollen, winzige Menschen, kleine blonde Mädchen, und sie hatte sich furchtbar gefürchtet und schließlich doch das Pulver genommen.
Ein Kindheitserinnerung ließ sie lächeln. Das Sandmännchen. Schlafsand. Sie hatte die Mädchen Schlafen geschickt und war schließlich selbst eingeschlafen.
Als sie wach geworden war, war es schon fast Mittag gewesen, und sie hatte ihn geweckt. Er hatte sie nur grob geküsst und ihr Geld für ein Taxi gegeben, sich umgedreht und weitergeschlafen.
Sie zuckte wieder zusammen.
Geld für ein Taxi. Eines Morgens hatte er damit angefangen, es ihr zu geben, und sie hatte an diesem Morgen geschrieen und ihn geschlagen, und er hatte nur ihre Arme festgehalten und sie angesehen. Seitdem nahm sie das Geld. Und geschlagen hatte sie ihn nie wieder. Sie wusste nicht, ob aus Angst vor ihm oder aus Angst vor diesem Blick.
Und nun lag sie hier. Die Sonne, die sie in diesem Zimmer aus gutem Grund nicht sehen konnte, war sicher schon untergegangen. Langsam musste sie wieder in das andere Leben zurückkehren, es war schon spät. Morgen musste sie wieder zur Arbeit, Geld verdienen, funktionieren.
Sie fischte den grünen Kasten unter dem Bett hervor. Ein Kreuz war darauf aufgedruckt gewesen, das hatte sie zu zynisch gefunden und es mit etwas Farbe übermalt. Sie strich eine Salbe auf den Arm, stand langsam auf, um nicht hinzufallen und verließ das Zimmer. Wieder war ein Wochenende vorbei, dachte sie, und verschloss die Tür sorgfältig hinter sich, ihr kleines Geheimnis.

„Unter Drogen findet man nicht sich selbst, sondern nur den Teufel.“ – Konstantin Wecker

Dunkler bunter Regen (1)

Diesen Artikel drucken 25. Januar 2005

Große, schlauchförmige und -vor allem- merkwürdig bunte Tropfen.
Sie mochte Regen. Aber dies war kein normaler Regen, stellte sie fest.
Die Tropfen strömten um sie und durch sie hindurch. Ein Hauch Verwunderung erfasste sie. Kein Schmerz, nur das warme, prickelnde Gefühl des Regens unter der Haut, ansonsten nichts, nicht mal ein echtes Ich. Sie ließ den Gedanken fallen, er wurde ihr zu schwer, viel zu schwer. Eine Erinnerung durchhuschte den Schauer wie ein flüchtiger Bekannter. Ein junges, blondes Kind, ein Mädchen, das eine schwere Milchkanne wie einen Schatz vor sich her trug, mit offenen, weiten Augen. Große Tore, durch die die Welt ungehindert Einlass fand.
Stunden vergingen, während sie im Regen stand und an dieses Kind dachte.
Dann fiel ihr auf, dass der Regen zwar bunt, aber trotzdem unsagbar dunkel war, vor dem Auge floh. Sie versuchte ernsthaft, einen klaren Gedanken zu fassen.
Zum einen konnte ihrer Meinung nach Regen weder schwarz noch bunt sein. Schon gar nicht beides gleichzeitig. Zumindest glaubte sie das.
Zum anderen schien es ihr nicht ganz richtig, dass der Regen durch sie hindurchfloss.
Sie kniff die Augen zusammen, versuchte sich auf den Regen zu konzentrieren. Sah Schemen dahinter.
Die Konzentration wich wieder. Ihr Kopf schien ein Termitenhügel zu sein, dezentral, zerstreut, unfähig, sich in eine Richtung zu bündeln. Sie versuchte sich zu erinnern, warum das so war.
Dieses Mal hatte sie zuviel genommen.
Der Gedanke schnitt durch die wabernden Geistertermiten, verschwand wieder.
Eine Stimme hinter dem Regen, sie sang. Sang etwas, dessen Sinn sich ihr nicht erschloss, auch wenn sie sicher war, dass sie die Stimme schon mal gehört hatte.
There’s no beginning there is no end
There is only change
Progression backwards is this where we are heading
Take back your soul forget your emptiness

Eine zweite Stimme, viel näher. Ihre eigene.
Etwas berührte sie am Arm. Wie eine gespannte Feder schnappte ihr Geist zurück in die Realität. In die andere Realität, verbesserte sie sich. Eine warme, vertraute Hand, die sich reflexartig wieder um die Welt legte, aus der sie stammte.
Sie blickte in helle Augen, in denen sich eine weit entfernte Heimtücke widerspiegelte, sie lächelten scheinbar besorgt.
Der Barkeeper, sie erinnerte sich. Und fand die eigenen Arme auf der Bar wieder.
Diesen Ausdruck, sie kannte ihn genau. Diese Art von Boshaftigkeit, die man erst viel zu spät sah.
Bitter lächelte sie zurück. Solchen Augen hatte sie oft genug vertraut. Mindestens einmal zuviel.
Verkrampft hielten ihre Hände ein Glas. Die Knöchel traten weiß hervor, als wollten sie möglichst viel Abstand zu dem Getränk gewinnen.
Dieser Gedanke amüsierte sie. Bestimmt hatte er etwas in das Glas gemischt. Schließlich nahm sie sehr selten zuviel. Kontrolle. Sie hatte es unter Kontrolle.
Ihr war klar, dass das nicht stimmte. Aber sie fühlte sich noch so fern von sich selbst, dass ihr das egal war.
Mit einem Nicken drehte sie sich von dem Mann weg. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich enttäuscht ebenfalls abwand.
Sie lehnte die Arme vorsichtig an die Theke, achtete darauf, dass die langen Ärmel keine Flecken bekamen oder hoch rutschten. Außerhalb der Wohnung trug sie immer lange Klamotten, auch im Sommer, immer.
Diesen Platz mochte sie. Von hier aus konnte sie die Tanzfläche überblicken. Ja, das war der Grund, dachte sie und drehte das Glas langsam in einer Hand. Die Eiswürfel darin machten ein Geräusch, das sie nur fühlen konnte.
Nicht, dass sie hier oft jemanden sah, den sie nicht kannte. Fremde kamen hier nur selten her. Und wenn, dann hatten sie sich meist aufgrund ihres Zustands in der Tür geirrt. Aber sie sah gern den anderen zu, wie sie sich amüsierten. Oder das taten, was sie darunter verstanden, dachte sie grinsend.
Sie hob das Glas, roch daran. Ein schwerer Geruch von Kräutern stieg ihr in die Nase, wurde aber nach einigen Sekunden von einem leichteren, industriell-chemisch neutralen Geruch verdrängt. Das Grinsen erstarb.
Nicht unbedingt die Dinge, die man normalerweise in ein Glas Cola füllte.
Sie überdachte die Option, sich umzudrehen und irgendetwas zu sagen. Irgendetwas sehr Unfreundliches. Schüttelte dann unmerklich den Kopf und trank aus. Er war hartnäckig. Jetzt, da ihre Gedankengänge – ihrem Empfinden nach – weniger einem arbeitsamen Termitenvolk als mehr oder weniger geraden Linien entsprachen, fiel es ihr wieder ein. In den letzten Wochen hatte er solche Stoffe mehrmals in ihr Glas geschüttet.
Sie betrachtete die kleinen, luminiszierenden Tropfen am Boden des Glases. Winzige, längliche Kohlenwasserstoffketten, an denen schwere Sauerstoffatome klebten, auch einige andere, weniger freundliche Toxine. Sie schwangen im Takt der Musik. Ein Freund, nein, ein Bekannter hatte ihr mal gesagt, dass ähnliche Ketten auch im allerersten Ozean getanzt hätten, Bausteine gewesen seien für das erste Leben. Schöpfung und Zerstörung, so nah beieinander. Der Mensch erkämpfe sich den Weg zurück in die Ursuppe, hatte er gelacht. Sie wusste, dass dieser Vergleich nicht ganz stimmte, aber sie hatte es sich trotzdem gemerkt.
Heute war er nicht da, der Bekannte. Oder Freund. Ihr Blick schweifte wieder zur Tanzfläche. Einige Leute verließen sie gerade, wohl genervt von der Musik. Ein paar der Menschen sahen sie an, nickten ihr zu oder lächelten nur wissend.
Das Geräusch einer nicht endenden Brandungswelle kündigte die Rückkehr des Regens an. Regen.
Sie erinnerte sich an den Jungen aus dem Büro. Die Polizei, sie hätte die Polizei rufen sollen. Was hätte sie sagen sollen? Dass sie so eine Ahnung hätte?
Sie unterdrückte den aufkommenden Rausch. Stellte sich vor, wie sie über der schwarzen Welle stand, auf einem dunklen Brett darüber hinwegritt.
Vielleicht war ihm gar nichts geschehen, vielleicht hatte sie sich nur etwas eingebildet. Flashbacks. Sie hatte schon früher welche gehabt.
Nein. Irgendetwas in ihr wusste, dass das nicht stimmte. Er war tot, sie wusste es. Sie hatte es zwischen den Buchstaben gelesen. Irgendwo in dem Blau zwischen den Buchstaben. Deshalb war sie ja hergekommen. Um sich zu amüsieren, um sich abzulenken. Um Luft zu holen in der Gegenwelt, die sie jetzt unterdrückte.
Ihre Finger glitten hinter ihrem Rücken über eine Unebenheit im billigen Holz der Thekenwand. Eine Schnitzerei. Sie dachte daran, wer sie gemacht hatte, sie war ja dabei gewesen. Den Text hatte sie unzählige Male gelesen, während sie hier stand, manchmal mit den Augen, jetzt mit den Fingern. Death is no option hatte er eingeritzt, mit zitternden, schwitzenden Händen. Als ob er sich dessen selber versichern müsste.
Ihre Gedanken fanden wie von selbst zurück zu dem Jungen. Sein Credo war das augenscheinlich nicht gewesen, stellte sie ohne Ironie fest. Diese Gefühlskälte stammte nicht vom Alkohol, dass wusste sie. Sie stammte von dem anderen Zeug, das in dem Glas gewesen war.
Wahrscheinlich lag er immer noch in seinem Appartement. Oder wo auch immer er wohnte.
Einen Moment stellte sie sich vor, wie lange sie wohl in ihrer Wohnung liegen würde, bleich, Tablettenschachteln im Kreis um sich. Wie Opfergaben vor einem Altar.
Ihre Hände fanden wieder die markanten Schnitte im Holz hinter ihr. Eigentlich ein schöner Gedanke, fand sie, dann stieß sie sich von der Wand weg, ging den vertrauten Weg zur Toilette und übergab sich.

„Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen.“ – Sigmund Freud