Kategorie '/single shot'

Ein Text, eine Geschichte.

In der Stille

Diesen Artikel drucken 22. Januar 2006

Und dann war sie da, plötzlich, wenn auch erwartet, ersehnt, plötzlich stand sie direkt vor ihr, diese Stille, ganz leise und friedlich, die letzten beiden schmerzvollen Töne eines ausklingenden Blues schienen ihr vorausgegangen zu sein, melancholisch, aber befreit, eine Stille, die sie überraschte, auch wenn sie schon immer für diesen Moment gebetet hatte, für dieses befreiende Schweigen.
Ein zynischer Zug ließ sie an die umstehenden Gäste denken, für sie musste diese Stille etwas Fatales haben, etwas von Albträumen, etwas von der Angst vor Unvorhergesehene, für sie quollen sicher Millionen spitzer Fragen aus dieser Stille, Geschossen gleich, Fragen, die nur noch sie beantworten konnte.
Das Warum war sicher auch eine davon, sicher nicht die Allererste, dennoch, das Warum würde sicher jeden interessieren, aber sie würde es ihnen nicht erklären, sie würde nur schweigen, das hatte sie sich geschworen, der Gedanke erfüllte sie mit einem traurigen Stolz, nur noch sie konnte diese Fragen beantworten, nur noch sie, und sie würde schweigen, sie betrachtete noch einmal das Schweigen um sich herum, selbst die Musik war nicht mehr zu hören. Der Ring am Finger des Alten schien kleiner als in ihren Erinnerungen, Relikten aus einer fernen Kindheit, aber das lag vielleicht an dieser Situation, sie sah zur Bar herüber, die ganze Szene schien ihr surreal, eingefroren, einfach angehalten, in ihrem Verlauf gestoppt, nur für diese Stille, für diesen einen Moment, sie hatte die Zeit bestochen für diesen langen Moment.
In ihrem Kopf war auch diese Stille, sie war durch die Augen in sie hineingekrochen und tanzte nun dort, tanzte mit einem kleinen Mädchen, dass dort schon lange saß, tanzte um Erlösung und fand sie zusammen mit dem Mädchen in den letzten beiden ausklingenden Tönen eines alten Blues.
Es war merkwürdig, hier so zu stehen, fand sie und konnte nicht erklären, warum. In ihren Träumen hatte sie schon oft genau hier gestanden, aber doch fühlte es sich jetzt anders an, vielleicht war es einfach das Ende der Reise, vielleicht war es Reue, sie wusste es nicht, aber es war anders als in ihren Träumen, irgendwie anders.
Ihr Blick wanderte hinauf zu dem Gesicht aus ihren Albträumen, es war alt geworden, es war faltig und runzelig geworden, dennoch gab es keinen Grund zu zweifeln, das Markante, das Besondere an diesem Gesicht war immer noch da, es war der Alte, diese kalte Forderung durchzog immer noch die narbigen Wangen, er war es, er musste es sein.
Sie musterte ihn kühl. Seit 21 Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, Tausende Kilometer sie zwischen ihn und sich gebracht, doch sie war sich sicher, hatte ihn sofort erkannt, wie hätte sie ihn auch vergessen können, diese groben, großen Hände, die breite Statur, den Gestank eines billigen Parfüms.
Sie hatte hierher kommen müssen, die Stille gab ihr Recht, es gab Geschichten, deren Ende geschrieben werden musste, geschrieben werden musste für das Schweigen nach dem letzten Wort.
Er hatte kein Wort mehr gesagt, er war einfach umgefallen, als wäre ihm schwarz vor Augen geworden, er lag einfach still auf dem Rücken, die Gesichtszüge entspannt, in ihrer Vorstellung war es immer viel schmutziger gewesen, aber nein, er war einfach nach hinten gefallen, ohne noch ein Wort zu sagen, in ihren Träumen hatte sie ihn manchmal um Gnade bitten lassen, aber auch das war nicht geschehen, er war einfach umgestürzt, dieser immer noch massive Mann, und nun lag er so auf dem Rücken, sie erinnerte sich dunkel an einen Tag am Strand mit ihm, ganz so lag er jetzt auch auf dem Rücken, die Augen geöffnet, das Gesicht ganz ruhig, nur dieses immer hungrige etwas war zusammen mit dem Alten entflohen, verschwunden, dieses etwas, dass sie damals immer verfolgt hatte, sie stets gierig gemustert hatte, stets mit Gedanken gespickt, die heute ihre Albträumen schuffen, dieses etwas, es war zusammen mit ihm gegangen, geblieben war nur zwei leere und unschuldige Augen, die nicht mehr verrieten als die Stille, die sie für sich und ihn geschaffen hatte.
Einen Moment zögerte sie, dann vergab sie diesen Augen, sie konnten nichts mehr dafür, sie hatten ihre Strafe erhalten und waren nicht länger schuldig.
Sie fühlte, wie die Stille sich langsam zurückzog, sie ließ ihren Arm langsam wieder sinken, das Gewicht in der Hand wurde zu schwer für sie. Etwas Pulverdampf tropfte aus dem Lauf, mischte sich mit der Stille. Einen Moment lang sah sie noch dem Kind in ihrem Kopf zu, sah seinem Tanz zu, sah die Erlösung in seinen Augen wieder schwinden, schwinden wie die letzten beiden Töne des Blues, der eben noch gespielt worden war. Noch einmal wand sie sich diesem Schweigen zu, dieser Stille nach dem Schuss, winkte ihr zum Abschied. Dann rissen die Schreie der Gäste die beiden voneinander los.

„Mit interessieren nicht die vielen Momente, die leicht an uns vorbeirasen, die leicht wie Schmetterlinge auf unserer Seele lasten und keine Spuren hinter sich lassen. Mit interessieren vielmehr die kleinen Augenblicke, die uns bis zum Zerreißen anspannen, die kurzen Momente, in denen ganze Leben sich offenbaren als bloßes Warten auf diesen einen Augenblick, der allem einen Sinn zuspricht, doch hinter sich nur Narben und Verwundungen lässt.“

Hermetisch

Diesen Artikel drucken 8. Januar 2006

Er spielte seine Rolle, routiniert, ein schelmisches Lächeln auf den trockenen Lippen, ungelenke, künstliche Bewegungen, ein unablässiges Sprudeln von Scherzen und Anzüglichkeiten, er spielte seine Rolle, und die Menschen lachten im Kanon, ein vielstimmiges Brüllen und Juchzen wie Artilleriesalven.
Seine Hände flogen durch die Luft, zeichneten Bilder, verstärkten Reaktionen, die Hände eines Komponisten, der ein großes Orchester dirigierte, ein Orchester aus Lachen und Prusten, hinten das tiefe Gröhlen bärtiger Marineoffiziere, weiter vorne das hellere Kichern von jungen Sanitäterinnen.
Als er noch auf den anderen, großen Bühnen gespielt hatte, da hatte ihn auch dieses Lachen manchmal erfreut, selbst wenn es eigentlich der Applaus war, der ihn als Schauspieler getrieben hatte.
Es hatte sich verändert, schon vor langer Zeit, manchmal dachte er zurück an diese Zeit, an die Zeit vor der Rezession, vor dem Krieg, in manchen Augenblicken dachte er sogar hier auf einer Bühne daran.
Er sprach weiter, immer weiter, persiflierte Engländer, Franzosen, die eigene Luftwaffe, es war seine Aufgabe, die Menschen etwas abzulenken, seine und nur seine Last, oft musste er sich daran erinnern, wenn er in die vielen so verschiedenen Gesichter vor sich blickte, manche grob und von der Front gezeichnet, andere fein, aber dennoch blaß, ja, es war seine Aufgabe, diesen Augen für einen kurzen Moment etwas zu schenken, dass sie ansonsten schon lange verloren hatten.
Er stockte bei diesem Gedanken, machte eine unwillkürliche Pause, schon wieder, erschrak er sich, während er die Hoffnungslosigkeit in den Augen seiner Zuschauer abwog, noch einmal und noch einmal, so als ob es dafür ein präzises Maß gäbe.
Er zwang seine Gefühle zurück, zurück in sein Inneres, seine Stimme hob sich wieder, zunächst etwas brüchig, aber schnell wieder erstarkend, eine kleine Floskel nur, um der Pause ihre Dramatik zu nehmen, er schob sie russischen Kollaborateuren in die Schuhe, einige Sätze aus dem Standard-Repertoire, er grinste wieder krumm, wieder Lachen, sein Redefluß fand zurück auf die Bühne.
Nein, all diese Gedanken, sie mussten dort drinnen bleiben, so tief begraben wie nur möglich, außen durfte nur dieses krumme Lächeln zu sehen sein, nur dieser eine Wesenszug, diese eine Rolle.
Natürlich hatte auch er damals nicht an die Front gewollt, wer hätte das schon gewollt, aber er war naiv gewesen damals, vielleicht wäre es besser so gewesen, auch wenn er wusste, dass er den Menschen gut diente in seiner jetzigen Funktion.
Damals hatte er natürlich ohne Zögern zugesagt, als man ihm anbot, seinen ‚Beitrag‘ hier zu leisten, er hatte nicht an die Front gewollt – niemand hatte das – und sein Theater hatte man wegen der Bomben geschlossen.
Vielleicht war es für ihn persönlich die falsche Entscheidung gewesen, konstatierte er und sah zu, wie Agonie und Gelächter in den Augen seiner Zuhörer miteinander rangen.
Es entbehrte nicht einer gewissen komischen Tragik, als moderner Clown musste er das wohl eingestehen; er hatte in der Tat nie die Front gesehen, dafür aber hatte er zu oft gesehen, was die Front zurückließ, wenn er in den vielen Feldlazaretten auftrat, sie ließ immer nur Zerstörung und Tod, Leichen, die man eiligst beiseite geschafft hatte, die eigenen wie die anderen, Hunderte oder gar Tausende manchmal an einem Orte, inzwischen mussten es Millionen sein, Millionen.
Davon wussten die meisten Menschen nichts, die Presse verschwieg es, aber sie alle hatte eine Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl, dass das Ende kommen würde, und, so bekräftigte er sich, genau aus diesem Grund stand er noch hier und spielte seine Rolle, immer seine Rolle, alles andere blieb tief verborgen.
Die Führung sprach immer noch vom Sieg, nur noch hohle Propaganda natürlich, durch die vielen Besuche an verschiedenen Orten hatte er sich ein viel zu gutes Bild machen können, es ging auf das Unvermeidliche zu, bald würde alles zusammenbrechen.
Er kam wieder ins Stocken, diesmal aber hatte er es erwartet und fing die peinliche Stille schnell ab, drehte sie in eine Pointe um, festigte seine Stimme und redete weiter, das gleiche Lächeln auf den trockenen Lippen.
Manchmal erschien es ihm immer noch unfair, wie er hier oben vor allen stand und sie alle zum Narren hielt, obwohl er doch genauer als jeder andere wusste, wie es stand, und zunächst hatte er sich auch versetzen lassen wollen, als er die Brisanz der Lage begriff, doch er hatte einfach nicht aufhören können, er ihnen nicht das auch noch das letzte Stück Leben, das letzte Lachen rauben wollen, auch wenn selbst das schal und ausgemergelt klang an Tagen wie diesen. Natürlich, er könnte aufhören sie zu belügen, ihnen eine Welt vorzuspielen, die nichts mit der Bitterkeit der Realität zu tun hatte, aber was brachte ihnen die Wahrheit schon? Das Ende würde kommen, keiner von ihnen konnte das ändern, ob sie es nun wussten oder nicht, und so spielte er immer noch seine Rolle, stiftete Lachen, wo die Hoffnung schon starb, auch wenn das für ihn bedeutete, all die ungeheuerlichen Dinge für sich zu behalten, nur für sich, sie einzuschließen und zu vergraben, es musste sein, niemand sonst konnte diesen letzten Beitrag leisten.
Seine Schlußnummer kam, endlich, und er legte eine Pause ein, bewusst diesmal, wie er es immer tat seit einiger Zeit, er zählte die Sekunden, blickte in die Runde, verunsicherte Gesichter, aus einem Traum vom Lachen und Leben unsanft geweckt, fast angsterfüllt.
Nein, keiner dieser Menschen wollte wissen, was er wusste, sie bettelten nach Hoffnung, selbst wenn Hoffnung nur ein Lachen bedeutete, dachte er, seine Lächeln taute wieder auf, drei letzte Sätze, der Raum gröhlte wieder, etwas unsicher, aber umso lauter, er trat von der Bühne, immer noch das schiefe Lächeln im Gesicht, alles andere musste tief vergraben bleiben, abgesichert und verschlossen wie in einem Panzerschrank, hermetisch abgeriegelt.

„Das Vergnügen kann auf der Illusion beruhen, doch das Glück beruht allein auf der Wahrheit.“ – Nicolas-Sébastien de Chamfort.

Feldgrau

Diesen Artikel drucken 27. November 2005

Das war es jetzt also?, denkst du dir.
Das war jetzt also?, jedes Mal, immer wieder und wieder, und dein Blick richtet sich nach innen, weit in die Vergangenheit, du wägst ab, das war es jetzt also?, hast du genug gelebt, hast du getan was du tun wolltest, warst du ein guter Mensch, was wird jetzt werden?
Die vielen Facetten deines kleinen, verbrauchten Lebens tauchen schnell wie das Licht vor dir auf, nicht in der Form eines klischeehaften Filmchens, kein revue deines ‚Werdegangs‘, wie man so schön sagt, nein, es sind kontraststarke, stille Bilder, ein Kinderwagen, ein Gesicht, ein Ort im Süden, ganz erschrockene Fotografien, überbelichtet, wie von einem hellen Blitz eingefroren, überzeichnet und ganz anders in deiner Erinnerung.
Ja, du hast dein persönliches Fotoalbum im Kopf, hast es dir jederzeit schon zurechtgelegt, und während dein Außen über Gräben und Asphalt robbt und dein getriebenes Keuchen im Lärm untergeht, da blättert eine unsichtbare Hand in deinem Kopf die Seiten um, in aller Ruhe, stetig, ohne Unterlass.
Irgendwann fängst du an, darüber nachzudenken, woher kommen diese Bilder, wer hat sie für dich gewählt, manche erscheinen dir weniger passend für einen Nachruf, hast du sie selber ausgewählt, wer war es sonst, deine verdreckten Gliedmaßen krümmen und strecken sich automatisch, dein Verstand dreht sich weit ab um diese Fragen.
Doch niemand hat sie ausgewählt, es dauert nicht lange, bis du das erkennst, es dauert nicht lange, du misst die Zeit anhand der Feuerpausen, niemand hat sie gewählt, das Album bleibt, wo es ist, zeigt weiter stumm seine Bilder, unvollständig komprimierte Ansichten eines ganzen Lebens, der hoffnungslose Versuch deines Unterbewusstseins, dein Leben ganz zu erfassen und damit abzuschließen, damit abzuschließen und auf das Ende zu warten, dass in jedem Moment kommen soll und dich doch wieder und wieder nicht erreicht hat, deine Glieder kümmert das nicht mehr, strecken, krümmen, strecken, krümmen, das Gewehr hinterherziehen, der simpelste Algorithmus, den dein Stammhirn beherrscht, in einer Endlosschleife, ein Reflex lässt dich den Leichen ausweichen, du denkst nicht mehr darüber nach, bist ganz auf das Album fixiert, auch wenn du weißt, dass du unter jedem Helm nur dein totes Gesicht erkennen würdest, nur dein eigenes Gesicht im Dämmerlicht der Leuchtspurmunition, es berührt dich nicht mehr, du blickst nur starr auf deine zuckenden Arme, den Kopf tief gesenkt, und siehst die Bilder in deinem Album, immer wieder und wieder, die Motive werden fern wie die Sterne, der Weg nach Hause eine Ewigkeit, die Kälte des helllodernden Nacht, die du schon lange nicht mehr gespürt hast, sie kriecht in deinen Verstand, von innen, ein langsam wirkendes Gift, dass deinen Verstand müde und träge macht, während dein Körper weiter funktioniert, wie er sollte, wie du es trainiert hast, robben, ducken, schießen, ein gut geölter Roboter, der noch tadellos funktioniert, während dein Verstand nur noch apathisch den Bildern und ihrem Tanz zusieht und wartet, auf den einen Splitter wartet, der nicht verfehlt, den einen Volltreffer, den dir der Lärm der Detonationen schon so lange verspricht.
Aber er kommt nicht, kommt wieder und wieder nicht, immer nur wieder krümmen und strecken, krümmen und strecken, während du in diesem Roboter sitzt und weiter wartest, wartest.
Irgendwann lassen deine Glieder locker, du bleibst im Dreck liegen, eine Weile.
Dann stehst du auf, irgendwie, spürst deine Knochen nicht mehr.
Und fühlst die Stille um dich herum, das Fehlen des Donners und der vielen kleinen Blitze. Für einen Moment bist du frei, du lebst, für einen Moment.
Du gehst nach Hause, siehst all die kleinen Motive wieder, all die Bilder aus deinem Album, doch das Album selbst, die unsichtbare Hand, die die Seiten bewegte, sie bleiben beide verschwunden, verbrannt.
In deinem Kopf bleibt nur die Kälte der brennenden Nacht, das ewig graue Feld aus jener Finsternis, das war es jetzt also?, krümmen und strecken, krümmen und strecken, diese ganzen kleinen Motive, die du in dem Album gesehen und nun wieder lebendig vor dir hast, sie werden fern wie die Sterne, der Weg nach Hause zu einer Ewigkeit, und dein Verstand wird immer nur weiterrobben, ewig, das war es jetzt also.

„Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“ – Platon

Schwarz auf Weiß

Diesen Artikel drucken 29. Oktober 2005

Er saß wieder, saß wieder an seinem Tisch, wo auch sonst, seine Papiere, wie er sie nannte lagen verstreut darauf herum, ungeordnet für die Augen anderer, doch nicht für ihn, nein, nicht für ihn, jede Seite hatte ihren Platz, ihre wohldefinierte Position, das vereinfachte seine Arbeit.
Auch würde das ungeübte Augen wohl kaum erkennen, woran er da arbeitete, jeden Tag, bis spät in die Nacht hinein, denn viele der Symbole auf diesen seinen Papieren wirkten befremdlich, nur wenige andere Menschen konnten sie deuten.
Es waren Zahlen, endlose Kolonnen von Zahlen, auch andere Symbole dazwischen, manche wie Runen, andere fast wie zufällige Tintenkleckse eines Kindes, auch wenn ihre offensichtliche präzise Anordnung dies unwahrscheinlich erscheinen ließ.
Seine Arbeit war schwer, und sie wurde in keinem Moment leichter, das betonte er gern vor Freunden, aber eigentlich, so musste er bei solchen Gelegenheiten ebenso gestehen, bereitete sie ihm auch eine große Freude, was auch dazu geführt hatte, dass er selten zu Hause mit seinen Kindern aß.
Manchmal vergass er fast, dass er nichts Konkretes über seine Arbeit verlauten lassen durfte, er schmunzelte immer noch manchmal über diesen Satz, es war der Wortlaut eines Uniformierten gewesen, er konnte sich noch genau an die Begebenheit erinnern, sein Gedächtnis war trainiert, „Ich weise sie darauf hin, dass sie nicht befugt sind, konkrete Informationen über ihre Arbeit bei uns verlauten zu lassen.“, das hatte er gesagt, ein älterer Herr mit funkelnden Augen, und dann noch etwas von Kriegsfall und Hochverrat hinzugesetzt, er erinnerte sich nicht mehr genau.
Er selbst verabscheute Krieg, verabscheute Gewalt an sich, dass Menschen anderen Menschen weh taten hatte er nie verstehen können. Auch deshalb war er froh, nicht an die Front geschickt worden zu sein, wo immer die sich auch gerade befand, er wusste es nicht genau, hielt sich von diesem widerlichen Geschehen, wie er sagte, „so fern als möglich“.
Es war sein Glück gewesen, dass er diese Anstellung bekommen hatte, er betonte das stets und fühlte es immer, wenn er mit seinen Kindern am Tisch saß, es war ein Glücksfall gewesen, eine glückliche Fügung. Zwar hatten sie schon zweimal umziehen müssen – die Front war ihnen wohl zu nahe gerückt – aber das belastete nur seine Frau, nicht ihn, nicht, so lange seine Familie mit ihm kam – und natürlich seine Papiere.
Seine Papiere – Wenn er mit ihnen am Tisch saß, so schien ihm der Krieg oft ebenso fern wie seine Kinder. Selbstverständlich wusste er, dass auch sein Werk etwas mit dem Krieg zu tun hatte, aber, so wusste er, nur indirekt, nur indirekt hatte er etwas damit zu schaffen, nur indirekt, er wurde nie müde dies zu erklären.
Und wenn er erst einmal hier saß und die unzähligen Zahlen und Symbole besah, so vergingen seine Zweifel und auch die Gedanken an den Krieg, der draußen irgendwo tobte, ein gräßliches Geschehen, es blieben nur noch schwarze, klare Piktogramme auf makellosem Papier, keine Abwägungen, keine Konflikte, keine unsinnigen Abstufungen, nur noch die Zeichen auf seinen Papieren.
Kaliber, Treibladungsdichte, Detonationsradius, Geschoßbahnkurve, letale Effizienz, kritische Masse, Wirkungsradius – all diese Dinge verloren hier ihre schroffe, debile Ambivalenz, ihre grausam lärmenden Konnotationen, ihr schmutzig-graues Wesen, und was von ihnen blieb füllte seine Papiere, füllte sie Seite für Seite, Buch um Buch, frei von jeder Mehrdeutigkeit.
Er stellte sich seine Gleichungen oft als Skelette vor, Skelette der realen Dinge, und wie auch die Skelette von uralten Sauriern keine Bedrohung darstellten, so waren auch seine Bücher für jedermann ungefährlich.
Und wenn er nach mancher langen Nacht doch einmal zweifelnd auf die Zahlen hinunter blickte, nur für einen Moment, so nahmen sie ihm seine Unruhe schnell wieder, er hatte mit dem Krieg, mit dem Töten, nur indirekt, kaum zu tun, es blieb das Schwarz und Weiß auf seinen Papieren, scharf begrenzt und nie verschwommen, nur Symbole und Zahlen und die ihnen inhärenten abstrakten Strukturen, ungefährlich, unschuldig.
Eigentlich hatte er nie etwas anderes machen wollen, dachte er oft, auch das war sicher ein Glücksfall, ein ganz besonderer sogar. Er liebte seine Papiere, liebte die Art, wie die Piktomgramme miteinander interagierten, sich hinter seinen Augen verbanden zu kühl schwebenden Abstraktionen, manchmal geometrische, fast visuelle Strukturen, manchmal unaussprechliche, nicht zu beschreibende Muster und Verknüpfungen.
Mit Erstaunen nahm er oft wahr, was andere Menschen lasen; Romane, Zeitungen, Biographien, Geschichtsbücher und viel mehr, das er nicht so recht kannte, er hatte das nie verstanden, auch wenn er es oft genug versucht hatte.
Vielleicht waren diese Schriften nicht abstrakt genug, er wusste es nicht, aber diese anderen Papiere bereiteten ihm ein großes Unbehagen, und so las er sie nur selten und widerwillig, auch wenn seine Frau es sicher gern sehen würde, wenn er das ein oder andere Mal die Zeitung aufschlagen würde.
Seine Papiere und Bücher dagegen schienen ihm perfekt, eine makellose Choreographie von abstrakten Modellen, Symbole und Zahlen, die in seinem Geist tanzten wie es kein Mensch könnte, nichts an ihnen verwies auf etwas Reales, und schon deshalb konnten sie wohl kaum mit dem Töten zusammenhängen, so hatte er es -verbotenerweise- seiner Frau erklärt, sie waren nur Schwarz auf Weiß, Buchstaben auf Papier, scharf begrenzt, eindeutig, der Welt abgewandt und unschuldig. Er wusste, dass er Recht hatte.
Nur manchmal in letzter Zeit, da war etwas Unangenehmes geschehen, wenn er lange gearbeitet hatte, er erinnerte sich jetzt nur noch selten daran. Die Piktogramme, sie waren vor seinen Augen merkwürdig verschwommen gewesen, spät in der Nacht, am Anfang nur ein klein wenig, er war nicht mehr Jüngste, dass wusste er, und so hatte er es ignoriert, es beiseite geschoben, sich einfach tiefer über die Papiere gebeugt.
Doch Nacht für Nacht war es schlimmer geworden, die Zahlen und Zeichen wurden immer unschärfer und grauer, und es wurde ihm eine große Last, weiterzuarbeiten.
Eines Nachts dann schließlich, für ihn lag es nun schon eine ganze Weile zurück, da hatte er plötzlich stichiges Rot zwischen seinen ehemals schwarzen Symbolen gesehen, und er war so erschrocken, dass er nach Hause ging und in dieser Nacht nicht mehr arbeitete.
Es musste an der Müdigkeit liegen, hatte er entschieden, er war ja auch nicht mehr der Jüngste, natürlich, eine optische Täuschung.
In dieser Nacht hatte er nicht so gut geschlafen wie sonst, wohl wegen des Schrecks, hatte er am nächsten Tag am Küchentisch gewitzelt.
Am Nachmittag verließ er den Stützpunkt, kaufte sich eine Brille. Und – das war fast wichtiger, hatte er entschieden – etwas Medizin, „damit er länger wachbleiben könne“, wie der Doktor gesagt hatte.

„Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik!“ – Enrico Fermi, 1945 als Direktor der Abteilung für theoretische Physik in Los Alamos auf Einwände von Kollegen gegen den Bau der Atombombe.

Morgengrauen

Diesen Artikel drucken 7. Oktober 2005

Ich grüße dich, mein guter alter Freund.
Dies wird der letzte Brief sein, der dich erreicht, einen weiteren kann es nicht geben, wie du weißt.
Ich hocke hier im schummrigen Licht der Dämmerung auf dem Schemel und starre in die Düsternis, die sich draußen zwischen den Gitterstäben erstreckt.
Es ist merkwürdig, aber ich bin jetzt ganz ruhig geworden. Du weißt, wir sprachen das letzte Mal noch über die heutige Nacht, du versuchtest mir Mut zu machen, doch glaubte ich insgeheim, die Angst würde mich trotz aller Bemühungen doch noch packen.
Nun ist es eine Nacht geworden, dunkler als die vier zuvor, doch ganz ohne Angst und Unruhe. Im Gegenteil, ich fühle eine seltsame Zufriedenheit, eine unsterbliche Ruhe in mir, als ob nichts auf der Welt mir schaden könnte.
Vor einigen Stunden war der Pfarrer hier, du errätst sicher den Grund seines Besuches, aber um dir die Frage gleich zu beantworten, nein, ich habe mich nicht bekannt, nicht gebeichtet und auch nicht mit ihm gebetet. Er hat mich noch nach dem Grund meiner Ablehung gefragt, kannst du dir das vorstellen? Ich habe ihn nur angesehen und gefragt, ob er wisse, was ich getan habe. Er nickte wortlos und verschwand, Pfaffen!
Lange könnte ich mich über sie auslassen, doch du weißt, mir bleibt kaum noch Zeit, kaum noch Zeit auch nur Atem zu holen, schon kann ich fern die Turmuhr hören, die von meinem Tod künden wird.
Ich freue mich nicht recht auf diesen letzten Schlag, aber natürlich nicht. Noch bin ich dem Wahn nicht verfallen, das bin ich nicht, du weißt, das bin ich nicht, und so freue ich mich auch nicht auf das Ende.
Wohl aber, und dies mag dich in der Tat verwundern, fühle ich mich nicht mehr eingesperrt oder bedrängt, ganz im Gegenteil.
Schon lange muteten mir dein Mitleid und das der deinen für meine Lage seltsam an, doch konnte ich mir dieses Gefühl nicht erklären.
Gestern jedoch, wie ich hier früh morgens auf meiner Pritsche saß und zwischen den Gitterstäben hindurchstarrte, da dachte ich daran, wie wohl das trübe Licht der Deckenlampe von draußen wirken würde, wie es wohl auf die freien Menschen wirken würde. Und bei dem Gedanken, mich könnten alle so in meiner Lage sehen, da fühlte ich meinen Stolz verletzt und in meiner Wut zerschlug ich die Lampe mit den bloßen Händen.
Nun, das ist einmal wieder ganz typisch für mich wirst du sagen, ich weiß und lache mit dir.
Danach jedoch geschah etwas Merkwürdiges;
Als das Licht in meiner Zelle verlosch, sah ich plötzlich das aschfahle Licht der Dämmerung, dass in den dunklen Raum fiel, und für einen vertauschte ich im Geiste meine Zelle mit der Welt dort draußen. Es war nur ein Gedankenspiel, zunächst, das Spiel eines müden Geistes, fast ein Zufall, wenn nicht das schwache Sonnenlicht mich an das Licht der Lampe erinnert hätte. Doch ich blieb bei dem Gedanken, sponn ihn weiter, und er hat mich zur Ruhe kommen lassen.
Denn bedenke;
Bin ich wirklich derjenige, der euer Mitleid verdient?
Ich weiß, wann es zu Ende gehen wird. Und kann leben, planen, sein, denn meine Zeit ist wohlbemessen und folgt dem Klang eben dieser Turmuhr, die vor meiner Zelle weit aufragt. Ihr dagegen seid ewige Todeskandidaten, über euch kreist von der Geburt an das Beil des Scharfrichters und schwebt mal Minuten, mal Jahrzehnte über euch, bevor es schließlich seine unvermeidliche Bahn zieht.
Ich werde in zwei Stunden sterben. Ihr dagegen sterbt euer ganzes Leben lang, euer eigener Tod ist die ständige Unwägbarkeit, die immanente Unsicherheit in eurem Leben; ihr könnt nicht leben, denn der Tod ist eine ständige Dimension, ein ständiger Begleiter eures Lebens. Die Folgerung mag sogar dir, obwohl du mich wohl kennst, wirr erscheinen, aber nicht ich bin es, der in der letzten aller Zellen sitzt. Mein Tod wurde nur auf einen Tag, auf eine Stunde festgelegt, euer Tod dagegen wurde auf jeden Tag und jede Stunde eures Daseins festgelegt. Ihr habt mich nicht zum Tode verurteilt; ihr habt mich zum Leben verurteilt und mich nicht ein- sondern vielmehr ausgesperrt aus eurer großen Zelle des Todes.
Und vielmehr noch; euer Tod wird sinnlos sein, das Finale eines sinnentleeren Lebens, ein bloßer Mechanismus, eine natürliche Notwendigkeit sein. Wenn ich gehe, so bringt das den toten Männern Gerechtigkeit und ihren Nächsten Genugtuung. Mein Tod wird Sinn machen, er ist ein Handel mit der Welt: Mein Leben für die Sache.
Verlach mich nicht, aber ich werde so sterben wie ein Held. Mein Leben wird nicht gegeben, aber genommen werden für die Sache, für die Gerechtigkeit, und so bin ich auch ein wenig ein Held, etwa so wie Prometheus auch ein klein wenig ein Räuber war.
Du siehst, meine Lage ist eigentlich nicht euer Mitleid wert; vielmehr ist es Neid, der euch antreiben sollte.
So muss ich dann auch schließen, habe alles Wichtige geschrieben, und auch wenn ich noch Stunden und Tage weiterschreiben möchte, höre ich doch schon die Hacken der Wärter über den Flur knallen.
Und sei versichert; ihr alle habt mein tief empfundenes Mitgefühl, denn euer Morgengrauen wird ein Leben lang dauern.

Gräme dich nicht, mein Freund. – W.

„Bei unserer Geburt treten wir auf den Kampfplatz und verlassen ihn bei unserem Tode.“ – Jean-Jacques Rousseau

Die Asche in deinen Augen

Diesen Artikel drucken 20. August 2005

Mein Liebes, du weißt, dein Blick ist etwas trübe, er hat etwas Gelangweiltes, Müdes, Mürbes, Zersetztes oder Zersetzendes, aber er fesselt mich dennoch, lässt mich niemals los, hält mich stetig fest.
Weder kann ich mich dagegen wehren, noch kann ich mir dieses Mysterium erklären, der Grund bleibt oft unsichtbar für mich, doch ich habe eine Ahnung, eine gewisse Idee, ich muss sie dir darlegen, ich kann nicht anders, sie beschäftigt mich stetig und ist zu einer großen Last geworden.
Bitte lach nicht über mich, doch ich denke, es die Asche in deinen Augen, die mich so gefangenhält, die Asche in und hinter deinen Augen, ich weiß, das klingt merkwürdig, wie könnte es auch nicht, natürlich klingt es absurd, aber denke deshalb nicht schlecht von mir, es ist mein voller und aufrichtiger Ernst, wenn ich dir das sage, du hast Asche in deinen Augen, Asche.
Eine weitere Erklärung muss ich dir wohl schuldig bleiben, ich kann nur beschreiben, was ich sehe, und ich sehe nun einmal Asche, Asche hinter deinen Augen.
Oft erinnere ich mich an Tage, an denen die Asche sich ein Stück hervorschiebt aus ihrem geheimen Versteck, ein endloser Strom wie von einem Vulkan ausgestoßen, weder Tränen noch Stofftücher können sie vertreiben.
Ich sehe dich so vor mir, dicke runde Tropfen rinnen deine Wangen hinab und du weißt, du weißt, dass auch sie nicht helfen können. Ich glaube, du hast oft darüber nachgedacht, die Asche mit einer Gabel oder einem Messer herauszubrechen, doch nur dein Augenlicht würdest du dabei verlieren, glaube es mir, es wären nur deine Augen, die du zerstören könntest, die Asche würde bleiben und leise über dich kichern.
Aus einem Grund, den ich dir nicht nennen kann noch will, ist es diese Asche, die mich so fesselt, die deine Augen so faszinierend verschleiert, etwa so, wie eine dunkle Wolke, die vor den Sternen liegt.
Ich sehe dich so vor mir, während ich hier sitze und diesen Brief schreibe, der dich wohl nie erreichen wird oder aber schon erreicht hat, so sehe ich dich vor mir, und ich bemühe mich wirklich, genau zu beschreiben, was ich dabei fühle, obwohl ich weiß, wie merkwürdig, wie makaber das Ganze ist.
Die Asche, ich denke die Asche ist nicht ekelerregend in einem pathologischen Sinne, nein, sie besteht nicht aus den verbrannten Überresten von Holz oder Fleisch, du riechst ja auch nicht nach Asche, – was für ein absurder Gedanke, nicht wahr – nein, sie ist von ganz und gar anderer Gestalt als gewöhnliche Asche.
Je länger ich dich so vor mir sehe, im Geiste, desto klarer wird es mir, es sind verbrannte Träume, die da leise in deinen Augen schwelen, es sind Dinge, die man mit dir getan hat oder die du getan hast, die sich da kalt und schweigend verstecken, allesamt verbrannt und vermischt zu eben dieser Asche, von der ich spreche und die ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme.
Sicher, auch du bist es, der für sie verantwortlich ist, es ist auch deine Schuld, aber so ganz möchte ich das nicht glauben, dein Leiden schmerzt mich zu sehr. Verzeih mir – und halte nicht für brutal, du kennst mich ja – , aber wenn ich erkennen könnte, wessen Asche es ist, wer sie hinter deine Augen geblasen hat, ich würde ihn finden und verbrennen, all sein Fleisch und Blut zu ebensolcher Asche verbrennen wie der in deinem Blick, bis nichts mehr von ihm bliebe außer einem Häufchen Schmutz, ich würde sie alle finden und verbrennen.
Doch ich kann es nicht erkennen, das scheint mir ebenso eine zynische Wendung wie auch eine bedeutende Eigenschaft von Asche zu sein; sie macht unkenntlich, wer oder was sie einmal war, zurück bleibt nur der amorphe Stoff, er lässt keine Rückschlüsse mehr zu, verschweigt seinen Ursprung.

Aus der Asche entsteht wieder Leben, so sagen die Menschen. Ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist, ich kann es auch nicht beurteilen, aber vielleicht, vielleicht ist es ja wahr, und wenn ich so darüber nachdenke, dann erscheint es mir plausibel, denn ich kann mich gut erinnern; manchmal, selten, doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, da sitzt du so vor mir, mit deiner Asche in den Augen, all den verbrannten Wünschen und Verwünschungen, und so etwas wie ein Luftzug geht durch sie hindurch, geht durch deinen ganzen Körper und dann durch deine Augen, und für einen kurzen Moment leuchtet die Asche hell auf. Vielleicht ist doch noch etwas Leben darin, ich weiß es nicht, wie könnte ich auch, vielleicht ist es auch weniger ein Luftzug als ein Funke, ein kleiner Funke, der die Asche wieder aufglimmen lässt, für einen Augenblick.
In solchen Momenten tropft manchmal etwas von der Asche auf den Boden oder auf ein Blatt Papier, ganz so, als wollte sie sich mit ihrem Ursprung wieder vereinen, fließend, fliehend, wie eine Flüssigkeit, die eine Höhe herabrinnt. Doch nicht nur aus deinen Augen fließt die Asche, sie flieht auch durch deinen Mund, in manchen kurzen Momenten sogar wie ein tief schäumender Strom, Tausende Wort fließen dann aus deinem Mund, tiefdunkel mit Asche bedeckt, ich kann es so direkt vor mir sehen.
Ich kann dir nicht sagen, ob das ein Weg der Heilung ist, ich weiß es nicht, kann es auch nicht beurteilen, vielleicht kann das niemand, vielleicht kannst du es nur selber.
Doch wenn ich dich dann so sehe ist mir, als ob die Schleier in deinen Augen dünner werden würden, als ob die Asche zögern würde, ganz so, als ob ihre Präsenz abnehmen würde, aber ich bin mir nicht sicher, ich könnte es nicht versprechen oder gar beschwören, es ist nur mein Eindruck, eben meine Empfindung.
Ich hoffe, du vergibst mir diesen Brief, ich weiß, er hat etwas sehr Seltsames, fast schon Verrücktes, ich weiß das, doch ich musste es dir schreiben, vielleicht kann ich nun wieder etwas besser schlafen. Das mag selbstsüchtig klingen, in meinen Ohren klingt es so, aber glaub mir, gäbe es einen Weg, ich würde gern deine Asche hinter meinen Augen tragen, ich verspreche es dir.
Du magst über diesen Brief lachen oder ihn nicht einmal bis zum Ende studieren, doch ich kann nicht zurücknehmen, was in ihm steht, es ist die Wahrheit, ich bestehe darauf:
Du hast Asche in deinen Augen, Du.
Oder Ich?

„And he says:
‚I swear I’m not the devil,
Though you think I am,
I swear I’m not the devil.‘ “ – Staind

Level Eins

Diesen Artikel drucken 17. August 2005

Ins Licht stolpern.
Schlafen.
Aufwachen.
Schlafen.
Ich-Erwachen.
Laufen lernen.
Mit Papa und Mama spielen.
In den Urlaub fahren.
Geschwister kennenlernen.
Weinen, weil Papa den Fernseher ausgemacht hat.
Mit den Geschwistern spielen.
Spielplätze lieben.
Schäufelchen klauen und weinen, weil Mama schimpft.
Fremde Kinder mißtrauisch beäugen und dann doch mit ihnen spielen.
Von Mama zum Kindergarten gefahren werden.
Trotzig sein.
Eingeschult werden.
Merken, wie das ewige Kinderlächeln der Ernsthaftigkeit weicht.
Andere Menschen finden und verstehen, was ‚Beziehung‘ bedeutet.
Den modus operandi von Freundschaften ausloten.
Viel Lachen.
Im anderen sich selbst und das Fremde entdecken.
In der Schule gut oder schlecht sein.
Sich mit anderen raufen.
Hinfallen und weinen.
Die erste fünf/eins schreiben.
Sauer auf die Eltern sein.
Hormone im Blut haben.
Schmutzige Wörter lernen.
Sich von einigen Menschen wieder verabschieden, weil man auf eine andere Schule kommt.
Manchmal einsam sein und merken, wie beschissen das ist.
Das Sein des Wahnsinns oder den Wahnsinn des Seins verstehen.
Viel lesen.
Rücken an Rücken mit dem Anderen stehen.
Lernen zu lernen.
Sich über Lehrer lustig machen.
Ein schlechtes Gefühl haben, weil man die Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Mädchen entdecken.
Plötzlich aufs Aussehen achten.
Musik und Klamotten kaufen, die alle kaufen.
Merken, wie blöd das ist, ausmisten.
Sich über Tamagotchis aufregen.
Einen Computer kaufen.
Zusammen mit anderen zocken.
Sich mit Leuten verkrachen und wieder vertragen.
Von alten Menschen Abschied nehmen.
Ernsthafte Partnerschaften eingehen.
Ziele und Vorstellungen entwickeln.
Die Welt nicht verstehen.
Sich auf andere verlassen können.
Parties entdecken.
In Discos gehen und nur noch über Mädels reden.
Aus Versehen viel zu viel trinken und nicht wirklich daraus lernen.
Erfahrungen machen.
Verzweifelt die Welt zum Teufel wünschen.
Alles ändern wollen.
Überlegen, was man später machen will.
Von der Schule gehen.
Überlegen, was man später machen will.
Zum Zivil/Wehrdienst herangezogen werden.
Sich anbrüllen/langweilen lassen.
Wieder nach Hause kommen.
Schreiben.
Wissen, was man jetzt machen will.
Ausziehen.

Eine Kosten/Nutzen-Rechnung schreiben.
Sich darüber ärgern, dass man nicht jedes Risiko mitgenommen hat.
Über Fehler lachen und dennoch nicht ihre Lehre vergessen.
Narben betrauern und allen unendlich dankbar sein.
Versuchen, sich zu erinnern.
Immer noch nicht wirklich wissen, was zählt.
Eine Ahnung haben.

Was bleibt noch?
Traurig aus dem Fenster sehen.

Und sich auf Level Zwei freuen.

Ruinen

Diesen Artikel drucken 30. Juli 2005

Die alten Steine der Außenmauer stehen noch, manche etwas verstreut zwar, trotzen sie doch widerwillig dem Alter und auch dem Auge, starren immer noch zurück, hüten ihre Geheimnisse wohl unter der Patina von grünem Moos.
Der alte Kaminzug, längst verfallen, umgestürzt und niedergebeugt, teilt seinen Platz mit Löwenzahn und wildem Efeu, dass ihn durchrankt und ihn wie in einer Umarmung zu halten scheint. Er hat nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu geben, nur noch den Stolz eines erlegten Tieres aufzubieten, und nur tote Erinnerungen rinnen aus den weiten Rissen im Gemäuer.
Erbaut, so sagen die Leute im Dorf, wurde es vor langer Zeit, das Bauernhaus, in dem dunklen Kriege, der das Land einst vom Meer bis an die großen Berge im Süden ertränkte, lange ist das her, sehr lange, die Menschen nennen es die dunkle Zeit, wenn sie doch einmal davon reden, sie sprechen nicht gern davon.
Die Steine erzählen nichts von dunklen Zeiten, sie sprechen nicht mehr, halten trotzig jeder Beobachtung stand und verraten nichts, und ihr sommertagsheißes Schweigen mischt sich mit den Geräuschen von Vögeln und Insekten, die den Ort erobert haben wie einst die Soldaten in eben diesem Kriege.
Der fleißig und aufmerksam aus ehemals weißen Kacheln gebaute Fußboden, von Rissen durchlöchert, die der Wildwuchs lange schon für sich eingenommen hat, dient nun nur noch den Ameisen aus dem nahen Wald als Heimstatt. Auch er schweigt, lässt die Ameisen ruhig gewähren, und auch wenn die Kinder im Dorf unten manchmal angstvoll den Geschichten über Hexen und Dämonen lauschen, die hier lauern sollen, so ist der Boden und das ganze Haus doch starr und still, tot, gefangen in einer Art Verachtung für die, die es vergessen, dem Verfall preisgegeben haben.
Würde man hier graben, leicht würde man auf Spuren stoßen, Spuren aus Hunderten von Jahren, Spuren vom Haus und seinen Bewohnern.Viele Generationen von Familien haben es bewohnt, Hunderte von Kindern auf seinem ehemals stolzen Dachboden geträumt, Dutzende Eheleute sich unter seinen Türbalken geküsst. Und ein wenig von jedem Bewohner steckt in diesem Haus und im Boden darum, viel ist es nicht, denn viel ist bereits verloren, viel verrottet oder weit davon gespült. Manchmal nehmen die Kinder aus dem Dorf etwas mit, den kleinen Löffel eines uralten kleinen Buben mit blonden Haaren etwa, der im Boden geglänzt hat, sie verstehen seine Geschichte nicht, und so geht auch er verloren. Auch über das Haus selbst könnte der Boden viel erzählen, so etwa von den Feuersbrünsten, die das Haus oftmals niedergebrannt haben, und deren Spuren noch in den schwarz-kohlenden Holzsplittern zu finden sind, tief verborgen im sandigen Grund.
Die Steine, sie erinnern sich genau an jeden der Bewohner. Jedes Gesicht, längst schon kalt und verrottet, ist für sie noch lebendig. Der Gram lässt sie darüber schweigen, doch an einem schönen Tage kann man es an ihnen ablesen, in den tief verrunzelten Scharten im Stein erkennen, die vielen sorgsam gehüteten Erinnerungen, soviele Willkommensgrüße und Abschiede, soviel Freude und auch Trauer. Und auch die Ältesten im Dorf könnten sich niemals messen mit der Weisheit, die diese Steine besitzen.
Doch sie sprechen nicht mehr, nicht etwa aus der kindischen Verletztheit eines jungen Menschen heraus, nein, es ist die abweisende Verachtung eines Alten, der eine schwere Mißachtung ahndet, ruhig, mit aller Zeit der Welt.
Bald werden auch die Steine verschwunden sein. Jedes Jahr werden sie weniger, einige zerbröckeln einfach, werden vom Wind davon getragen, andere werden von den Dorfbewohnern geraubt, und so geht in stürmischen Nächten oft ein Seufzen durch die alten Mauern, denn auch die vielen Bewohner, die vielen Menschen, denen dieser Ort einst Schutz oder gar einen Platz zum Leben bot, auch sie werden mit den Steinen und dem Seufzen verschwinden.
Hunderten von Jahren hat das Haus standgehalten, hat oft Unheil abgehalten und viel eingesteckt, wortlos, zufrieden. Und immer ist es lebendig geblieben, hat niemals nachgegeben. Bis das Vergessen kam.

„Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ – Bertolt Brecht

Der Fischer

Diesen Artikel drucken 30. Juli 2005

Seine Hände zogen kleine, rundliche Linien durch den Sand, schienen etwas zu suchen im nassen Boden, der an einigen Stellen noch schlickige Pfützen aufwies.
Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, den Kopf starr nach oben gerichtet, zur Sonne hin, um jeden Strahl aufzusaugen, jeden Schluck Wärme aufzunehmen. Die Ebbe war gekommen, wie sie immer kam, langsam, aber mit einer gewissen Ebenmäßigkeit, und nun saß er neben seinen Netzen, auf einem Stück Meeresboden. Die anderen Fischer lachten oft über ihn, weil er sich während jeder Ebbe hier herunter begab, statt auf der sicheren Hafenmauer oder dahinter zu stehen und seine Netze zu flicken. Er wusste, sie konnten es nicht verstehen.
Ein leises Seufzen ging über seine Lippen, und seine großen, klobbigen Füße gruben sich noch ein Stück tiefer in den Schlick, spürten die Kälte, die von unten aufstieg, ein letzter Abschiedsgruß des Meeres, dass sich zurückgezogen hatte, aber zurückkommen würde.
Oft saß er hier und tat nichts, gar nichts, lag einfach nur da und genoß die Sonne, unbeschwert, in gewisser Weise sogar fröhlich. Er saß auch hier, wenn die Sonne nicht schien, denn wenn auch die Sonne ihm keine Gesellschaft leistete, so blieb doch die Ebbe, blieb für die ihr bestimmte Zeit. Wenn sie wieder ging und mit der Flut tauschte, dann musste auch er wieder fort von diesem Ort, musste zurück, zurück in den Hafen, zurück zu seinem Schiff, zurück aufs Meer, er dachte an die tobende Gischt, die es in mancher Nacht aufwarf, an die tausend prickelnden Nadelstiche, die der Wind dort draussen auf ihn warf, ein großes wütendes Tier, dass sein Revier verteidigte, rachsüchtig, tobend, er blickte hinaus auf den weiten Schlick vor sich.
Noch herrschte Ebbe, erinnerte er sich, er sank tiefer in den kleinen Holzstuhl, den er sich mitgebracht hatte, immer mitbrachte, altes vergilbtes Holz, in seinem Aussehen seiner Haut nicht unähnlich, vom Wetter gezeichnet, aber standhaft.
Oft dachte er an das Meer und auch an seinen Beruf, der doch so untrennbar mit der See verbunden war. Er wusste, nie hätte er diesen Beruf erlernen wollen, doch seine Eltern hatten es so gewollt, und so hatte er die Schule abbrechen und seinem Vater auf dem Schiff helfen müssen. Lange war er danach auf der Flucht gewesen, heute nannte er es Flucht, sehr lange, ein einsamer, wütender junger Mann, der von Hafen zu Hafen fuhr, ohne Interessen oder Wünsche, der immer nur vor dem Meer und seinen Eltern weglief und dabei doch ebendiese See befuhr, weil er nichts anderes gelernt hatte. Viele Städte hatte er gesehen, viele Länder, viele Sprachen gehört, viele Mädchen geküsst. Doch das Meer hatte er nie hinter sich lassen können, immer hatte er es gebraucht, um weiter zu fliehen, immer hatte er es nutzen müssen, um sein Geld zu verdienen. Und das Meer hatte es ihm auf seine Weise gedankt, er dachte an unzählige Stürme, an riesige Wellen, haushohe Wände, die fließende Verwünschungen in die Nacht malten, an den grollenden Wind, der sie vorlas.
Sein Blick fiel auf die Kaimauer, eng gemauerte, riesige Steinquader, die noch neu waren und das Sonnenlicht deshalb etwas stärker widerspiegelten. Er lächelte wieder in die Sonne. In ein paar Jahren, wenn die ersten Sturmfluten gegen diese neuen Steine gedonnert waren, würden auch sie wieder vergilbt und dreckig aussehen, das Sonnenlicht nicht mehr zurückwerfen, nur noch einen matten Schein besitzen. Die anderen Männer hoch über ihm, auf der Mauer, bellten sich Befehle entgegen, und er wusste, dass die Flut bald kommen würde, und er würde wieder mit ihnen fahren. Er dachte an die drei Kinder, drei Söhne, er würde wieder für sie aufs Meer fahren, auch wenn er sie nie sehen würde.
Der alte Kutter seines Vaters war noch gut in Schuss, wie sie hier sagten, und das war gut so, denn viel brachte die Fischerei nicht mehr ein, das wussten sie alle, nur drei Fischer fuhren noch hinaus, mussten, hatten nichts anderes gelernt. Seit 22 Jahren fuhr er mit dem alten Schiff, er dachte an den Tag, an dem er sich entschieden hatte, zurückzukommen, den Tag, an dem ihn der Brief erreicht hatte, in irgendeiner der großen Hafenstädte, deren Namen er heute kaum noch wusste. Der Pfarrer hatte ihn aufgesetzt, denn seine Mutter konnte ihn nicht schreiben, war zu schwach gewesen.
Es war eine stürmische Nacht gewesen, er hatte es sich immer gut vorstellen können, war er doch hier aufgewachsen, und sein Vater war hinausgefahren, alleine, wie immer. Drei Tage später hatten sie das Boot gefunden, nur leicht beschädigt, auf der Seite liegend, in einer kleinen Bucht nicht weit von hier. Viele der Menschen hier schrieben der See einen Charakter zu, und viele hatten damals gesagt, die See hätte ihnen etwas zurückgeben wollen, als Trost, als Erinnerung. Schon damals hatte er es anders empfunden, obwohl er es nie gesagt hatte, wohl um seine Mutter zu schonen, die dennoch bald darauf gestorben war.
Da war keine Entschuldigung, kein Trost, den die See spenden wollte, nur Hohn, grenzenloser sadistischer Hohn, davon war er überzeugt. Und er dachte an das alte kleine Schiff, das er immer noch befuhr, die Botschaft war klar gewesen, es war Zynismus gewesen, mörderisch kalt wie die harten Wellen, die hier wie überall an die Küste schlugen. Er hasste das Meer dafür, und dennoch würde er bald wieder hinausfahren. Doch noch herrschte die Ebbe, noch einen kurzen Augenblick lang, seine alte Verbündete, der einzige menschliche, mitleidige Zug der See.
Nach 22 Jahren wusste er nicht mehr genau, warum er sofort zurückgekehrt war, sein weniges Erspartes für einen Flug, seinen einzigen Flug ausgegeben hatte, er wusste es wirklich nicht mehr, vielleicht war es ein Funken Übermut gewesen, den er damals noch hatte, vielleicht war es die Sorge um seine Mutter gewesen, eine alte Fischersfrau, die nie jung oder schön gewesen zu sein schien.
Als er erst einmal hier war, konnte er nicht mehr gehen, der Blick auf die See hatte ihn gebannt, und er hatte ohnehin kein Verlangen mehr nach der Welt da draußen verspürt, hatte sie gesehen und für sich seinen Frieden mit ihr gemacht. Nur seine Kinder verbanden ihn noch mit der Welt, sie lebten immer noch in großen Städten, dem Meer sehr nahe, auch wenn sie nicht viel mit der See zu tun hatten.
Und so war er hiergeblieben, überwies jeden Monat auf drei Konten, er verstand nicht viel davon, ließ das einen Freund bei der Bank im Dorf erledigen, und er fuhr zur See, jeden Tag, und manchmal kam ihm das wie ein beständiges Duell vor, ein Duell mit dem Meer, auch wenn es das nicht war, denn das Meer war ungleich stärker als er selbst. Viele der älteren -überlebenden- Fischer erzählten, dass sie immer Respekt vor dem Meer gehabt hatten, doch er wusste, das war keine Versicherung. Er begnetete dem Meer mit der selben Art von Respekt, den er den Piraten entgegengebracht hatte, die ihn früher einmal mit dem Gewehr in der Hand unter Deck gezwungen hatten, vor langer Zeit, irgendwo im Pazifik.
Doch er musste aufs Meer hinaus, konnte nicht anders. Umso glücklicher war er, dass keins seiner Kinder auf dem Meer arbeiten geschweige denn leben würde, sie alle hatten eine gute Ausbildung vor sich, er wusste das, und in gewisser Weise machte ihn das glücklicher als alles andere, auch wenn seine Kinder für ihn nur Fotos waren.
Kleine, konstant auf- und abschwingende Wellen schlossen sich um seine Füße, hatten sich unbemerkt angeschlichen und erschraken ihn nun, auf eine vertraute Weise. Die Flut kam. Er blickte ein letztes Mal in den Himmel, dann stand er auf und ging, ging zu seinem Schiff, aufs Meer. Er würde wiederkommen und wieder in der Sonne liegen, wieder und wieder und wieder. Bis es auch ihn holen würde.

„Das Meer ist salzig wie die Träne, die Träne ist salzig wie das Meer. Das Meer und die Träne sind sich durch die Einsamkeit verwandt. Das Meer hat sie schon, die Träne sucht sie.“ – Karl Gutzkow, Gutzkows Werke, Bd. 4

Schrei im Glas

Diesen Artikel drucken 9. Juli 2005

Die Räder des Zuges ratterten über die Gleise, bedächtig und ziellos, ächzend unter der Gewissheit, niemals ruhen zu dürfen, niemals eine Heimat zu erreichen.
Er sah sich um, blickte in fremde, ferne Gesichter und wusste, dass keiner von ihnen so empfand, spüren konnte, was er spürte.
Sein Kopf glitt zurück zu seinem Spiegelbild im Fenster, ein Schrei, zu Glas geworden, erstarrt.
Die anderen Fahrgäste, so hatte er bemerkt, hielten fast schon respekt-, nein, angstvollen Abstand zu ihm, er wusste, warum, konnte es verstehen, nein, hätte es verstehen können, verstand es nicht.
Er blickte hinunter auf sich selbst, auf das Schizophren-Gestückelte, das noch war, und ein anderer Teil von ihm blickte hinab auf seine Hände, blutverkrustet, getrocknetes, totes Blut, das in Poren und Hautfalten geronnen war und ihn an ein Gebirge erinnerte, uralt, voller Geschichten, so alt, dass sie niemand mehr erzählen konnte.
Es war rechtzeitig gewesen, dachte er, ein Funken Selbstzufriedenheit spülte in ihm hoch, mischte sich mit dem Schrei im Glas und zerfloß zu dem Geschmack bitter-süß-sauer Retrospektive.
Schweigend wog er die Tabletten in den Händen, versuchte sich an die genauen Bezeichnungen zu erinnern, verwarf es wieder, es war irrelevant, er würde sie nicht nehmen, und er dachte an die vielen Tablettenschachteln, die er gesehen hatte, ein verschwommenes, kaltes Bild des Zimmers, nein, er würde sie nicht nehmen, nie wieder würde er solche Tabletten nehmen, niemals wieder.
Er fand den Behälter, ließ die Tabletten hineinfallen und erinnerte sich an das schale Lächeln der Krankenschwester, die sie ihm gegeben hatte, ein Lächeln, hinter dem sich Ekel und Bewunderung versteckten, zu gleichen Teilen, nein, gemeinsam, in einer inneren Absprache zu einer Emotion verschmolzen. Er hatte sich geweigert, seine Hände zu reinigen, das Blut zu entfernen, er wusste nicht, warum, und wusste es doch.
Sie hatte ganz sicher gehen wollen, dachte er und lächelte fast, wie ein Betrunkener, ganz und gar ohne Grund oder Sinn, und sein Lächeln gefror. Sein Blick fand wieder den Schrei im Spiegel, fand das Gesicht eines Lebenden, emotionslos, wenn auch düster, und er suchte nach dem Schrei darin, fand ihn nicht, nur ein anonymes, nominelles Gesicht, jamais vu, er hatte von dem Phänomen gelesen, er klammerte sich an die Folgerichtigkeit seines Geistes, presste sich eng an die kühlen Wände des Schocks.
Ein Schaffner schritt durch den Waggon, er hatte keine Fahrkarte gekauft, zum ersten Mal in seinem Leben, es war irrelevant, der Mann betrachtete ihn unsicher, betrachtete seine Hände, die rotgefärbten Ärmel, die Hose. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, sich erklären, doch er schloß ihn wieder, denn der Mann schritt entschlossen und schnell an ihm vorbei, ließ den Blick dabei immer noch vorsichtig auf ihm ruhen.
Seine Handgelenke spürten noch das Pochen, das leise Pochen in den zerschnittenen Unterarmen, ein schwächer werdendes Klopfen, eine Million Tropfen Blut, die wütend den Tod herbeischrieen, ihn im düsteren Takt des Herzens herbeitrommelten.
Es wurde dunkel, ein Tunnel, und er stöhnte leise unter dem Gewicht der Bilder, die sich in der Dunkelheit manifestierten, ihn zu umschließen suchten, atmete erst wieder, als der Tunnel hinter ihnen lag, und einige Sekunden lang musste er sich versichern, dass der Zug noch existent war, sich nicht verloren hatte in den Bildern.
Wut kochte in ihm hoch, er wusste nicht, wohin damit, wohin mit der Emotion, und so blickte er weiter still auf seine Hände, folgte den Kratern und Falten, die das Blut geschaffen hatte.
Sie werde es schaffen, es schaffen, durchkommen, der Satz klang immer noch in seinen Ohren, und er stellte sich das Gesicht des Arztes vor, von dem er stammte.
Es hatte ihn nicht beruhigt. Es war ein junger Mann gewesen, dennoch tiefe Furchen auf seiner Stirn, die viel erzählten.
Lang hatte der Mann gesprochen, nur halb hatte er zugehört, und am Ende hatte er eine Hand auf seine Schulter gelegt und ihm gedankt, gedankt für seine Hilfe, seine entschlossenes Handeln. Es hatte ihn nicht interessiert.
Jemand ging durch den Waggon, eine junge Frau, ein Kind auf dem Arm, sein Blick nahm den des Kindes auf und erkannte in seinem Lächeln das Mädchen, das Mädchen, dass er an der Notaufnahme hatte abgeben müssen wie ein Auto in einer Werkstatt. Er könne jetzt nichts mehr tun, hatten sie gesagt, und ihn herausgeworfen. Das letzte Bild von ihr, sie in einem Bett, sehr klein, an Kabel und Maschinen angeschlossen.
Wieder blickte er in das Fensterglas, sein Widerstand zerbrach. Das Bild kehrte wieder, er wurde es nicht los, musste die Schritte durch das Haus, in ihr Zimmer, ihr Zimmer, immer wieder sehen, immer und immer wieder, und er hörte wieder die laute Musik, sah wieder die Tablettenschachteln und das Blut, das viele Blut, sie in der Mitte des Raumes, kalt und ohne Bewusstsein. Und wieder und wieder sah er sich selbst, wie er laut schrie, ihre Unterarme mit den Händen abzudrückten suchte, aus denen immer noch mehr und mehr Blut strömte.
Er blickte starr aus dem Fenster, oder in das Fenster, oder in sich selbst hinein, stundenlang.
Eine Hand berührte ihn am der Schulter, tastend und unsicher.
„Endstation.“, sagte der Schaffner leise, aber bestimmt.
Seine Schultern sackten unter der Berührung zusammen wie Gerüste, die lange ein großes Gewicht getragen hatten. Einige Tränen rannen über sein Gesicht, fielen auf seine Hände, lösten etwas Blut.
„Ja, Endstation.“, antwortete er flüsternd, hob die Hände vors Gesicht.
Und der Schrei löste sich laut hallend aus dem Glas, als wäre er nie dort gewesen, floh durch die Luft des Zuges, hinaus in die Nacht.

„Fall – I will follow.“ – Titel eines Musikalbums der Gruppe Lacrimas Profundere.

Nachtrag:
„Warum ich kein Wort mehr spreche, warum ich nicht schreie, tobe, rase, fragst du?
Weil kein Schrei laut genug wäre, selbst wenn die ganze Welt schreien würde.“ – bad_indicator.