Der Markt

Diesen Artikel drucken 28. Oktober 2012

In deepest hollow of our minds
A system failure left behind

Ich schob meinen Kopf nach hinten, damit sich die Kopfhörer lösten

And their necks crane
As they turn to pray for rain

Die Stimme verblasste, die Geräusche der Bahn wurden deutlicher.

Die Gruppe von Menschen, auf die ich aufmerksam geworden war, bemerkte mich kaum. Es war ein seltsamer Haufen, drei Männer und drei Frauen, alle in Kleidung, die für diese Jahreszeit und wohl auch dieses Jahrhundert mehr als ungewöhnlich war. Die Männer trugen Anzüge, aber keine modernen: Alt sahen sie nicht aus, aber der Schnitt und die Details erinnerten an das alte England. An ihren Westen baumelte deutlich sichtbar eine silberne Kette, und mit einer gewissen Regelmäßigkeit blickte einer von ihnen auf eine der silbernen Taschenuhren, die daran hing. Die Frauen – oder besser Damen – waren in aufwendige, in einer U-Bahn offensichtlich sehr unpraktische Kleider gehüllt, die sie trotz ihrer Jugend schwerfällig und ein wenig lächerlich erschienen ließen. Sie trugen aufwendige Hüte, die Herren nicht minder kostbare und anachronistische Dandy-Melonen. Allen gemein war dabei eine authentische Selbstsicherheit, um nicht zu sagen, Arroganz. Als sie in der 42. Strasse zugestiegen waren, hatten sie einige andere Fahrgäste nur mit ihren Blicken von den Plätzen vertrieben. Auf diesen Plätzen saßen nun die Damen in einer anmaßend geringschätzigen Haltung, während die Herren standen. Ich konnte ihr Gespräch nicht hören, aber die Silben, die die Bahn nicht verschluckte, klangen ebenso gestelzt wie es das Auftreten der Gruppe vermuten ließ.

Die Bahn hatte schon zweimal gehalten, seit sie eingestiegen waren: Als die Bahn zum dritten Mal abbremste, reichte ein jeder Herr wie auf ein geheimes Kommando hin seiner Dame eine Hand, und jede der Damen quittierte diese antiquierte Ehrerbietung mit einem kalten Lächeln, dass weniger Dankbarkeit oder Freude auszudrücken schien als vielmehr die Anerkennung von Pflichterfüllung. Als der Zug hielt, stiegen sie aus, in einer wie abgesprochen wirkenden Reihenfolge, erst ein Herr, dann die Damen, dann die beiden anderen Herren. Ich schob die Kopfhörer in die Jackentasche: Ich hätte noch zwei Stationen fahren müssen, doch ich beschloss ihnen zu folgen.

Ich ging in einigem Abstand hinter ihnen, kam ihnen aber schließlich sehr viel näher, als ich beabsichtigt hatte, weil die Drehkreuze der U-Bahn für die Damen mit ihren viktorianischen Kleidern eine gewisse Herausforderung darstellten; sie meisterten sie, ohne ein einziges Mal diesen halb-spöttischen, überlegenen Ausdruck zu verlieren. Als wir schließlich an der Oberfläche ankamen, blieben sie plötzlich stehen, und ich ging, so langsam wie es mir möglich war, an ihnen vorbei; sie starrten auf eins der Hochhäuser, den BoA-Tower. „Die Rendite wird unaufhörlich steigen“, hörte ich einen der Herren sagen. Die Damen kicherten kurz vergnügt, als hätte er etwas beinahe Anstößiges gesagt, und das Kichern verwandelte sich in einen tadelnden Blick. Ich blieb an einem Zeitungsstand stehen, damit sie aufholen konnten. Während ich Kaugummi kaufte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie sich ihren Weg bannten. Die Bürgersteige waren voll, aber noch nicht überfüllt: Wenn man ab und zu einem Entgegenkommenden auswich, kam man zügig voran. Sie jedoch machten nicht die geringsten Anstalten, auf andere Fußgänger zu achten. Die Damen waren von zwei der Herren flankiert, der dritte ging einen Schritt oder zwei voran. Alle drei trugen wuchtige Spazierstöcke, die sie demonstrativ schwangen und hier und da einen Passanten zur Seite schoben oder ihn nur drohend erhoben, wenn ihnen jemand zu nahe kam. Niemand echauffierte sich; die Menschen senkten den Kopf und liefen auf die Straße, umgingen die Gruppe. Als sie mich passierten, schob mich einer der Herren barsch beiseite und bedachte mich eines Blicks. „Dort entlang!“, hörte ich einen der Herren sagen, und er wies auf ein Schild, das an einer Laterne angebracht war. „Straßenmarkt“ stand darauf, ein Pfeil wies die Richtung.

Ich folgte ihnen weitere zwei Blocks, bis sie abbogen; die Gebäude wurden hier rasch flacher, und hinter uns ragte der Tower weit sichtbar auf. In der Entfernung konnte ich den Fluss sehen. Ich blickte auf meine Taschenuhr: Es war noch Zeit.

Nur einige Hundert Meter weiter erkannte ich ihr Ziel; es war ein abgezäunter Parkplatz, auf dem der Markt stattfand, zwischen zwei Highway-Auffahrten. Hier und da war der Zaun aufgerissen, und nur noch einige schiefe Schilder wiesen darauf hin, dass der Boden zum Verkauf stand und dass man einstweilen sein Auto hier abstellen konnte, gegen eine für diese Gegend lächerliche Gebühr. Die Straße endete weit vor dem eigentlichen Gelände, und die Gruppe verlangsamte, weil die Damen Hilfe benötigten, um zwei oder drei große Pfützen zu überwinden, in denen das Wasser des letzten Regens stand. Das schien ihre Laune nicht zu trüben, im Gegenteil. Je näher sie dem verwahrlosten Grundstück kamen, desto gelöster schienen sie. Eine der Damen, augenscheinlich die jüngste, lachte mehrfach laut auf und klatschte in die Hände, bis eine der anderen sie offenbar auf die Gepflogenheiten ihres Standes hinwies. Sie beruhigte sich schnell, doch immer wieder kicherten die drei, und ein oder zweimal lachten auch die Männer ihr Ho-ho-ho, das wie aus einem schlechten Film zu kommen schien.

Als wir dem Gelände schließlich immer näher kamen, sah ich den ärmlichsten Markt, den ich mir vorstellen kann. Es schien mir mehr ein Flohmarkt denn ein Straßenmarkt zu sein: Es waren grob geschätzt vielleicht 100 winzige Stände, an Menschen Dinge verkauften, die andere wohl wegwerfen würden; uralte, abgewetzte Kleidung, altes Werkzeug. Halb geborstene Spiegel; An einem Stand verkaufte ein nervöser dicker Mann mit nur einem Arm verdrecktes Elektrowerkzeug direkt aus seinem Kofferraum. An einem anderen bot eine schäbig gekleidete Frau, die sowohl 20 als auch 50 hätte sein können, Waffeln an, deren Teig sie in einer alten, verkrusteten Schüssel vorhielt. Auf einem aus grober Pappe herausgerissenen Schild vor ihr prangte der Schriftzug ’50 Cent“. Zwei dürre Hunde, die ein trauriges Pärchen abgaben, dass nie so recht zusammengepasst hatte, schlichen geduckt zwischen den Ständen hin und her, bis sie hier oder da einen Tritt bekamen. Die Hunde wie auch der ganze Markt schienen nur eine Farbe zu haben: Grau. Alles war von einem dünnen, aber dominanten Schleier des Gräulichen bedeckt, selbst die fleckigen Bananen, die ein alter Mann in einem ranzigen Rollstuhl an seinem Stand verkaufte, waren grau. Grüne, gelbe, rote Pullover, allesamt wie aus der Altkleidersammlung – grau. Selbst die Menschen hinter den Ständen war auf so hoffnungslose Weise vergilbt, dass ich immer neugieriger wurde, was diese Gruppe von seltsam gekleideten Menschen hier suchte. Und es war nicht nur das Grau; über dem ganzen Ort hing etwas Hoffnungsloses. Kaum jemand bewegte sich zwischen den Ständen, niemand schien etwas zu kaufen. Allein eine Gruppe von verdreckten Kindern in Kleidung, für die jedes einzelne entweder schon zu groß oder noch nicht groß genug war, schlich umher und erwartete wohl, dass hier oder dort etwas abfallen könnte; davon abgesehen waren es nur Verkäufer, die gelangweilt die Auslage der Konkurrenz musterten, und danach wieder zu ihrem Stand zurückkehrten.
Die Viktorianer waren am Rand des Marktes stehen geblieben und schienen angeregt und deplatziert fröhlich darüber zu diskutieren, in welcher Richtung sie den Markt zuerst erkunden sollten. Ab und an wies einer in einer Richtung, dann ein anderer in eine andere: Schließlich zückten einer der Herren eine Münze und warf sie in die Luft. Die Kinder hatten die Neuankömmlinge inzwischen erspäht und hatten sich in einiger Distanz postiert. Ich konnte sehen, wie ihre Augen gierig der Münze folgten. Die Herren lachten vergnügt auf, als sie das Ergebnis ihres Münzwurfs begutachteten, und auch die Damen kicherten wieder. Achtlos warfen sie die Münze in Richtung der wartenden Kinder, die sich mit großes Geschrei darauf stürzten. Amüsiert setzte sich die Gruppe in Bewegung.

ich folgte ihnen in großem Abstand; von mir schienen die Kinder weniger Notiz zu nehmen, aber die Viktorianer behielten sie im Blick. Während wir links und rechts die ersten Stände passierten, warf ich einen weiteren Blick auf die Auslagen. Alte CDs mit kaputten Hüllen wurden angeboten: schlecht kopierte DVDs, billiges, immer blinkendes Spielzeug aus China zu horrenden Preisen. Die Verkäufer schienen alle vom Leben oder vom Schicksal gezeichnet. Einigen fehlten Gliedmaßen; andere saßen im Rollstuhl. Wieder andere wirkten auf den ersten Blick gesund, aber viel zu dünn oder viel zu dick für ihre Größe. Allen gemein war dieser Grauschleier und, prägnanter, der flehende Ausdruck in ihren Augen, den sie mir entgegen brachten. Ich bin mir sicher, dass dieser Markt für viele der einzige Weg war, den Lebensunterhalt zu verdienen, und auch das trug zu dem jämmerlichen Eindruck bei, den die ganze Szenerie bei mir verursachte.

Den Viktorianern schien das nichts auszumachen; sie lachten vergnügt über dieser oder jenes. An einem Stand mit Spielzeug blieben sie einen Moment stehen und schienen über die Waren oder über den Verkäufer, einen Jungen von vielleicht 17 Jahren zu lachen. Sie setzten ihren Weg fort, und ich konnte keine Regung im Gesicht des Jungen erkennen, bis auf das Flehen, dass ich bei allen sah. Ich dachte darüber nach, ihm etwas von seinen Grässlichkeiten abzukaufen, als die Gruppe vor mir noch lauter wurde: Sie hatten an einem Stand angehalten, hinter dem ein sehr alter Mann saß, ein Barrett auf dem Kopf. Vor ihm ausgebreitet lagen Abzeichen oder Medaillen militärischen Ursprungs, und er selbst trug einige an seiner vergilbten Uniform. Einer der Herren hatte einen der Orden genommen und der Jüngsten in der Gruppe angeheftet. Heftig lachten sie über den Scherz; Ohne den Veteranen auch nur eines Blickes zu würdigen, reichte ihm ein anderer Herr seine Taschenuhr, und der Handel schien damit besiegelt. Und auf eine seltsame Weise schien sich damit eine Verabredung zu schließen, die die Sechs hatten. Plötzlich teilte sich die Gruppe; die Damen gingen an einen Stand, die drei Männer an einen anderen. Einer der Herren tauschte seinen Schal gegen einen gelblichen Pullover; die Damen tauschten ihre Hüte gegen alte Turnschuhe, eine zerbrochene Haarnadel und einen kaputten Plattenspieler, dann ihre Schuhe gegen drei Hosen, und schließlich tauschten die Viktorianer in einer solchen Geschwindigkeit ihre festliche, schillernde Kleidung gegen Altkleider und Nippes, dass ich nicht mehr im einzelnen folgen konnte. Mehr noch, sie zogen ihre Erwerbungen auch direkt an, und hielten das ganze wohl für einen Scherz von gigantischem Ausmaß; jede Scham, jeder altbackene Anstand, den sie zuvor so deutlich präsentiert hatten, schien vergangen. Die Damen tauschten ihre Korsagen, selbst ihre Miederkleider; die Männer erwarben einen ganzen Karton voller beschädigter Elektronik im Tausch für ihre Spazierstöcke. In nur wenigen Minuten war die Gruppe der Viktorianer verschwunden, und ich hatte Mühe, sie noch von den Verkäufern und ihrem Elend zu unterscheiden. Die Damen trugen hässliche Oberteile über Hosen, die ihnen viel zu weit waren; eine hatte sich einen ehemals grell-grünen Minirock über die Hose gestreift. Die Männer sahen nicht minder ärmlich aus. Zwei von ihnen zogen zwei große, dreckige Kartons hinter sich her; die feinen Hemden, die Westen und Oberteile waren verschwunden und gegen dreckige und vergilbte T-Shirts getauscht worden. Der dritte von ihnen aß gierig eine Waffel. Erst als keiner der sechs mehr etwas zu tauschen hatte, endete ihre seltsame Verwandlung. Einer fand noch seine Fliege um den Hals baumeln, und ohne einen Moment des Zögerns warf er sie auf den Boden. Hinter mir schlichen einige der Kinder heran und stritten sich darüber, wer sie behalten dürfe.

Schließlich vereinte sich die Gruppe wieder, und lachend besahen sie die jeweils anderen, zupften aneinander, als könnten sie ihr neues Aussehen selbst noch nicht so ganz fassen. Dann, nach einigen Minuten verstummte ihr Lachen; ohne ein Wort gingen sie weiter, die Damen voran, deren Gang sich geändert zu haben schien, hinter ihnen die Männer mit ihren Kisten. Sie würdigten keinen der Stände mehr nur eines Blickes, und erst als wir beinahe am Ende der Reihe von Ständen angekommen waren, erkannte ich ihr Ziel; dort, hinter den ärmlichsten der ohnehin ärmlichen Stände, war ein rechteckiger Platz frei. Sie hielten dort, und ohne ein Wort der Absprache verteilten die Männer den Inhalt ihrer beiden Kartons dort auf dem Boden. Einer hatte auch eine löchrige Decke erstanden, diese legten sie zu unterst. Die Damen setzten sich auf den Boden dahinter; eine stellte eine winzige Kasse auf. Es dauerte nur wenige Momente, bis sie ihren Stand aufgebaut hatten.

Ich war stehengeblieben, als das Schauspiel begonnen hatte. Nun saßen sie alle dort auf dem Boden, keiner von ihnen sprach. Sie trugen den Blick, den ich auch bei den anderen Verkäufern gesehen hatte; ihre Augen flehten mich an, etwas zu kaufen. Als ich näherkam, tippte ich mir an den Hut. Zunächst reagierten sie nicht, dann drehte einer der Männer den Kopf zu mir. „Die Kurse steigen, die Kurse fallen“, erklärte er, und die Frauen kicherten wieder, nur um dann plötzlich zu verstummen, als hätten sie sich verraten. Ein anderer der Männer deutete mir, näher zu kommen, zog mich ganz zu sich. Scheu blickte er sich um, dann flüsterte er. „Seien sie unbesorgt, Sir. Die Kutsche zum Tower ist bereits auf dem Weg.“

 

 

Die einleitenden Zeilen stammen aus Pray For Rain von Massive Attack. Sie können als Inspiration zu diesem Text betrachtet werden.

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Ein Leben

Diesen Artikel drucken 11. Juni 2009

Heute werde ich 82 Jahre alt.
Meine vier Kinder haben schon angerufen, und ich habe eine Rose auf den Friedhof gebracht. Am Abend kommen meine beiden Jüngsten zu Besuch, sie wollen etwas für mich kochen. Vater, du brauchst nichts für uns herzurichten, das ist nichts mehr für dich, wir machen das schon, das haben sie mir am Telefon gesagt, und das stimmt wohl. Ich sehe sehr schlecht, und meine Hüfte lässt mich nur noch selten in Ruhe. Das Laufen ist schwer, und einige Male musste ich schon meinen Sohn anrufen, weil ich nicht aus dem Bett kam.
Dabei bin ich zufrieden: ich weiß, dass ich wohl nicht mehr lange leben werde, aber so ist nun einmal die Natur. Ich hatte doch alles, sage ich manchmal zu den Kindern. Ich hatte doch alles, ich habe ein paar gute Kinder, ich durfte eine wundervolle Frau lieben, mein Beruf hat mir manchmal Freude bereitet, und Schmerzen habe ich auch keine.
Einmal entgegnete Nikola darauf, dass mein Leben schon schwer gewesen sein: mit dem Krieg und der schwierigen Zeit danach und dem toten Sohn.
Ich glaube, ich verstehe, warum sie so denkt: aber ich würde mich nie über all die Dinge beschweren, die geschehen sind. Dabei bin ich nicht besonders duldsam, mitnichten. Und doch erscheint mir alles, alles, was nach dem Krieg geschehen ist, als erduldbar. Der Anfang nach dem Krieg war schlimm, manchmal wusste ich nicht, woher ich das Brot für die Kinder nehmen sollte: Wir besaßen oft nicht viel und immer gab es mehr zu tun, als Zeit da war. Einen Sohn musste ich zu Grabe tragen: meine Frau beerdigen. Und doch erschien mir  jeder Tag wie ein Segen. Natürlich war ich nicht immer glücklich. Das Leben hält für jeden den ein oder anderen Schicksalsschlag bereit, ohne dass man etwas dagegen tun könnte; Es gab sicher Zeiten, in denen ich trauerte.
Aber niemals, nie habe ich das Schicksal dafür verflucht oder mit meinem gehadert. Vielleicht sollte ich sogar für den Krieg dankbar sein, den ich miterlebte: Manchmal ruft eins meiner Kinder an, und dann erzählen sie mir von den Widrigkeiten, von den kleinen Problemen des Alltags. Meist sage ich nichts dazu, aber manchmal kann ich nicht anders. Die Anja ist also schlecht in der Schule, antwortete ich etwa einmal, ist sie denn gesund? Ja, sie ist gesund. Und seid ihr denn gesund? Ja, sie sind gesund.
Ich versuche immer, solche Gespräche zu vermeiden. Meine Kinder und erst recht meine Enkel können nicht wirklich verstehen, was ich damit meine. Für sie ist es eben erschütternd, wenn das Kind mit zwei Sechsern nach Hause kommt, für mich aber ist es ein Umstand, nur ein Umstand und keine Katastrophe.
Selbstredend würde ich meinen Kindern auch nicht wünschen, es zu verstehen. Denn dazu müsste es wieder so werden, wie es in meiner Jugend war, und das kann kein Mensch wollen, der es einmal erlebt hat. Es wäre vielleicht schön, wenn sie das ganz normale Leben als so befriedigend empfinden könnten wie ich, aber der Preis dafür wäre zu hoch.
Sie hören es nicht gerne, weil ich wohl oft davon erzähle (zu oft, ihrer Meinung nach), aber ich wurde 42 eingezogen, im September. Die zwei Jahre, in denen ich Soldat war, sind in meiner Erinnerung ebenso klar wie meine Kindheit. Ich denke oft daran, dass geht wohl vielen aus dieser Zeit so.
Wie viele andere habe ich das Elend gesehen und den Tod. Das Kämpfen und Sterben in Kälte, Dreck und Ausweglosigkeit. Ich habe auch gesehen, was von den Menschen bleibt, wenn man ihnen alles nimmt: Die Gesundheit, die Kleidung, die Erinnerung, den Verstand. Ich habe gesehen, dass sie selbst dann Mensch bleiben, wenn sie kaum noch mehr sind als ein wimmerndes Häuflein Schmutz und Fleisch: dass im Kern dessen, was wir einen Mensch nennen, nicht mehr ist als die Gnade der anderen. In den Jahren 42 und 43 musste ich oft erleben, wie man diesen Kern auslöschte: man konnte ihn nicht erschießen, man konnte ihn nicht in die Luft jagen. Es reichte, ihn zu vergessen.
Als ich schließlich heimkehrte, da ging es mir nicht anders als den meisten. Ich wollte endlich leben, eine Familie gründen, einfach nur leben. Doch ich habe es nie vergessen, und vielleicht scheint mir deshalb alles so leicht, was nach dem Krieg kam: meine Frau starb nach langer Krankheit, und auch der Unfall meines Sohnes führte mir den Tod wieder vor Augen. Aber nie wieder sah ich, wie dieser Kern, dieses etwas, das alles zusammenhalten muss, verschwand, und diesen Segen können wohl nicht alle Menschen verstehen: meine Kindern nennen es wohl manchmal hinter vorgehaltener Hand ein ‚Trauma‘. Ich nenne es Demut.

Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

Gute Seelen

Diesen Artikel drucken 20. Juli 2008

Wenn da niemand wäre, der ab und zu zwischen den Betten hin- und hergehen würde, um einen gefälschten Brief unter eine der löchrigen Decken zu stecken oder mit schmutzigem Wasser überhitzte, fleckige Gesichter abzuwaschen, wenn es niemandem mehr gäbe, der sich wenigstens manchmal den fiebrigen Erzählen der vielen Verlorenen erbarmen würde, wenn kein menschliches Wesen noch diejenigen beruhigen würde, die aus ihren wirren, aber schönen Träumen in dieser düsteren Halle mit ihren staubigen Stahlstreben voller Risse erwachten – ja, dann wäre wirklich alles verloren.

Der Kampf nahm vieles, doch es blieben immer noch wenigstens ein paar wenige dieser guten, dieser treuen Seelen, die zumindest ein wenig Trost spenden konnten.

Natürlich gibt es auch die Ärzte, recht viele sogar; in ihren weißen Kitteln huschen sie durch die Lazarette, Geistern gleich. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung kaum beendet, als der Krieg kam, und so kennen sie ihren Beruf nur mit dem Antlitz, den er im Krieg hat – dem einer anderen Art des Krieges, eines aussichtslosen Vernichtungsfeldzugs gegen den Tod und die Kampfunfähigkeit.

Doch was nützen schon Ärzte; Beine können sie abschneiden, Splitter entfernen, aber was ist das schon. Sie sind nur Soldaten, auch wenn sie keine Gewehre tragen. Welchen Trost kann ein Soldat schon spenden? Hier, am Ende aller hehren Ziele und Siegesversprechen? Und: Was ist eine gut genähte Wunde schon ohne Trost, wenn es schon so weit gekommen ist mit der Welt? Nichts, und so braucht es immer noch ein paar gute Menschen, um wirklich zu heilen.
An manchen Orten, in manchen Spitälern gibt es keine mehr; sie sind getötet worden oder an Erschöpfung, am Kummer und am Dreck gestorben. An solchen Plätzen hilft die beste Kunst der Ärzte nichts mehr. Sie behandeln die Verletzten – vorrangig natürlich die Soldaten – sie operieren und amputieren, sie schneiden und schienen, aber die Menschen sterben trotzdem; vielleicht wollen sie es auch nicht anders, die Ärzte wie die Patienten; alles, alles mag geschehen, nur soll dieser verdammte Krieg endlich verloren gehen, der eine wie der andere. Ohne Hoffnung gibt es keine Chance auf Gesundheit.

Trost gibt es nur noch in wenigen Lazaretten und Spitälern; Verwundete schreien und zettern deshalb manchmal, wenn man sie in eins der Lager bringen will, in dem nur noch Ärzte arbeiten. Und so bringt man alle Verletzten im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern in diese alte Turnhalle, deren nackte Stahlstreben ganz rissig sind von den vielen Einschlägen in der Nähe. Dort arbeitet nur noch eine etwas ältere Frau, von den Ärzten abgesehen. Früher waren sie zu fünft, aber das war, als man dieses Lager eingerichtet hatte, vor vielen Monaten. Ihr Gesicht ist müde, und ein steifes Lächeln hat sich in die Mundwinkel gebrannt; zweimal wäre sie selbst fast Opfer einer der vielen Infektionskrankheiten geworden, die in den Lagern grassieren. Für sie gibt ebenso wie für ihre Kollegen in anderen Lagern keine Berufsbezeichnung; die Ärzte rufen sie meist immer noch Schwester oder Pfleger, aber kaum einer von ihnen hat eine entsprechende Ausbildung. Einen allgemeinen Oberbegriff gibt es nicht; nur die Alten sprechen manchmal von den Seelen, aber so redet auf der Straße niemand. Die Patienten und auch all die anderen nennen die Frau mit dem steifen Lächeln einfach bei ihrem Namen,
Auch sie hat den Beruf der Krankenschwester nie gelernt; sie war Lehrerin. Manchmal erzählt sie einem Patienten von ihren früheren Schülern. Die meisten von ihnen sind gefallen, und so tut sie es nur, wenn sie darum gebeten wird; sie weiß, dass es den Menschen gut tut, von früher zu hören. Doch meist redet sie nicht über ihre Schüler, sondern über etwas Unverfängliches aus der Vergangenheit. Sie hört auch zu, sie wäscht Wunden, kühlt Gesichter, sie tut, was getan werden muss, ohne Sold zu verlangen.

Sie ist, wie ihre Kollegen in anderen Lagern, nur ein Mensch; manchmal hat auch sie soviel Angst und Wut und Trauer im Bauch, dass sie nicht arbeiten kann. Sie trinkt, aber sie ist nicht die einzige, die abhängig ist; die meisten ‚Schwestern‘ sind es auf die eine oder andere Weise geworden, auch wenn sie schon vor dem Krieg abhängig war. Ein Mann etwa, dessen Lager sich stetig mit der Front bewegt, muss von Zeit zu Zeit einen der Leichtverletzten mit einer infizierten Nadel anstecken – nicht um ihn sterben, sondern um ihn durch seine Pflege genesen zu sehen.
Solch absonderliche Obsessionen hat sie nicht, sie trinkt nur. Andere Personen verstehen manchmal nicht, dass auch sie wirklich ein Mensch und nicht nur ein gänzlich selbstloser Engel ist. Der Dienst und der Alkohol zehren sie langsam auf, das stimmt. Sie weiß das und lässt es zu; aber das muss nicht bedeuten, dass sie ihr Leben gern wegwerfen könnte oder wollte; das sehen die anderen nicht immer. Einmal etwa schlug eine Granate in das Dach der Halle; das Gebäude schüttelte sich und schien zusammenbrechen zu wollen. In Panik rannte sie hinaus und ließ die Patienten, die nicht laufen oder gehen konnten, zurück. Dorthin hatten sich schon die Ärzte gerettet; sie jedoch, die immer so hilfsbereit und selbstlos tat, was sie konnte, starrte man mit einer Mischung aus Unverständnis und Überraschung an, als ob man nicht begreifen konnte, dass diese Frau um ihr Leben lief, statt sich um ihre Patienten zu kümmern und im Zweifel mit ihnen zu sterben.

Es dauerte Monate bis der Stabsarzt, der das Lazarett leitet, wieder mit ihr sprach, aber er hegt ohnehin einen Groll gegen sie, zumindest manchmal; sie soll einer verbotenen Partei angehört haben, vor dem Krieg.
Natürlich ist das falsch. Sie war Zeit ihres Lebens ein eher unpolitischer Mensch, zumindest war sie nie in einer Partei. Wahr ist, dass sie vor dem Krieg, schon Jahre davor, auf Demonstrationen gewesen ist. Wahr ist auch, dass man sie wegen ihrer Ansicht über den Großen Konflikt unzählige Male angepöbelt, bespuckt und drangsaliert hat, so lange, bis der Krieg nach der Schlacht bei Krakau kippte und sie mit dem Dienst in den Lazaretten begann. Einmal pflegte sie einen Verletzten, den sie als einen der Polizisten erkannte, der sie am Rande einer Versammlung verprügelte; er erkannte sie nicht, und sie sagte nichts davon, pflegte ihn nur.
Falsch ist dagegen auch, was die Ärzte sich über den Grund ihrer Tätigkeit erzählen; weder ist sie Witwe, noch sind ihre Kinder aufgrund der schlechten Versorgung an der Front gestorben. Sie hatte nie Kinder und war nie verheiratet. Man könnte sie einfach fragen, warum sie tut, was sie tut; warum sie nicht davonläuft, so weit sie kann, wie es all die anderen tun. Aber es fragt sie niemand, zumindest keiner der Gesunden; Man hält sich lieber an die Gerüchte und ansonsten fern. Seit dem Einschlag auf dem Dach erzählt man sich, sie sei eine Politische und werde vom Abwehrdienst beobachtet.
Aber vielleicht würde es auch nichts nützen, sie nach ihren Beweggründen zu fragen. Es gibt keine speziellen, auch keine politischen. Es sind die gleichen, die sie schon seit Jahren umtreiben, die sie zuerst auf die Demonstrationen und schließlich in dieses Lazarett geführt haben.

Natürlich kennt auch sie die Gerüchte; über die meisten der stillen Helfer gibt es ähnliche, von der angeblichen Lebensmüdigkeit bis hin zu den politischen Verstrickungen. Viele von ihnen waren auf den Demonstrationen, fast alle gegen den Krieg. Mehr Frauen als Männer sind darunter, aber das mag dem langen Krieg geschuldet sein. Sie wissen, das diejenigen, die sie heilen, wieder kämpfen, wieder töten oder getötet werden; es ist ihnen gleich.
Die meisten von ihnen haben schon Probleme mit dem Abwehrdienst gehabt, und auch wenn dieser inzwischen zusammengebrochen ist, sprechen sie über ihre Ansicht nur selten, schon gar nicht öffentlich. Das wäre auch unnütz; für Lösungen ist es zu spät, das ist auch ihnen klar. Es gibt in jedem Konflikt den Punkt, ab dem der einzige Ausweg in der Vernichtung des anderen besteht, selbst um den Preis der eigenen Auslöschung, und dieser Punkt war schon lange vor den Bomben auf Paris und Hamburg überschritten worden.

Und so spricht auch sie nur über Politik, wenn sie jemand darum bittet; solche Gespräche beginnen meist mit der Frage, warum es so kommen musste und ob nicht alles anders sein könnte. Meist sind es Sterbende, die solche Fragen stellen.
Dann erzählt sie, was damals schon auf den Demonstrationen gesagt wurde, was sie schon lange vor dem Krieg gedacht hat, und die Augen der Geschundenen hängen an ihren Lippen. Wenn sie darüber spricht, kann man in ihrem Gesicht manchmal den Menschen entdecken, der sie einmal war. Es ist nicht die müde, alte Frau mit den den eingebrannten Falten, die vom Frieden erzählt, sondern der kleine Rest einer viel jüngeren. Vielleicht ist dieser Rest das einzige, was sie noch zum Spenden von flüchtiger, oft falscher und gefälschter Hoffnung befähigt; vielleicht, aber darüber denkt kaum jemand nach, dafür sind die Verwundeten zu gierig auf jeden Tropfen Hoffnung, auf jedes Quäntchen Leben. Aber zumindest hören sie genau zu.
Ganz ähnlich wie auch die ständig angetrunkene Helferin im Lazarett unter dem Dach der abbruchreifen Halle müssen viele der guten Seelen das als bittere, als zynische Genugtuung empfinden, dass man ihnen jetzt, da alles zu spät ist, zuhört. Als sie zum ersten Mal ihre Stimme erhoben, hat man sie zunächst ignoriert und dann belächelt. Als sie erste Demonstrationen veranstalteten, hat man sie als Träumer, als unverbesserliche Idealisten abgetan. Auch als die ersten Versammlungen mit Knüppeln aufgelöst wurden, hat man ihnen nicht zugehört und sie stattdessen angepöbelt, beleidigt, später geschlagen. Als man so begierig darauf wurde, die Brüder und Kinder von Bombenlegern zu ermorden, dass man begann, die eigenen dafür in den Tod zu schicken, hat man zehn von ihnen in einer großen Stadt an einem Pfahl aufgehängt, weil man sie als Verräter sah. Jetzt, wo es doch zu spät ist, hängen wenigstens die Augen der Sterbenden an ihren Lippen; Die Welt musste erst schwarz und leer werden, bevor man ihren Worten Gehör schenkte.