Gute Seelen

Diesen Artikel drucken 20. Juli 2008

Wenn da niemand wäre, der ab und zu zwischen den Betten hin- und hergehen würde, um einen gefälschten Brief unter eine der löchrigen Decken zu stecken oder mit schmutzigem Wasser überhitzte, fleckige Gesichter abzuwaschen, wenn es niemandem mehr gäbe, der sich wenigstens manchmal den fiebrigen Erzählen der vielen Verlorenen erbarmen würde, wenn kein menschliches Wesen noch diejenigen beruhigen würde, die aus ihren wirren, aber schönen Träumen in dieser düsteren Halle mit ihren staubigen Stahlstreben voller Risse erwachten – ja, dann wäre wirklich alles verloren.

Der Kampf nahm vieles, doch es blieben immer noch wenigstens ein paar wenige dieser guten, dieser treuen Seelen, die zumindest ein wenig Trost spenden konnten.

Natürlich gibt es auch die Ärzte, recht viele sogar; in ihren weißen Kitteln huschen sie durch die Lazarette, Geistern gleich. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung kaum beendet, als der Krieg kam, und so kennen sie ihren Beruf nur mit dem Antlitz, den er im Krieg hat – dem einer anderen Art des Krieges, eines aussichtslosen Vernichtungsfeldzugs gegen den Tod und die Kampfunfähigkeit.

Doch was nützen schon Ärzte; Beine können sie abschneiden, Splitter entfernen, aber was ist das schon. Sie sind nur Soldaten, auch wenn sie keine Gewehre tragen. Welchen Trost kann ein Soldat schon spenden? Hier, am Ende aller hehren Ziele und Siegesversprechen? Und: Was ist eine gut genähte Wunde schon ohne Trost, wenn es schon so weit gekommen ist mit der Welt? Nichts, und so braucht es immer noch ein paar gute Menschen, um wirklich zu heilen.
An manchen Orten, in manchen Spitälern gibt es keine mehr; sie sind getötet worden oder an Erschöpfung, am Kummer und am Dreck gestorben. An solchen Plätzen hilft die beste Kunst der Ärzte nichts mehr. Sie behandeln die Verletzten – vorrangig natürlich die Soldaten – sie operieren und amputieren, sie schneiden und schienen, aber die Menschen sterben trotzdem; vielleicht wollen sie es auch nicht anders, die Ärzte wie die Patienten; alles, alles mag geschehen, nur soll dieser verdammte Krieg endlich verloren gehen, der eine wie der andere. Ohne Hoffnung gibt es keine Chance auf Gesundheit.

Trost gibt es nur noch in wenigen Lazaretten und Spitälern; Verwundete schreien und zettern deshalb manchmal, wenn man sie in eins der Lager bringen will, in dem nur noch Ärzte arbeiten. Und so bringt man alle Verletzten im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern in diese alte Turnhalle, deren nackte Stahlstreben ganz rissig sind von den vielen Einschlägen in der Nähe. Dort arbeitet nur noch eine etwas ältere Frau, von den Ärzten abgesehen. Früher waren sie zu fünft, aber das war, als man dieses Lager eingerichtet hatte, vor vielen Monaten. Ihr Gesicht ist müde, und ein steifes Lächeln hat sich in die Mundwinkel gebrannt; zweimal wäre sie selbst fast Opfer einer der vielen Infektionskrankheiten geworden, die in den Lagern grassieren. Für sie gibt ebenso wie für ihre Kollegen in anderen Lagern keine Berufsbezeichnung; die Ärzte rufen sie meist immer noch Schwester oder Pfleger, aber kaum einer von ihnen hat eine entsprechende Ausbildung. Einen allgemeinen Oberbegriff gibt es nicht; nur die Alten sprechen manchmal von den Seelen, aber so redet auf der Straße niemand. Die Patienten und auch all die anderen nennen die Frau mit dem steifen Lächeln einfach bei ihrem Namen,
Auch sie hat den Beruf der Krankenschwester nie gelernt; sie war Lehrerin. Manchmal erzählt sie einem Patienten von ihren früheren Schülern. Die meisten von ihnen sind gefallen, und so tut sie es nur, wenn sie darum gebeten wird; sie weiß, dass es den Menschen gut tut, von früher zu hören. Doch meist redet sie nicht über ihre Schüler, sondern über etwas Unverfängliches aus der Vergangenheit. Sie hört auch zu, sie wäscht Wunden, kühlt Gesichter, sie tut, was getan werden muss, ohne Sold zu verlangen.

Sie ist, wie ihre Kollegen in anderen Lagern, nur ein Mensch; manchmal hat auch sie soviel Angst und Wut und Trauer im Bauch, dass sie nicht arbeiten kann. Sie trinkt, aber sie ist nicht die einzige, die abhängig ist; die meisten ‚Schwestern‘ sind es auf die eine oder andere Weise geworden, auch wenn sie schon vor dem Krieg abhängig war. Ein Mann etwa, dessen Lager sich stetig mit der Front bewegt, muss von Zeit zu Zeit einen der Leichtverletzten mit einer infizierten Nadel anstecken – nicht um ihn sterben, sondern um ihn durch seine Pflege genesen zu sehen.
Solch absonderliche Obsessionen hat sie nicht, sie trinkt nur. Andere Personen verstehen manchmal nicht, dass auch sie wirklich ein Mensch und nicht nur ein gänzlich selbstloser Engel ist. Der Dienst und der Alkohol zehren sie langsam auf, das stimmt. Sie weiß das und lässt es zu; aber das muss nicht bedeuten, dass sie ihr Leben gern wegwerfen könnte oder wollte; das sehen die anderen nicht immer. Einmal etwa schlug eine Granate in das Dach der Halle; das Gebäude schüttelte sich und schien zusammenbrechen zu wollen. In Panik rannte sie hinaus und ließ die Patienten, die nicht laufen oder gehen konnten, zurück. Dorthin hatten sich schon die Ärzte gerettet; sie jedoch, die immer so hilfsbereit und selbstlos tat, was sie konnte, starrte man mit einer Mischung aus Unverständnis und Überraschung an, als ob man nicht begreifen konnte, dass diese Frau um ihr Leben lief, statt sich um ihre Patienten zu kümmern und im Zweifel mit ihnen zu sterben.

Es dauerte Monate bis der Stabsarzt, der das Lazarett leitet, wieder mit ihr sprach, aber er hegt ohnehin einen Groll gegen sie, zumindest manchmal; sie soll einer verbotenen Partei angehört haben, vor dem Krieg.
Natürlich ist das falsch. Sie war Zeit ihres Lebens ein eher unpolitischer Mensch, zumindest war sie nie in einer Partei. Wahr ist, dass sie vor dem Krieg, schon Jahre davor, auf Demonstrationen gewesen ist. Wahr ist auch, dass man sie wegen ihrer Ansicht über den Großen Konflikt unzählige Male angepöbelt, bespuckt und drangsaliert hat, so lange, bis der Krieg nach der Schlacht bei Krakau kippte und sie mit dem Dienst in den Lazaretten begann. Einmal pflegte sie einen Verletzten, den sie als einen der Polizisten erkannte, der sie am Rande einer Versammlung verprügelte; er erkannte sie nicht, und sie sagte nichts davon, pflegte ihn nur.
Falsch ist dagegen auch, was die Ärzte sich über den Grund ihrer Tätigkeit erzählen; weder ist sie Witwe, noch sind ihre Kinder aufgrund der schlechten Versorgung an der Front gestorben. Sie hatte nie Kinder und war nie verheiratet. Man könnte sie einfach fragen, warum sie tut, was sie tut; warum sie nicht davonläuft, so weit sie kann, wie es all die anderen tun. Aber es fragt sie niemand, zumindest keiner der Gesunden; Man hält sich lieber an die Gerüchte und ansonsten fern. Seit dem Einschlag auf dem Dach erzählt man sich, sie sei eine Politische und werde vom Abwehrdienst beobachtet.
Aber vielleicht würde es auch nichts nützen, sie nach ihren Beweggründen zu fragen. Es gibt keine speziellen, auch keine politischen. Es sind die gleichen, die sie schon seit Jahren umtreiben, die sie zuerst auf die Demonstrationen und schließlich in dieses Lazarett geführt haben.

Natürlich kennt auch sie die Gerüchte; über die meisten der stillen Helfer gibt es ähnliche, von der angeblichen Lebensmüdigkeit bis hin zu den politischen Verstrickungen. Viele von ihnen waren auf den Demonstrationen, fast alle gegen den Krieg. Mehr Frauen als Männer sind darunter, aber das mag dem langen Krieg geschuldet sein. Sie wissen, das diejenigen, die sie heilen, wieder kämpfen, wieder töten oder getötet werden; es ist ihnen gleich.
Die meisten von ihnen haben schon Probleme mit dem Abwehrdienst gehabt, und auch wenn dieser inzwischen zusammengebrochen ist, sprechen sie über ihre Ansicht nur selten, schon gar nicht öffentlich. Das wäre auch unnütz; für Lösungen ist es zu spät, das ist auch ihnen klar. Es gibt in jedem Konflikt den Punkt, ab dem der einzige Ausweg in der Vernichtung des anderen besteht, selbst um den Preis der eigenen Auslöschung, und dieser Punkt war schon lange vor den Bomben auf Paris und Hamburg überschritten worden.

Und so spricht auch sie nur über Politik, wenn sie jemand darum bittet; solche Gespräche beginnen meist mit der Frage, warum es so kommen musste und ob nicht alles anders sein könnte. Meist sind es Sterbende, die solche Fragen stellen.
Dann erzählt sie, was damals schon auf den Demonstrationen gesagt wurde, was sie schon lange vor dem Krieg gedacht hat, und die Augen der Geschundenen hängen an ihren Lippen. Wenn sie darüber spricht, kann man in ihrem Gesicht manchmal den Menschen entdecken, der sie einmal war. Es ist nicht die müde, alte Frau mit den den eingebrannten Falten, die vom Frieden erzählt, sondern der kleine Rest einer viel jüngeren. Vielleicht ist dieser Rest das einzige, was sie noch zum Spenden von flüchtiger, oft falscher und gefälschter Hoffnung befähigt; vielleicht, aber darüber denkt kaum jemand nach, dafür sind die Verwundeten zu gierig auf jeden Tropfen Hoffnung, auf jedes Quäntchen Leben. Aber zumindest hören sie genau zu.
Ganz ähnlich wie auch die ständig angetrunkene Helferin im Lazarett unter dem Dach der abbruchreifen Halle müssen viele der guten Seelen das als bittere, als zynische Genugtuung empfinden, dass man ihnen jetzt, da alles zu spät ist, zuhört. Als sie zum ersten Mal ihre Stimme erhoben, hat man sie zunächst ignoriert und dann belächelt. Als sie erste Demonstrationen veranstalteten, hat man sie als Träumer, als unverbesserliche Idealisten abgetan. Auch als die ersten Versammlungen mit Knüppeln aufgelöst wurden, hat man ihnen nicht zugehört und sie stattdessen angepöbelt, beleidigt, später geschlagen. Als man so begierig darauf wurde, die Brüder und Kinder von Bombenlegern zu ermorden, dass man begann, die eigenen dafür in den Tod zu schicken, hat man zehn von ihnen in einer großen Stadt an einem Pfahl aufgehängt, weil man sie als Verräter sah. Jetzt, wo es doch zu spät ist, hängen wenigstens die Augen der Sterbenden an ihren Lippen; Die Welt musste erst schwarz und leer werden, bevor man ihren Worten Gehör schenkte.

Ton

Diesen Artikel drucken 7. April 2008

Hätte sie mir von dem Traum nicht erzählt, mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Ich bin mir sogar sicher, dass alles anders geworden wäre, wenn wir an jenem Abend nicht zusammengesessen hätten. Aber natürlich bleibt das Spekulation; ich kann es nicht wissen, und vermutlich ist das auch besser so.

Es war an einem Dienstag im Jahr 1987, das weiß ich noch genau. Ich weiß auch noch, was für Musik gespielt wurde, die Erinnerung an die Szene ist ganz klar erhalten geblieben. Im Hintergrund lief ein müder Countrysong. Ich weiß nicht, ob das passend war oder nicht; vielleicht schon. In meinem Kopf kann ich immer noch die kühle Stimme des Sängers hören, wenn ich daran zurückdenke, also glaube ich, dass es irgendwie schon passend war: Sonst hätte ich es mir wohl nicht so genau gemerkt. Manchmal denke ich, dass das die einzige Erinnerung ist, die wirklich mir gehört, mir. Als ob an diesem Abend irgendetwas in mir gestorben wäre. Das ist natürlich dumm; ich lebe, nichts an mir hat sich geändert, abgesehen von der Art, wie ich die Dinge sehe. Meine Perspektive hat sich gedreht, das mag sein.

Sie erzählte es beiläufig, und vielleicht ist das der Grund, warum ich die Musik in dem Café als so passend empfand, das denke ich manchmal. Aber auch das kann nicht stimmen; sie war aufgeregt, nicht aufgelöst, aber doch sehr aufgeregt, nur hatte ich kaum Interesse an dem Gespräch gezeigt. Ich schaute gerade einem hübschen Mädchen nach, das vor dem Fenster mit ihrem Hund spazieren ging, als sie von dem Traum zu erzählen begann: Ich drehte den Kopf wieder zu ihr. Den Ausdruck in ihren Augen werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen; vielleicht wird der Rest der Szene irgendwann verblassen, das könnte sein. Ich werde bald 45, und irgendwann wird der Verstand wohl träger werden, irgendwann werden sich meine Erinnerungen davonstehlen. Diesen Ausdruck aber, den werde ich sicher nicht vergessen, bis zum Ende nicht. Er stand nur für einen Bruchteil eines Moments in ihren Augen; ich habe mir das nicht eingebildet, glaube ich, er war da, einen unbeschreiblich grausamen Augenblick lang. Ich kann nicht beschreiben, was dieser Ausdruck genau war; man kann es nicht, niemand könnte es, befürchte ich. Es war so, als würde ich durch sie hindurchsehen, oder als würde ich durch sie in mich hineinsehen; beides, zugleich.
Ich hatte einen Traum, gestern, hatte sie gesagt, von dem muss ich dir erzählen. Er beschäftigt mich, und ich muss jemandem davon erzählen.

Es war ihr Traum, nicht meiner, und das lässt die Sache unwahrscheinlich erscheinen lassen, aber ich kann mir genau – ganz genau – vorstellen, wir ihr Traum aussah. Sie hat ihn nicht sehr detailliert beschrieben, aber trotzdem habe ich ein konkretes Bild vor Augen. In diesem Bild sitzt sie in dem Café. Es ist sehr voll, ich kann den Rauch riechen, ich kann das Stimmengewirr hören, den Kaffee schmecken. Und dann kommt jemand herein, den ich nicht erkennen kann; er trägt eine Sportjacke und eine Wintermütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Er will nicht erkannt werden, das hat sie damals zu mir gesagt; er will nicht erkannt werden, niemand soll sehen, wer er ist. Er ist der Tod.

Bis heute verstehe ich diesen Satz nicht; denn er ist nicht der Tod, nicht in dem Bild, das ich von der ganzen Szene habe. Ich frage mich oft, ob ich sie falsch verstanden habe; ob mein Bild einfach nur falsch ist. Aber Bilder können nicht so einfach falsch sein. Sie sind subjektive Eindrücke, und vielleicht ist der Grund dafür, dass ich diese Szene niemals vergesse, genau der: Ich habe ihren Traum gesehen, aber durch meine Augen. Für sie war der Traum nur eine interessante, eine beängstigende Episode. Wir haben nach diesem Tag nie wieder darüber gesprochen, einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Für sie war es keine Katastrophe, sondern nur eine kleine Anekdoten. Ich glaube, sie hat wirklich den Tod gesehen in ihrem Albtraum: nur eine Figur, ein Spieler auf dem Spielfeld, der zusammen mit demselben verschwindet, wenn man erwacht. Ich dagegen habe mich gesehen, mich, und ich bin keine der Spielfiguren. In meinem Bild komme ich herein durch die Tür, nicht der Tod, nur ich in der Verkleidung des Todes.

Aber egal, wer der Mann ist; wir sind uns einig darüber, was er tut. Er setzt sich an ihren Tisch. In meiner Vorstellung nimmt er den Platz, den ich hatte, als sie mir davon erzählte, direkt am Fenster. Er fragt nicht, ob er sich setzen darf, und in ihrer Erzählung war das der Punkt, an dem ich den Charakter eines Albtraums erkannte. Hier beginnt die Gewalt, dachte ich damals. Die Würfel sind jetzt gefallen; hätte er sie gefragt oder sich nur an einen anderen Tisch gesetzt, dann wäre alles offen gewesen, aber so ist klar, dass es ein schlechtes Ende nehmen muss.

Er sieht sie an: Man kann kein Gesicht erkennen, so hat sie es beschrieben. Da ist ein Gesicht, aber man kann es nicht erkennen. Als hätte man diese Krankheit, bei der man Gesichter nicht unterscheiden kann. In meinem Bild ist das ebenso; aber ich weiß eben, dass ich unter dieser Maskerade stecke, ich bin mir ganz sicher. Das Ungesicht grinst; es grinst hämisch. Und dann sagt er nur zwei Sätze; er sagt sie ganz ruhig, aber auch so, dass man weiß, wie lange er sie studiert hat.

Glaubst du, was du siehst? Was siehst du denn?

Er lässt die Sätze ein oder zwei Sekunden wirken, starrt sie an, sucht nach der Reaktion. Dann steht er von seinem Stuhl auf und hebt ihn fast spielend hoch, ohne jedoch darauf zu verzichten, seine Kraft zu demonstrieren. Es ist eine Geste der Überlegenheit, eine, die sie klein wirken lässt und auch wirken lassen will.
Dann hebt er ihn über den Kopf, dreht sich herum und lässt ihn auf einen der anderen Gäste herabsausen.

Es ist eine rohe Tat, aber keine, die diese Art von Unwohlsein erzeugt, von der sie mir damals erzählen wollte. Ich habe dieses Bild genau vor Augen, wie der Stuhl krachend zerreißt, aber es macht mir keine Angst. Er oder ich, wir wollen diesen Gast nicht töten oder verletzen, darum geht es nicht. Wir wollen etwas zeigen, das noch viel schlimmer ist.

Als der Stuhl mit diesem lauten Geräusch explodiert, verstummen die Gespräche plötzlich. Ich kann keinen Rauch mehr riechen; in meiner Vorstellung dampfen selbst die Kaffeetassen nicht mehr. Die Gäste verharren; sie frieren nicht ein wie in einem Film, sie bleiben nur sitzen und starren.
Einen Moment dauert es, bis das Geräusch des zerstörten Stuhls verklungen ist, dann ist es still. Der Mann tritt von seinem Werk zurück. Und was man dann sieht, das ist der getroffene Gast, doch da ist kein Blut. Als sie mir davon erzählte, erwartete ich ein sehr blutrünstiges Bild; doch da war kein Rot, nichts. Nur dieser Mensch oder besser: dieses Ding. Ich kann nur versuchen, es zu beschreiben –
Sein Kopf ist nicht verletzt worden; er fehlt einfach nur, zumindest der größte Teil. Er scheint schräg abgebrochen zu sein, wie von einer alten Statue. Die Ränder sind spröde; da ist keine glatte Bruchkante, dieses Ding ist nicht eingerissen und es hat auch nicht nachgegeben wie weiches Fleisch. Es ist gesprungen, gesprungen wie ein Tonkrug. In ihrem Traum steht sie auf, um es genauer zu erkennen, und erst dann begreift sie, was wirklich geschehen ist; dieses Wesen war tatsächlich aus Ton. Das Innere war schon immer hohl: die dünne Schicht aus gebranntem Ton hat es schon immer zusammengehalten. Es war nur eine Oberfläche, und er oder ich haben diese Oberfläche zerschmettert. Da war gar kein echtes Wesen, kein wirklicher Mensch, den wir hätten töten können, nur dieses beschädigte Tongefäß, diese Sammlung von Fälschungen.
Ich weiß nicht genau, was dann geschieht; ich weiß, dass der Mann ohne Gesicht ihr etwas Hämisches zuruft und dann all die anderen Gäste zerschlägt, zerschlägt wie das erste Gefäß auch, aber ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge es geschieht oder wie er es tut. Manche scheinen nur unter seinem Blick zu bersten; er muss sie nicht schlagen, um sie zu zerbrechen, aber das ist meine Interpretation und nicht ihre. Sicher bin ich mir aber, dass auch sie irgendwann zuschlägt; sie hat das so erzählt, sie beobachtet die Szene zunächst nur, voller Angst, voller Ekel. Aber mit jedem Gast, der mit einem klirrenden Geräusch zerbirst, wächst auch die Wut in ihr; es ist eine unbestimmte Wut, ich kann sie mir genau ausmalen. Es ist die Wut von jemandem, der etwas sehr Wertvolles verloren hat. Die Wut einer Betrogenen. Und so packt sie irgendwann eine der großen Kaffeetassen und zerschlägt die Frau hinter der Kasse.
Für sie endete der Traum an dieser Stelle; entweder das, oder sie hat mir vom Ende einfach nicht erzählt. Dann bin ich aufgewacht, hat sie gesagt, ich war schweißgebadet und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
An diesem Dienstag hat sie noch eine Weile darüber geredet; sie wollte von mir wissen, was ich davon hielt, aber ich konnte nicht viel sagen, das Bild hatte sich schon in meinem Kopf gebildet, während sie davon erzählt hatte, und so war ich mit mir selbst beschäftigt. Meine Erinnerung an das Gespräch verwischt sich an dieser Stelle; es war mir einfach nicht mehr wichtig, was sie sagte. Ich weiß noch, dass ich mehrmals nach dem Ende fragte , aber sie erzählte mir nichts mehr. In meinem Bild endet der Traum nicht mit der Zerschlagung des Kassierergefäßes, deshalb fragte ich nach; aber vielleicht hat sie wirklich nicht mehr gesehen.
In meiner Vorstellung ist es nicht die Kassiererin, die als letztes zerschlagen und somit entlarvt wird, nein. Sie steht vor diesem geborstenen Gefäß, hält die zerschmetterte Kaffeetasse noch in der Hand, und blickt zu dem Ungesicht – und damit zu mir – herüber. Von den Gästen ist keiner ganz geblieben, alle sind geborsten, alle waren nur Hüllen, nur Oberflächen. Nur ich stehe noch im leeren Raum zwischen den zerbrochenen Gefäßen. Ich gehe einige Schritte auf sie zu, in der Hand eine alte Teekanne.

Heuchlerin

nenne ich sie dann zweimal, bevor ich auch diesen Tonkrug zerschlage, diese Lüge enttarne. Das ist nicht das letzte Bild der Szene, eins muss noch kommen, das verstehe ich inzwischen, denke ich. Auch ich muss entlarvt werden, und so kommt es auch; die Kanne zerschlägt mein Ungesicht, und auch darunter ist nur hohle, leere Dunkelheit, die Schwärze eines geplatzten Betrugs.

Ich denke manchmal, es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich diesen Traum wirklich gehabt hätte; dann wäre ich aufgewacht, und alles wäre gut gewesen. Aber ich hatte ihn nicht; ich kann nicht erwachen, ich bin schon wach. Oder ich bin an diesem Dienstag im Jahre 1987 auf eine Weise aufgeweckt worden, die man nicht zurücknehmen kann, die nicht korrigierbar ist. Für sie ist es ein Traum geblieben, etwas, was man am ehesten als ein Spiel ohne Einsatz verstehen kann. Für mich ist es zur Wirklichkeit geworden, und die gibt es nicht ohne Einsatz.

Es ist nicht so, dass mein Leben an diesem Tag geendet hätte; das habe ich schon gesagt. Aber trotzdem hat sich vieles verändert. Vielleicht liegt es nicht nur an diesem Erlebnis, vielleicht ist es auch eine Form von Selbstbetrug, es nur auf ihre Erzählung zu schieben, aber ich lebe seit diesem Tag allein. Ich mache meine Arbeit, das habe ich auch vorher schon getan. Doch ich bin in den Wachdienst gewechselt: ich bewache nachts Industriegebäude. Mir ist klar, warum ich das tue und nichts anderes; ich ertrage keine Menschen mehr um mich. Sicher bin ich einsam, da mache ich mir nichts vor. Aber es ist eine andere, eine irreversible Art von Einsamkeit. Menschen, die einsam sind, wünschen sich einen anderen Menschen, der in ihrer Nähe ist. Das wünsche ich mir nicht. Ich fühle mich einsam, aber ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist.
Mein Leben ist ja auch nicht schlecht, das kann ich nicht behaupten. Manchmal esse ich abends ein Steak, oder schaue fern: Das bringt mir ein wenig Zerstreuung, auch wenn ich Filme, in denen Menschen spielen, nur schwer ertrage; mir sind Tierdokumentationen lieber.

Es ist immer das gleiche, wenn ich doch einen Spielfilm einschalte oder mit dem Bus zur Arbeit fahren muss; alles ist normal, ich sehe die Menschen um mich herum, ich höre ihre Gespräche. Doch dann drehe ich den Kopf, vielleicht sehe ich aus dem Fenster oder nach den Fischen in meinem Aquarium. Und dann ist es wieder da, das Geräusch der klirrenden Tonkrüge, und aus den Augenwinkeln sehe ich ihre hohlen, leeren Gesichter; diese Fälschung, die sie Mensch nennen. Etwas Ähnliches passiert manchmal, wenn ich zu lange in den Spiegel sehe; es wäre auch eine unerträgliche Ungerechtigkeit, wenn es nicht so wäre. Deshalb endet der Traum auch so und nicht anders, es musste so sein. Ich bin nicht anders als sie; Ich bin nur eine Oberfläche, ein Außen, mehr nicht. Darüber muss man sich keine Gedanken machen: Ich habe es getan, und manchmal bereue ich es.

Der Schalk im Nacken

Diesen Artikel drucken 20. November 2007

Er verfolgt dich, immerzu, und er wird lauter. Bald wirst du wahnsinnig sein; das wird geschehen, es geht nicht anders. Er ist stets bei dir, wie ein Schatten, du schaust die Nachrichten. Beckham kauft sich Schuhe für eine Million Dollar, in Darfur sterben schwarze Kinder, weil sie nichts zu trinken haben, HAHAHA!, HAHAHA!, da ist er schon, du wirst ihn nicht mehr los, HAHAHA!

Jeder Laut reißt ein Stück aus dir heraus, aus deinem Kopf, aus deinem Herz, aus deiner Seele, HAHAHA!, wieder ein Stück weniger. Der Antiterrorminister ist ein Terrorist, HAHAHA!, das Anschlagsopfer selbst ein Täter, HAHAHA! spuckt er dir ins Genick. Schweizer Schokolade finanziert afrikanische Bürgerkriege, HAHAHA!, nein – das ist doch wirklich zum Schießen, oder nicht, Schießen, HAHAHA! Man soll nicht verzweifeln, sagen Sie, und du verzweifelst ja auch nicht, nein, du verzweifelst zumindest nicht daran, dafür ist das Gelächter zu laut.

Du machst den Fernseher aus und verzweifelst nicht, das soll man ja auch nicht, oder. Aber eigentlich willst du nur dieses zynisches Gegacker in deinem Nacken loswerden, und für eine Weile ist es auch still. Du sitzt im Café und hörst die Leute reden, Hartz 4 ist ungerecht sagt der eine, zum Glück sind die Lebensmittel so billig, sagt der andere. HAHAHA!, da ist er schon wieder, HAHAHA!, diesmal muss er sich erklären. Woher kommen denn die ganzen Sozialkürzungen, woher kommen sie denn? Er prustet los. Du zahlst und gehst; die Einschläge kommen näher, du spürst es.

Irgendwann wirst du vor ihm stehen, mit geballten Fäusten. Das ist doch auch keine Lösung, wirst du ihn anbrüllen. Du weißt, was er antworten wird.

HAHAHA, du suchst noch nach einer L-Ö-S-U-N-G, HAHAHA!

Professional losing – Verlieren als Lebenskonzept (Poetry Slam – Finalrunde)

Diesen Artikel drucken 4. November 2007

Diesen Text habe ich im Finale gelesen.
Allzu oft wird es als selbstverständlich angesehen – dabei ist es gar nicht so einfach, wie es aussieht: Verlieren.

Nur wenigen ist bekannt, dass man das auch professionell betreiben kann, und ich möchte die knappe Zeit einmal nutzen, um eine kurze Einführung zu liefern.

Natürlich hat jeder schon einmal irgendwann verloren. Mancher Amateur empfindet sich gar als ‚Loser‘ – aber mit der professionellen Variante, mit dem Lebenskonzept Niederlage hat das meist noch wenig zu tun. Zum Profi-Loser braucht es eine Menge Disziplin, Stärke und manchmal auch Durchsetzungsvermögen. Doch die Anstrengung lohnt sich; in die tiefsten Tiefen des Selbstmitleids werden nur diejenigen finden, die trainieren, trainieren und nochmal trainieren. Für die Einsteiger hier einige kurze Hinweise für die ersten Schritte als Profi-Verlierer:

Punkt 1: Nimm das Endergebnis vorweg!

Der mit Abstand wichtigste Ratschlag; Bevor du irgendetwas anfängst, egal ob beruflich oder privat, musst du dir absolut sicher sein, dass du eine vernichtende Niederlage erleiden wirst.

Lass keinen positiven Gedanken zu; Es kann nicht funktionieren – nur dann wird es auch nicht funktionieren.

Punkt 2: Stürze dich nicht in jedes sinnlose Abenteuer!

Gerade Amateure machen den Fehler, sich in zu viele haarsträubende Unternehmungen auf einmal zu stürzen. Das Problem; statistisch gesehen muss man nur genügend aussichtslose Abenteuer beginnen, bis eines gelingt. Das ist natürlich kontraproduktiv. Also: Wähl genau aus, was du tun möchtest!

Punkt 3: Du bist selbst schuld!

Nur Amateure berufen sich darauf, dass die anderen böse sind und die Welt schlecht ist. Profis geben sich an jedem Fehlschlag selbst die Schuld. Mach dich fertig! Trainier vor dem Spiegel, bis du weinst – und dann trainier dir die Tränen ab. Du brauchst sie vor Fremden.

Punkt 4: Es geht gar nicht anders!

Schlag dir die Illusion aus dem Kopf, es gäbe freie Entscheidungen – denn es gibt keine, zumindest für dich nicht. Du musstest in der Klausur durchfallen, du konntest nur krank werden, du musstest dich betrinken; lass dir nie eine Wahl. Du bist nicht frei; mach das deiner Umwelt klar. Und sieh auf keinen Fall ein, dass das Punkt 3. widerspricht – das tut es nämlich nicht.

Punkt 5: Wenn du auf eins von zwei Pferden setzen sollst – setze auf gar keins!

Nichts liefert dem professional losing mehr Vorschub als nicht zu handeln; das solltest du dir merken. Vermeide es, Probleme anzusprechen oder gar aufzulösen. Warte einfach, bis sie dir nach Jahren um die Ohren fliegen; sicherer geht es gar nicht.

Punkt 6: Trage vereinzelte Erfolge mit Fassung!

Selbst dem besten kann es mal passieren – aus irgendeinem glücklichen Zufall heraus klappt etwas. Auch der Profi ist davor nicht gefeit. Wichtig dabei; bewahre Haltung! Wenn du es geschickt anstellst, kannst du jeden zufälligen Erfolg in eine totale Niederlage umdeuten. Das ist gar nicht so schwer. Beispiele gefällig? „Die Note hatte ich überhaupt nicht verdient!“ oder auch „Das war reiner Zufall!“, im Privaten auch gerne „Jetzt bin ich zwar mit ihr zusammen, aber das will ich ja auch nicht!“. Wer sich an solche Sätze hält, der kann sogar mit Erfolgen umgehen.

Beherzige diese sechs goldenen Regeln – dann steht einer Profikarriere wirklich nichts mehr im Weg.