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Ein Text, eine Geschichte.

Ton

Diesen Artikel drucken 7. April 2008

Hätte sie mir von dem Traum nicht erzählt, mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Ich bin mir sogar sicher, dass alles anders geworden wäre, wenn wir an jenem Abend nicht zusammengesessen hätten. Aber natürlich bleibt das Spekulation; ich kann es nicht wissen, und vermutlich ist das auch besser so.

Es war an einem Dienstag im Jahr 1987, das weiß ich noch genau. Ich weiß auch noch, was für Musik gespielt wurde, die Erinnerung an die Szene ist ganz klar erhalten geblieben. Im Hintergrund lief ein müder Countrysong. Ich weiß nicht, ob das passend war oder nicht; vielleicht schon. In meinem Kopf kann ich immer noch die kühle Stimme des Sängers hören, wenn ich daran zurückdenke, also glaube ich, dass es irgendwie schon passend war: Sonst hätte ich es mir wohl nicht so genau gemerkt. Manchmal denke ich, dass das die einzige Erinnerung ist, die wirklich mir gehört, mir. Als ob an diesem Abend irgendetwas in mir gestorben wäre. Das ist natürlich dumm; ich lebe, nichts an mir hat sich geändert, abgesehen von der Art, wie ich die Dinge sehe. Meine Perspektive hat sich gedreht, das mag sein.

Sie erzählte es beiläufig, und vielleicht ist das der Grund, warum ich die Musik in dem Café als so passend empfand, das denke ich manchmal. Aber auch das kann nicht stimmen; sie war aufgeregt, nicht aufgelöst, aber doch sehr aufgeregt, nur hatte ich kaum Interesse an dem Gespräch gezeigt. Ich schaute gerade einem hübschen Mädchen nach, das vor dem Fenster mit ihrem Hund spazieren ging, als sie von dem Traum zu erzählen begann: Ich drehte den Kopf wieder zu ihr. Den Ausdruck in ihren Augen werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen; vielleicht wird der Rest der Szene irgendwann verblassen, das könnte sein. Ich werde bald 45, und irgendwann wird der Verstand wohl träger werden, irgendwann werden sich meine Erinnerungen davonstehlen. Diesen Ausdruck aber, den werde ich sicher nicht vergessen, bis zum Ende nicht. Er stand nur für einen Bruchteil eines Moments in ihren Augen; ich habe mir das nicht eingebildet, glaube ich, er war da, einen unbeschreiblich grausamen Augenblick lang. Ich kann nicht beschreiben, was dieser Ausdruck genau war; man kann es nicht, niemand könnte es, befürchte ich. Es war so, als würde ich durch sie hindurchsehen, oder als würde ich durch sie in mich hineinsehen; beides, zugleich.
Ich hatte einen Traum, gestern, hatte sie gesagt, von dem muss ich dir erzählen. Er beschäftigt mich, und ich muss jemandem davon erzählen.

Es war ihr Traum, nicht meiner, und das lässt die Sache unwahrscheinlich erscheinen lassen, aber ich kann mir genau – ganz genau – vorstellen, wir ihr Traum aussah. Sie hat ihn nicht sehr detailliert beschrieben, aber trotzdem habe ich ein konkretes Bild vor Augen. In diesem Bild sitzt sie in dem Café. Es ist sehr voll, ich kann den Rauch riechen, ich kann das Stimmengewirr hören, den Kaffee schmecken. Und dann kommt jemand herein, den ich nicht erkennen kann; er trägt eine Sportjacke und eine Wintermütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Er will nicht erkannt werden, das hat sie damals zu mir gesagt; er will nicht erkannt werden, niemand soll sehen, wer er ist. Er ist der Tod.

Bis heute verstehe ich diesen Satz nicht; denn er ist nicht der Tod, nicht in dem Bild, das ich von der ganzen Szene habe. Ich frage mich oft, ob ich sie falsch verstanden habe; ob mein Bild einfach nur falsch ist. Aber Bilder können nicht so einfach falsch sein. Sie sind subjektive Eindrücke, und vielleicht ist der Grund dafür, dass ich diese Szene niemals vergesse, genau der: Ich habe ihren Traum gesehen, aber durch meine Augen. Für sie war der Traum nur eine interessante, eine beängstigende Episode. Wir haben nach diesem Tag nie wieder darüber gesprochen, einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Für sie war es keine Katastrophe, sondern nur eine kleine Anekdoten. Ich glaube, sie hat wirklich den Tod gesehen in ihrem Albtraum: nur eine Figur, ein Spieler auf dem Spielfeld, der zusammen mit demselben verschwindet, wenn man erwacht. Ich dagegen habe mich gesehen, mich, und ich bin keine der Spielfiguren. In meinem Bild komme ich herein durch die Tür, nicht der Tod, nur ich in der Verkleidung des Todes.

Aber egal, wer der Mann ist; wir sind uns einig darüber, was er tut. Er setzt sich an ihren Tisch. In meiner Vorstellung nimmt er den Platz, den ich hatte, als sie mir davon erzählte, direkt am Fenster. Er fragt nicht, ob er sich setzen darf, und in ihrer Erzählung war das der Punkt, an dem ich den Charakter eines Albtraums erkannte. Hier beginnt die Gewalt, dachte ich damals. Die Würfel sind jetzt gefallen; hätte er sie gefragt oder sich nur an einen anderen Tisch gesetzt, dann wäre alles offen gewesen, aber so ist klar, dass es ein schlechtes Ende nehmen muss.

Er sieht sie an: Man kann kein Gesicht erkennen, so hat sie es beschrieben. Da ist ein Gesicht, aber man kann es nicht erkennen. Als hätte man diese Krankheit, bei der man Gesichter nicht unterscheiden kann. In meinem Bild ist das ebenso; aber ich weiß eben, dass ich unter dieser Maskerade stecke, ich bin mir ganz sicher. Das Ungesicht grinst; es grinst hämisch. Und dann sagt er nur zwei Sätze; er sagt sie ganz ruhig, aber auch so, dass man weiß, wie lange er sie studiert hat.

Glaubst du, was du siehst? Was siehst du denn?

Er lässt die Sätze ein oder zwei Sekunden wirken, starrt sie an, sucht nach der Reaktion. Dann steht er von seinem Stuhl auf und hebt ihn fast spielend hoch, ohne jedoch darauf zu verzichten, seine Kraft zu demonstrieren. Es ist eine Geste der Überlegenheit, eine, die sie klein wirken lässt und auch wirken lassen will.
Dann hebt er ihn über den Kopf, dreht sich herum und lässt ihn auf einen der anderen Gäste herabsausen.

Es ist eine rohe Tat, aber keine, die diese Art von Unwohlsein erzeugt, von der sie mir damals erzählen wollte. Ich habe dieses Bild genau vor Augen, wie der Stuhl krachend zerreißt, aber es macht mir keine Angst. Er oder ich, wir wollen diesen Gast nicht töten oder verletzen, darum geht es nicht. Wir wollen etwas zeigen, das noch viel schlimmer ist.

Als der Stuhl mit diesem lauten Geräusch explodiert, verstummen die Gespräche plötzlich. Ich kann keinen Rauch mehr riechen; in meiner Vorstellung dampfen selbst die Kaffeetassen nicht mehr. Die Gäste verharren; sie frieren nicht ein wie in einem Film, sie bleiben nur sitzen und starren.
Einen Moment dauert es, bis das Geräusch des zerstörten Stuhls verklungen ist, dann ist es still. Der Mann tritt von seinem Werk zurück. Und was man dann sieht, das ist der getroffene Gast, doch da ist kein Blut. Als sie mir davon erzählte, erwartete ich ein sehr blutrünstiges Bild; doch da war kein Rot, nichts. Nur dieser Mensch oder besser: dieses Ding. Ich kann nur versuchen, es zu beschreiben –
Sein Kopf ist nicht verletzt worden; er fehlt einfach nur, zumindest der größte Teil. Er scheint schräg abgebrochen zu sein, wie von einer alten Statue. Die Ränder sind spröde; da ist keine glatte Bruchkante, dieses Ding ist nicht eingerissen und es hat auch nicht nachgegeben wie weiches Fleisch. Es ist gesprungen, gesprungen wie ein Tonkrug. In ihrem Traum steht sie auf, um es genauer zu erkennen, und erst dann begreift sie, was wirklich geschehen ist; dieses Wesen war tatsächlich aus Ton. Das Innere war schon immer hohl: die dünne Schicht aus gebranntem Ton hat es schon immer zusammengehalten. Es war nur eine Oberfläche, und er oder ich haben diese Oberfläche zerschmettert. Da war gar kein echtes Wesen, kein wirklicher Mensch, den wir hätten töten können, nur dieses beschädigte Tongefäß, diese Sammlung von Fälschungen.
Ich weiß nicht genau, was dann geschieht; ich weiß, dass der Mann ohne Gesicht ihr etwas Hämisches zuruft und dann all die anderen Gäste zerschlägt, zerschlägt wie das erste Gefäß auch, aber ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge es geschieht oder wie er es tut. Manche scheinen nur unter seinem Blick zu bersten; er muss sie nicht schlagen, um sie zu zerbrechen, aber das ist meine Interpretation und nicht ihre. Sicher bin ich mir aber, dass auch sie irgendwann zuschlägt; sie hat das so erzählt, sie beobachtet die Szene zunächst nur, voller Angst, voller Ekel. Aber mit jedem Gast, der mit einem klirrenden Geräusch zerbirst, wächst auch die Wut in ihr; es ist eine unbestimmte Wut, ich kann sie mir genau ausmalen. Es ist die Wut von jemandem, der etwas sehr Wertvolles verloren hat. Die Wut einer Betrogenen. Und so packt sie irgendwann eine der großen Kaffeetassen und zerschlägt die Frau hinter der Kasse.
Für sie endete der Traum an dieser Stelle; entweder das, oder sie hat mir vom Ende einfach nicht erzählt. Dann bin ich aufgewacht, hat sie gesagt, ich war schweißgebadet und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
An diesem Dienstag hat sie noch eine Weile darüber geredet; sie wollte von mir wissen, was ich davon hielt, aber ich konnte nicht viel sagen, das Bild hatte sich schon in meinem Kopf gebildet, während sie davon erzählt hatte, und so war ich mit mir selbst beschäftigt. Meine Erinnerung an das Gespräch verwischt sich an dieser Stelle; es war mir einfach nicht mehr wichtig, was sie sagte. Ich weiß noch, dass ich mehrmals nach dem Ende fragte , aber sie erzählte mir nichts mehr. In meinem Bild endet der Traum nicht mit der Zerschlagung des Kassierergefäßes, deshalb fragte ich nach; aber vielleicht hat sie wirklich nicht mehr gesehen.
In meiner Vorstellung ist es nicht die Kassiererin, die als letztes zerschlagen und somit entlarvt wird, nein. Sie steht vor diesem geborstenen Gefäß, hält die zerschmetterte Kaffeetasse noch in der Hand, und blickt zu dem Ungesicht – und damit zu mir – herüber. Von den Gästen ist keiner ganz geblieben, alle sind geborsten, alle waren nur Hüllen, nur Oberflächen. Nur ich stehe noch im leeren Raum zwischen den zerbrochenen Gefäßen. Ich gehe einige Schritte auf sie zu, in der Hand eine alte Teekanne.

Heuchlerin

nenne ich sie dann zweimal, bevor ich auch diesen Tonkrug zerschlage, diese Lüge enttarne. Das ist nicht das letzte Bild der Szene, eins muss noch kommen, das verstehe ich inzwischen, denke ich. Auch ich muss entlarvt werden, und so kommt es auch; die Kanne zerschlägt mein Ungesicht, und auch darunter ist nur hohle, leere Dunkelheit, die Schwärze eines geplatzten Betrugs.

Ich denke manchmal, es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich diesen Traum wirklich gehabt hätte; dann wäre ich aufgewacht, und alles wäre gut gewesen. Aber ich hatte ihn nicht; ich kann nicht erwachen, ich bin schon wach. Oder ich bin an diesem Dienstag im Jahre 1987 auf eine Weise aufgeweckt worden, die man nicht zurücknehmen kann, die nicht korrigierbar ist. Für sie ist es ein Traum geblieben, etwas, was man am ehesten als ein Spiel ohne Einsatz verstehen kann. Für mich ist es zur Wirklichkeit geworden, und die gibt es nicht ohne Einsatz.

Es ist nicht so, dass mein Leben an diesem Tag geendet hätte; das habe ich schon gesagt. Aber trotzdem hat sich vieles verändert. Vielleicht liegt es nicht nur an diesem Erlebnis, vielleicht ist es auch eine Form von Selbstbetrug, es nur auf ihre Erzählung zu schieben, aber ich lebe seit diesem Tag allein. Ich mache meine Arbeit, das habe ich auch vorher schon getan. Doch ich bin in den Wachdienst gewechselt: ich bewache nachts Industriegebäude. Mir ist klar, warum ich das tue und nichts anderes; ich ertrage keine Menschen mehr um mich. Sicher bin ich einsam, da mache ich mir nichts vor. Aber es ist eine andere, eine irreversible Art von Einsamkeit. Menschen, die einsam sind, wünschen sich einen anderen Menschen, der in ihrer Nähe ist. Das wünsche ich mir nicht. Ich fühle mich einsam, aber ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist.
Mein Leben ist ja auch nicht schlecht, das kann ich nicht behaupten. Manchmal esse ich abends ein Steak, oder schaue fern: Das bringt mir ein wenig Zerstreuung, auch wenn ich Filme, in denen Menschen spielen, nur schwer ertrage; mir sind Tierdokumentationen lieber.

Es ist immer das gleiche, wenn ich doch einen Spielfilm einschalte oder mit dem Bus zur Arbeit fahren muss; alles ist normal, ich sehe die Menschen um mich herum, ich höre ihre Gespräche. Doch dann drehe ich den Kopf, vielleicht sehe ich aus dem Fenster oder nach den Fischen in meinem Aquarium. Und dann ist es wieder da, das Geräusch der klirrenden Tonkrüge, und aus den Augenwinkeln sehe ich ihre hohlen, leeren Gesichter; diese Fälschung, die sie Mensch nennen. Etwas Ähnliches passiert manchmal, wenn ich zu lange in den Spiegel sehe; es wäre auch eine unerträgliche Ungerechtigkeit, wenn es nicht so wäre. Deshalb endet der Traum auch so und nicht anders, es musste so sein. Ich bin nicht anders als sie; Ich bin nur eine Oberfläche, ein Außen, mehr nicht. Darüber muss man sich keine Gedanken machen: Ich habe es getan, und manchmal bereue ich es.

Heil

Diesen Artikel drucken 4. April 2008

Es gibt eine Wahrheit.

Wir kennen sie, und die Wahrheit kennt uns.

Wenn wir ihr folgen, dann erlangen wir alle das, was wir uns wünschen.

Was wir uns wünschen, das ist Vergebung.

Was wir uns wünschen, das ist Erlösung.

Was wir uns wünschen, das ist das Leben.

Denn die Wahrheit ist das Leben, die Erlösung und die Vergebung.

Die Wahrheit ist das Leben, also ist sie die Abwesenheit des Todes und des Leids.

Die Wahrheit ist das Leben, also sind wir für das Leben.

Wenn die Wahrheit die Abwesenheit des Todes und des Leids ist und wir die Wahrheit kennen, dann müssen wir den Tod und das Leid mit allen Mitteln bekämpfen.

Wer die Wahrheit nicht kennt, dem muss sie offenbart werden.

Wer die Wahrheit leugnet, der muss überzeugt werden.

Wer für das Leben ist, kann die Wahrheit nicht leugnen.

Wem die Wahrheit offenbart wurde, sie aber leugnet, will die Wahrheit nicht erkennen.

Wer nicht für das Leben steht, steht für den Tod und das Leid.

Wenn wir den Tod bekämpfen müssen, dann müssen wir auch jene bekämpfen, die für Tod und Leid stehen.

Wenn wir jene bekämpfen müssen, die für Tod und Leid stehen und die Wahrheit die Abwesenheit des Todes ist, dann müssen wir die bekämpfen, die die Wahrheit nicht erkennen wollen.

5 Uhr 55

Diesen Artikel drucken 11. März 2008

Wie sie da sitzen, die Augen noch schlaftrunken, der Blick nach innen gerichtet, vielleicht auch ins Nichts. Wenn das übersteuerte Knistern der Lautsprecher die hohle Frauenstimme zu schaurigem Halbleben erweckt, schrecken sie manchmal hoch, ist das ihre Haltestelle, sind sie schon am Ziel?

Die anthrazit- und beigefarbenen Wände der Großraumabteile sind nicht das Ziel, nicht das Ende, aber auch nicht der Anfang. Dieser Ort ist ein Dazwischen, zumindest kann man das hoffen. Wer den Glauben daran verspielt hat, dem bleibt nur das unverständliche Murmeln des Discmans oder MP3-Players, stets konterkariert von den Betriebsgeräuschen des Zuges, dem Rattern der Räder, dem Heulen des Motors.

Manche der Wartenden tragen schon Zollstöcke oder Werkzeuge an der stets praktischen und unverzichtbaren Arbeitskleidung, andere tragen Krawatten, viele sicher – unsichtbar – einen Flachmann in den abgewetzten oder nagelneuen Hosen. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit, eine gewisse Einförmigkeit unter den Fahrgästen um diese Uhrzeit. Hinter dem Spiel der Oberflächen, des Äußeren, besteht eine fast greifbare Verwandtschaft; hier werden keine Klassenkämpfe geführt, keine beruflichen Animositäten ausgetragen, noch nicht. Steigen sie aus, so wird sich der Malerlehrling wieder am gestylten Äußeren des Bankangestellten stören und umgekehrt, doch noch ist es nicht so weit, noch sind die Unterschiede im Grau des Kunstlichts unkenntlich.

Es ist das Halogenlicht eines Terrariums, eines Käfigs. Die blauen Sitzpolster macht es blau-grau, die Warnstreifen vor den Stufen; gelb-grau. Selbst der Mond, der langsam von der Dämmerung verschluckt wird, degeneriert unter dem grauen Schleier auf den Scheiben zu der Abwesenheit von etwas. Es ist das modernere, das verbesserte Licht; es ist funktioneller als das alte, könnten Ingenieure erklären, deshalb haben sie es abgeschafft.

Und so erscheinen auch die Gesichter hier grauer als sonst, unter der künstlichen Beleuchtung verschwinden die individuellen Merkmale, und auch das mag so etwas wie Konformität schaffen, Konformität durch Funktionalität. Es sind praktische, weil leere Oberflächen, die hier ausdruckslos starren oder die Augen möglichst lange geschlossen halten, anonym wie Konservendosen.

Doch diese Dosen träumen, manchen sieht man es an; sie träumen davon, dass einzig ihrem Gesicht, nur ihnen etwas Individuelles geblieben ist, dass Halogenlicht Unikaten nichts anhaben kann. Es bleibt ein unerfüllter Traum, eine Wunsch ohne Chance auf Verwirklichung, der nur durch die Abwesenheit von Spiegeln am Leben erhalten wird. Auch dies werden Ingenieure so geplant haben; selbst die Scheiben sind antireflex-beschichtet, vielleicht, um diesen Traum aufrechtzuerhalten; auch Ingenieure müssen mit Zügen zur Arbeit fahren.

Aber auch dieses Detail hat etwas Funktionelles. Wer von sich selbst oder einem Anderswo träumt, der wird nicht verrückt; auch begehrt er nicht auf. Das Trauma des Unterworfenseins ist verborgen, solange der innere Rückzug bleibt. Man denkt an zu Hause, an die Kinder; an Hobbies oder Geliebte. Die kleinen Ritzen, die das Innen dann noch mit dem Außen verbinden, Risse in der Isolierung, dichtet man ab. Die Augen geschlossen, die Ohren unter großen Kopfhörern verborgen; die Musik rieselt leise gegen die Fahrtgeräusche an, Dies ist kein Sklaventransport flüstert sie vielleicht von Zeit zu Zeit durch das Dröhnen der Maschine hindurch. Manchmal, wenn die Räder über eine Weiche rasen, ist das erste k kaum zu hören. In solchen Momenten bewegen sich die Menschen unruhig auf ihren Plätzen. Vielleicht sehen sie sich um, entdecken ihre Zelle neu. Sie fragen sich schlaftrunken, wohin die Reise geht; ins Nirgendwo, ins Nirgendwohin, denken sie vielleicht, dann dösen sie wieder.

Nach einer Nacht in Genf

Diesen Artikel drucken 17. Februar 2008

Städte wie diese enthüllen die ungeheure Dichte an Geschichten, die ständig an jedem Ort geschehen; die kleinen wie die großen, die alltäglichen Geschehnisse wie die lebensumwälzenden Dramen. Die Enge der Gassen; die dicht gedrängten Fenster und Balkone; die Lichtermeere an den Ufern des Sees; all diese Details erzeugen den Eindruck, vor etwas Großem, Unvermittelbarem zu stehen, vor einem Gewirr an Stimmen, Namen und Richtungen, das niemand enträtseln kann.

Sieht man die Gebäude nur als ebensolche, als tote Skelette, Konstrukte einer längst vergangenen Kultur vielleicht, dann erscheint diese Enge, diese Dichte als etwas Homogenes; dann besitzt jede Stadt den Charakter eines toten Bienenstocks, dessen leere Waben schon immer nur Identisches beinhalteten, oder zumindest sehr Ähnliches. In dieser Vorstellung wird aus dem vielstimmigem Chor der Geschichten nur eine einzige, leere Stimme; leer, weil sie schon lange verklungen ist, nur die Waben sind übrig. Ganz so, als ob jede unserer Geschichten dazu verdammt sei, von jeder anderen ununterscheidbar zu sein. Als wären wir selbst immer nur Variationen ein und desselben Dings, ein und derselben Honigbiene. Das scheint erschreckend und intuitiv zugleich; wie sonst könnten wir so symmetrische, selbstähnliche Formen wie Städte schaffen?

Gerade deshalb ist es etwas Seltsames – und vielleicht Schönes – an uns Menschen, dass es sich doch anders verhält. Hinter den augenscheinlich gleichen Waben, Parzellen, Gardinen, Zimmern, Appartements stecken immer ganz verschiedene Geschichten. Es gibt keine Homogenität in den Erzählungen unserer Leben, aber auch keine Identität, keine Getrenntheit; hinter den scharfen Grenzen unserer Lebensräume schneiden sich unsere Lebenswelten. Sie kollidieren, überlappen, divergieren, vereinen sich, immerzu. Und auch deshalb bleibt Architektur ein Rätsel.

Blacksuit

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2008

Er hatte die im alten Design gehaltene Kreditkarte schon zweimal in den Kartenleser des Kassenautomaten geschoben, doch der Fehler in dieser Szene fiel ihm erst auf, als die ebenfalls absichtlich altmodische gehaltene Maschine auch beim dritten Versuch jede Zahlung verweigerte. Es war weder nötig noch sinnvoll, die alten Maschinendesigns und die längst nutzlosen Plastikkarten zu verwenden, die Zahlautomaten waren davon schon lange nicht mehr abhängig, aber aus Gründen der Ästhetik hatte man sie beibehalten; dennoch stand im Display des Automaten natürlich nichts von einer abgelaufenen oder überzogenen Kreditkarte, sondern nur
IDENT-PIN ungültig.
Und so blieben auch die Türen des Supermarktes verschlossen, solange er den Korb mit den Einkäufen im Arm hatte. Manchmal hatten Geräte dieser Bauart Fehlfunktionen, so dass man ein zweites Mal den Schlüssel übertragen musste. Doch noch nie hatte er es erlebt, das das System dreimal versagte. Er erwartete daher, dass es eine Art von Rückmeldung an die Zentrale oder einen Wachdienst geben würde und blieb verwirrt im Ausgangsbereich stehen. Sein Blick wanderte unschlüssig über die Maschine, den Boden und fand schließlich in den elektronischen Spiegel an der Wand hinter der Kasse. Einen Moment dauerte es noch, bis er das Ungeheuerliche in der digitalen Reflexion erkannte, doch dann fiel ihm der Fehler auf und er erschrak.
Das im Spiegel – das war nicht er selbst. Er korrigierte sich; natürlich war er es selbst. Seine echte Identität war verborgen unter der Blacksuit, die sein Aussehen, seine Stimme und seine Kleidung von Kopf bis Fuß frei konfigurierbar machte, aber das dort im Spiegel – das war auch keine seiner künstlichen Identitäten. Wie die meisten Menschen hatte er etwa ein halbes Dutzend davon, verschiedene für die jeweiligen Anlässe; dazu selbstverständlich auch zehn bis zwanzig verschiedene Kleidungssets, schließlich wollte er ja nicht immer die gleiche virtuelle Kleidung tragen. Was er jedoch dort im Spiegel sah, das war keine seiner digitalen Identitäten. Täuschte er sich? Er ging einen Schritt auf den Spiegel zu und sah genau hin. Nein, dieses Gesicht hatte er sich sicher nicht ausgesucht. Er hatte den JohnD_12AX-Skin übergeworfen, als er sich auf den Weg gemacht hatte; den mit dem schwarzen Sakko, oder mit dem weißen, das wusste er nicht mehr genau. Auf jeden Fall hatte er sicher nicht diesen Skin gewählt; er hatte jetzt das Gesicht eines Matrosen oder Kriminellen, mit tiefen, harten Konturen und einigen kaum verborgenen Narben. Die Kleidung war abgewetzt und größtenteils aus Lederimitat; solche Skins wurden allenfalls zum Spaß getragen, aber sicher nicht beim Einkaufen. Vielleicht war beim Einschalten des Skins etwas schief gelaufen. Er überprüfte die Anzeigen, die der Anzug in sein Auge projizierte; es gab keine Fehlermeldungen. Mit einigen durch die Jacke verborgenen Bewegungen seiner Finger startete er das Diagnosemodul.
Ungültige IDENT-PIN. Diagnose abgebrochen
flüsterte eine leise Stimme aus der Blacksuit.
Er wechselte zur Skinauswahl, und zu seinem Erstaunen fand er in der Liste keinen Oberflächenskin, der ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. DESC_4r hieß der, den er gerade auftrug. Er wählte einen der anderen aus und bestätigte die Umstellung, um das System zu testen.
Ungültige IDENT-PIN. Skinwechsel abgebrochen.
Wieder die leise Frauenstimme, der alte Kassenautomat grinste ihn mißmutig an.
Er hatte den falschen Anzug an, das war die Erklärung, anders konnte es nicht sein. Aber wie konnte das sein? Er suchte nach dem Statusbericht des Anzugs, dort war der echte Besitzer für gewöhnlich eingetragen. Eigentlich sollte man den Vollanzug nicht einmal schließen können, wenn man nicht der Besitzer war, aber auch solche Fehler konnten sicher geschehen, auch wenn er davon noch nie gehört hatte.
Eigentümer: n/a – Bitte natürliche Identität angeben.
Ein leerer Anzug, vielleicht war einfach der Speicher gelöscht worden.
Er wählte die Zeile, gab seine IDENT-Nummer ein und bestätigte. Ein Symbol am oberen Rand zeigte an, dass die Eingabe gepüft wurde.
Identität nicht gefunden. Bitte achten Sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Er überprüfte seine Eingabe zweimal; es konnte nicht sein, es musste die richtige Nummer sein; A12Doring. Er gab sie erneut ein und bestätigte.
Identität nicht gefunden. Bitte wenden Sie sich an den zuständigen Systemadministrator.
Er begann sich vor dem Anzug zu gruseln. Er sah sich um; er war der einzige Kunde. Dann griff er nach der Verriegelung des Kopfendes. Wenn der Anzug eingeschaltet war, konnte man sie nur fühlen und nicht sehen. Eine Weile tastete er über die künstlichen Haaren, die künstliche Stirn, die künstlichen Ohren.
Er fand ihn nicht, er war nicht da; hektisch zog er am Haaransatz, wo die unsichtbare Kapuze des Anzugs mit dem Rest der Suit verbunden war, riß daran, bis die ganz Stirn schmerzte . Es half nichts.
Ausstieg verweigert, ungültige IDENT-PIN. Bitte geben Sie ihre natürliche Identität an.
Die Angst in ihm wuchs. Warum ließ es ihn nicht hinaus? War war mit seiner Identität geschehen? Er gab sie noch einmal ein, diesmal geschah etwas.
Ihre Identität ist nicht existent. Es wird eine Verbindung zur Hotline hergestellt.
Er sah, wie der Anzug den Code wählte.
>>Blacksuit Support, Guten Tag, bitte schildern sie das Problem.<< sagte eine blecherne Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, er war sich nicht ganz sicher, ob er mit einer Frau oder einem Computer sprach. Er erklärte seine Lage, das Wesen am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken (oder zu rechnen).
>>Es tut mir leid, aber ich kann sie tatsächlich nicht in der Datenbank finden…<<, sie stockte, >>da scheint es doch einige… Anomalien in ihrem System zu geben. Von hier aus kann ich das Problem nicht lösen, sie sollten auf dem schnellsten Weg die nächste Filiale aufsuchen.<<
Er sah, wie der Routenplaner aufgerufen wurde, sie hatte die Adresse schon eingegeben.
>>Ich hoffe, Blacksuit Kreditkarten konnte ihnen helfen und bedanke mich für das Gespräch, Herr Doring.<<
Er stutzte.
>>Wie haben sie mich gerade genannt?<<
>>Doe. Oh, das ist die Firmenpolitik; solange ihre natürliche Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, werden sie von uns unter dem Namen John Doe geführt. Fassen sie das bitte nicht als Herabwürdigung auf.<<
Sie trennte die Verbindung. Der blinkende Pfeil vor seinen Augen wies den Weg zur nächsten Filiale. Alles würde in Ordnung kommen, wenn er dort war; er beruhigte sich wieder etwas. Er stellte den Einkaufskorb ab, die Tür öffnete sich. Auf der Straße angekommen folgte er den Pfeilen.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, aber diejenigen, die er sah, wechselten die Straßenseite, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er erkannte einen Nachbarn, oder zumindest glaubte er, dass sich unter der Oberfläche einer seiner Nachbarn verbarg. Der Zweifel begann an ihm zu nagen; was, wenn sie seine Daten wirklich verloren hatten? Wenn sie ihm nicht glauben würden? Das war so gut wie unmöglich, das wusste er. Wenn sie den Anzug entfernen würden, könnten sie sicher feststellen, wer er war. Aber dennoch; er hatte Angst. Was, wenn nicht? Wenn er unter dieser grässlichen Oberfläche gefangen bleiben würde? Seine Knie fühlten sich seltsam weich an.
Plötzlich wollte er nicht mehr allein dorthin gehen; seine Wohnung lag beinahe auf dem Weg, und so beschloss er, den Umweg in Kauf zu nehmen. Im Routingmodul fand er den Weg dorthin nicht – natürlich nicht, der Speicher war ja gelöscht worden. Also musste er sich mit einiger Mühe selbst orientieren.
Nach einer Weile bog er entgegen der Pfeilrichtung in eine Querstraße ab, die ihm bekannt vorkam; Alle drei Sekunden wies ihn die Stimme des Anzugs darauf hin, dass er umdrehen solle, er konnte es nicht abstellen.
Zu seiner Überraschung fand er das Haus sofort. Im Flur stank es nach Urin, das war ihm auf dem Weg nach draußen nicht aufgefallen. Vermutlich war auch das eine Fehlfunktion des Anzugs. Seine Hände zitterten leicht, als er auf den Summer drückte; das Schloss ließ ihn auch hier nicht passieren. Für einen Moment hörte er kein Geräusch aus der Wohnung, und er dachte darüber nach, ob er vielleicht an der falschen Tür geklingelt hatte. Dann jedoch hörte er Schritte. Die Tür öffnete sich, und seine Frau stand dahinter, in dem Skin, den sie zu Hause immer trug. Er war ihrer natürlichen Identität nicht unähnlich, nur waren die Konturen ihres künstlichen Gesichts etwas weicher, und ihre Augen hatten eine andere Farbe.
Er lächelte, bis er bemerkte, dass es nicht sein Lächeln war, sondern ein fremdes. Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich weiß, ich sehe seltsam aus, aber es gibt da einige Probleme mit dem Anzug. Ich muss zur Reparatur in die nächste Filiale, aber ich möchte nicht allein gehen…“. Seine Frau legte den Kopf schief.
„Wer sind sie denn?“ fragte sie, er hörte die Angst dahinter auch durch die künstliche Stimme hindurch, und ihm wurde etwas schwindelig.
„Ich bin es, dein Mann.“
„Wer? Ich habe keinen Mann.“ antwortete und zog die Tür ein wenig weiter zu.
„Liebling, ich bin es. Erkennst du mich nicht?“
„Ich hatte nie einen Mann“ sagte sie tonlos und mehr zu sich selbst, dann schlug sie die Tür zu.

„Ich hatte nie einen Mann“, sagte sie tonlos und er sah sich wieder im digitalen Spiegel des Supermarktes. Sein Kopf war ein Bildschirm und der Körper darunter steckte immer noch in dem grässlichen, falschen Skin. Der Kassenautomat hatte nun Augen und bediente sich selbst mit dünnen, metallischen Ärmchen, die aus der Verkleidung ragten.
A12Doring tippten sie auf der veralteten Tastatur, er sah die Zeichen in der Spiegelung des Bildschirms auf seinen Schultern. Die Zahlen verschwanden wieder, Identität nicht existent, bitten achten sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Seine Frau stand vor der verriegelten Ausgangstür und lächelte ihn und den Automaten seltsam an, ihr Mund öffnete sich,

Er erwachte auf der Türschwelle und sah die Köpfe zweier Männer mit identischen Gesichtern über sich, identische Skins bis auf die Kleidung. Der mit dem schwarzen Sakko sah ihn durchdringend an,
„Wir sind von der Wache.“ sagten die beiden fast zeitgleich mit ähnlichen Stimmen.
Der im schwarzen Sakko beugte sich zu ihm herunter;
„Wir nehmen sie fest aufgrund des Verdachts der Nicht-Identität“, er überlegte einen Moment, „sie sind nicht sie selbst.“, fügte er erklärend hinzu, im Hintergrund hörte er seine Frau leise mit dem anderen Agenten sprechen.

Sie lächelte fast hämisch, ihr Mund öffnete sich.
„Ich weiß ein Geheimnis…“ sagte sie, dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.
Der Kassenautomat gab weiter stakkatohaft Zeichen ein, immer wieder. Auf dem Monitor, der einmal sein Kopf gewesen war, blinkte im selben Rhythmus
Doring nicht existent.
Für einen Moment erkannte er in den verzweifelten, aufgeklebten Augen der Maschine seinen eigenen blauen Augen, aber dann wurden sie grün, braun, rot, schließlich farblos.
Die Schultern der Frau wurden breiter, ihre Brust schmaler, ihr gelbes Kleid wurde kürzer und immer heller, alles zugleich, und nach einem Augenblick hatte sie den Skin der Agenten übergeworfen.
„Ich weiß ein Geheimnis“, flüsterte sie, „es gibt keine Blacksuit.“

„Seine Persönlichkeit destabilisiert sich, wir müssen die Suit jetzt entfernen.“ Er blickte an die Decke, dort war der Name Blacksuit Corp. eingraviert, in einem sich wiederholenden Muster. OP-Licht blendete ihn. Ein Mann stand neben ihm und hielt ein Skalpell in den Händen. Er sah auch die beiden Agenten mit den gleichen Gesichtern, der eine im schwarzen Sakko, der andere im weißen, der eine blickte ihn ernst an, der andere lächelte.
„Wir nehmen sie fest wegen des Verdachts der Nichtidentität. Sie sind nicht sie selbst.“ sagte der eine. Seine Arme und Beine waren an den medizinischen Stuhl gefesselt, auf dem er lag, er sträubte sich gegen die Ketten, als der Arzt noch einen Schritt auf ihn zu ging.

Sie lächelte ihn und den verzweifelnden Automaten hämisch an, „Es gibt keine Blacksuit.“

sagte der Agent im weißen Sakko, sein Kollege schien ihn nicht zu hören.
„Wir müssen jetzt anfangen.“, der Arzt setzte das Messer auf seine Brust, er tobte und schüttelte sich, riss mit aller Kraft an den Fesseln.
„Sie sind nicht sie selbst.“ sagte das schwarze Sakko,
der andere Agent lächelte still,
„Es gibt keine Blacksuit.“ flüsterte er noch einmal.
„Sein Anzug destabilisiert sich, wir müssen die Persönlichkeit jetzt herausschneiden.“ kreischte der Arzt, er hörte seine eigene fremde Stimme schreien, aber seine Schreie klangen wie das Wählgeräusch eines alten Modems,
„Sie sind schuldig des Vergehens der Nicht-Identität“, der Agent überlegte oder rechnete einen Moment,
„Sie sind nicht sie selbst.“
Es gibt keine Blacksuit.
Er brüllte vor Schmerz –

Sie sind nicht sie selbst.
Es gibt keine Blacksuit.

Es g7bt keiAe Black4uit.
Sie siBd nicFt sie sel5st.

A7 A767 F19AE 136A4F5F
1BC 4BDC 163F5 354 AD56B

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1100101010 10101011111 101101000 000000111 1010001100 0111001110 1110001110 1001010111

Runlevel 0. System halted.

Erwache, Nichts.

Wahnsinnstat

Diesen Artikel drucken 15. Januar 2008

Glas und Metall. Glas und Metall.
Er hatte es als Kind gern getan, obwohl seine Eltern ihn oft dafür gescholten hatten, und jetzt musste er wieder daran zurückdenken: Wenn man mit einem spitzen Gegenstand über Glas schrammte, mit einem Stück Metall oder Stein etwa, so verursachte man kleine Kratzer in der Oberfläche, winzige Risse in der Oberfläche, die man nur bemerken konnte, wenn man sie bei gutem Licht betrachtete. Für das bloße Auge waren es dann immer noch bloße Schmarren, kleine Narben im makellosen Gefüge, die sich nur auszeichneten, weil sie das Licht in einem anderen Winkel brachen als die umliegende, plane Oberfläche. Unter einem Mikroskop dagegen sah dieser kleine Kratzer aus wie die Folge einer Naturkatastrophe: Riesige, zerklüftete Hänge konnte man sehen, mit rissigen Graten darin und unzähligen, fein verästelten Abgründen. Hatte man das Glas zuvor grob genug behandelt, so hatt sich der Grund dieses scharfkantigen Gebirgskessels sogar ganz verflüssigt, für einen Moment, und man sah dort unten auf eine wieder erstarrte, rundliche Mondlandschaft. Bei entsprechender Beleuchtung konnte man vielleicht sogar die Spannungen im Gefüge sehen, in einem schillernden Farbengewirr. Dann waren die apokalyptischen Kräfte zu sehen, die an den Ausläufern der winzigen Canyons zerrten, sie zu zermalmen drohten, und vielleicht wünschte man sich dann, das Glas nie berührt zu haben.
Doch wie so oft blieb auch hier das Wesentliche dem Auge verborgen, denn eine harte Spitze verursachte nicht nur diese oberflächlichen Verwüstungen, das wusste er jetzt. Man erkannte es schon am Geräusch, das der Gegenstand verursachte, an dem sengenden Klirren und Heulen und Quietschen, das Glas – es schwang.
Natürlich konnte man das nicht sehen, dafür geschah es zu schnell, aber das Glas vibrierte tatsächlich, Tausende Male pro Sekunde wurde es hin und her gerissen, von links nach rechts, von oben nach unten, er wusste das aus seinen Büchern.
Meist, ja meist, da erschöpfte sich dieses Vibrieren in dem nervenzehrenden Kreischen, an das man sich nie gewöhnen konnte.
Doch manchmal, da geschah etwas anderes. Vielleicht war da schon der ein oder andere Makel im Glas gewesen, der es im Inneren ein wenig geschwächt hatte, immer noch ein wenig mehr. Vielleicht war es auch zu lange falsch gelagert worden, zu kalt oder zu feucht oder zu warm. Es mochte die Spannung in einem dieser kataklystischen Canyons sein, oder auch nur die Ermüdung des Materials:
Man fuhr wieder über das Glas, mit einem Schraubenzieher vielleicht, und schrammte kleine Narben hinein. Wieder wehrte sich der Stoff, kreischte laut auf – vibrierte. Das Glas schwang, und an einer ganz gewöhnlichen Linie, einer ganz gewöhnlichen,
Brach es plötzlich.
Es riß ganz und gar auseinander, brach in tausend klirrende, verlorene Scherben, die sich ihren eigenen Weg suchten, ganz allein, zu Boden fielen mit ihren scharfen Kanten und den schneidenden Ecken: Selbst wenn man es versuchen würde, man könnte die Bruchstellen nie wieder kleben. Es blieb zerborsten.
Das war schrecklich, war immer schrecklich, aber ist es einmal so weit gekommen, kann man nichts davon wieder rückgängig machen. Und genau das war wohl mit dem Glas geschehen, aus dem er bestand, und niemand konnte daran noch etwas ändern. Das dachte er, dann begann er zu schießen.

Nullpunkt

Diesen Artikel drucken 14. November 2007

Der Begriff des absoluten Nullpunkts entstammt ursprünglich der Physik, genauer der Thermodynamik.
Ganz entgegen dem intuitiven Begriff von Temperatur, der sich vor allem an der Empfindung relativer Kälter beziehungsweise Wärme orientiert, konstatiert die Thermodynamik in einer grundlegenden Definition, dass die Messgröße Temperatur ein Maß für die durchschnittliche Bewegungsenergie der mikroskopischen Teilchen ist, aus denen Materie besteht.
Diese mikroskopischen Teilchen, seien es nun Atome, Moleküle oder Ionen, bewegen sich ungeordnet und statistisch, so folgt aus der Empirie. Durchlaufen sie den Raum weitgehend unbeeinflusst voneinander, etwa in einem Gas, so stoßen sie in gewissen, nur statistisch verteilten Zeitintervallen (die von der Temperatur abhängen) miteinander und sorgen so dafür, dass die Energie im Mittel gleich verteilt ist.
Im gebundenen Zustand dagegen wechselwirken die Teilchen vor allem über Gitterschwingungen miteinander; hier ist die Temperatur ein Maß für die Stärke dieser Schwingungen.
Aus dieser Definition der Temperatur folgt schon recht offensichtlich die Existenz eines absoluten Nullpunkts. Dies ist genau der Punkt, an dem sich die Teilchen nicht mehr bewegen, keine Gitterschwingungen mehr ausführen und auch auf andere Weise keine Energie mehr austauschen.
Über das Verhalten von Materie bei dieser Temperatur ist, wie zu erwarten, nur zu spekulieren. In der Vorstellung eines idealen Gases wird der vom Gas eingenommene Raum bei dieser Temperatur, die man zu 0° Kelvin oder -273,16° Celsius berechnet, gerade Null; Materie eines ideelen Gases besitzt bei dieser Temperatur keine Ausdehnung mehr.
Mit Hilfe der elementaren Sätze der Wärmelehre lässt sich leicht zeigen, dass dieser absolute Nullpunkt niemals erreicht werden kann; formuliert wird dies im Dritten Hauptsatz der Thermodynamik. Aus diesem Grunde sind Aussagen über das Verhalten von Materie am Nullpunkt reine Spekulation.
Wie eingangs schon erwähnt, handelt es sich bei dem Begriff des Absoluten Nullpunkts um einen physikalischen, thermodynamischen, rein theoretischen Begriff, einen Begriff also, der mit der heutigen, allgemein geläufigen Bedeutung kaum noch zu tun hat:

In seiner medizinischen Bedeutung wurde der Terminus 2046 in einem Werbespot der Firma DESIREFREE eingeführt.

Der Spot war Teil einer Kampagne für ein damals neuartiges medizinisches Verfahren; der sich wiederholende Lauftext im Werbefilm, später zum Slogan von DesireFree erhoben, lautete: „Wir bringen sie an den Nullpunkt. Den absoluten Nullpunkt!“
Die Kampagne wurde von der Fachwelt zunächst kaum beachtet, da sie aus offensichtlichen Gründen sehr vage und mysteriös formuliert worden war. Als jedoch Details in der Öffentlichkeit bekannt wurden, löste dies eine lang anhaltende Debatte aus, an der sich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligten.
Bei der Nullpunkt-Technologie, so die offizielle Patentbezeichnung, handelt es sich um ein komplexe, neurophysiologisches Verfahren zur permanenten Verhaltensmodifikation.
Die genauen medizinischen Details können hier eben so wenig erläutert werden wie die mathematischen und technischen Hintergründe der Thermodynamik. Zudem ist die gesamte Spezifikation des Verfahrens rechtlich geschützt.
Es lässt sich jedoch sagen, dass es sich bei dem Verfahren um eine Kombination aus neurales Reprogrammierung und der gezielten Elimination minimalster Teile des Hirngewebes mit Hilfe von flüssigem Helium handelt.
Ohne die entsprechende fachliche Terminologie ist das Ziel und die Wirkung des Verfahrens schwer zu beschreiben. Daher greifen wir an dieser Stelle der Darstellung auf eine Analogie zurück, die DesireFree in einem ihrer ersten Werbefilme verwendete.
Ein Mensch, so der Spot, ähnelt vor der Therapie einem flachen See im Wind. In seiner Oberfläche spiegelt sich der Himmel; auch Wolken, die Sonne. Emotionale Impulse, im Spot durch wechselhafte Winde dargestellt, lassen das Wasser unruhig werden. Es bilden sich zunächst kleine Verwerfungen, schließen größere Turbulenzen und Wellen. In der Metapher könnte man sagen, der Wind habe eine kaum zu überschätzende Wirkung auf die Seeoberfläche. Ist er nur stark genug, so kann er das Wasser sogar aus seinem Bett heben.
Demgegenüber stellt DesireFree einen Menschen nach der Nullpunkt-Behandlung – nun ist der metaphorische See rundherum von hohen Bergen umgeben. Diese Berge sorgen dafür, dass der Sturm das Wasser kaum aufwühlen kann; versinnbildlicht wird dies durch die klare, ungestörte Reflexion der rapide ziehenden Wolken.
Das Verfahren wurde anfangs entwickelt, um Traumaopfer zu behandeln; letztlich führte es zu einem Produkt, dass nahezu alle emotionalen Störzustände, die Menschen durchlaufen können, eliminiert, in dem es die meist unerwünschten Langzeiteffekte vollständig ausschaltet. Laienhaft ausgedrückt könnte mal also sagen, die Nullpunkt-Technologie dämpfe die Intensität emotionaler Verwerfungen; klarer ist es allerdings, wenn man davon spricht, dass sie das emotionale Gedächtnis hemme, ja sogar ausschalte.
Historisch gesehen musste DesireFree diese Wirkungsweise schnell nach Bekanntwerden der neuen Entwicklung vor Gericht belegen. Mehrere Staaten nahmen Verfahren auf, um das Verfahren zu prüfen. Fraglich war, ob nicht schon die Intention und sicher auch die Wirkung des Verfahrens der Menschenwürde zuwider liefen; sie nehme den Menschen ihre Emotionen, behaupteten die Ankläger, und diese seien als integraler Bestandteil des Mensch-Seins zu schützen.
DesireFree konnte letztlich in weitreichenden, langwierigen psychologischen Test belegen, das ihr Verfahren keineswegs die Fähigkeit zerstörte, emotionale Zustände zu durchlaufen oder zu empfinden. In der Tat kamen alle diesbezüglichen Verfahren zu dem Urteil, dass Probanden des Nullpunkt-Verfahrens all die Emotionen durchleben konnten, die sie auch vorher schon besaßen; Angst, Freude, Wut, Liebe, Hass, Trauer in vielerlei Abstufungen.
Hemmend wirkte Nullpunkt-Therapie nur auf die Langzeit-Effekte, die mit emotionalem Erleben in der Regel verbunden sind. Gleichfalls konnte das Unternehmen aufzeigen, welch positive Auswirkung die Behandlung hat; die Wahrscheinlichkeit, Depressionen, Zwangsstörungen oder Stresssyndromen zu erleiden, sowie der Zahl der Fälle von Selbstmorden, Gewaltverbrechen und Unfällen in Folge menschlichen Versagens waren bei den Probanden signifikant geringer als bei der restlichen Bevölkerung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand; In eigenen Studien konnte DesireFree nachweisen, dass die mittlere Verweildauer von Behandelten in einem emotionalen Zustand (ohne weitere äußere Reize) nicht mehr als 29,6 Sekunden beträgt. Das bedeutet; das Empfinden von Gefühlen beschränkt sich ohne äußeren Einfluss auf kurze Augenblicke. Auch das wurde von Teilen der Gesellschaft thematisiert und als menschenunwürdig bezeichnet; letztlich konnten sich diese Gruppen nicht durchsetzen, weil die Mehrheit der Bevölkerung die Vorteile der Behandlung längst erkannt hatte.
Trotz der juristischen Erfolge wechselte DesireFree ihre Kampagne und ihr Logo noch während der Verfahren vollständig aus. Nach eigener Darstellung geschah dies, weil der Terminus des ‚Nullpunktes‘ und insbesondere auch die Spots nicht deutlich genug machten, was die Technologie leisten konnte und was nicht. Insbesondere die physikalischen Wurzen des Begriffs hätten, so eine Pressemitteilung, Kunden abgeschreckt.
In der Bevölkerung hatte sich der Terminus jedoch schon durchgesetzt, ebenso der Begriff ‚Nullpunkt-Mensch‘ (manchmal auch: ‚0.Mensch‘) für diejenigen, die sich bereits der Behandlung unterzogen hatten. Daher griff das Unternehmen den Slogan zwei Jahre später wieder auf.
Im Jahre 2078, also heute, sind etwa 76% aller Menschen in allen Industrieländern mit der Nullpunkt-Technik behandelt worden; für andere Länder lässt sich dies schwer angeben, weil es eine hohe Anzahl von illegalen Operationen gibt. Die Gründe für den rasanten Absatz des Verfahrens sind vielfältig, aber größtenteils pragmatischer Natur. Wie Studien rasch belegten, gibt es weder versteckte Nebenwirkungen noch echte Nachteile der Technologie. In den Anfangsjahren gab es zwar einige Fälle, in denen die Elimination der beteiligten Hirnbereiche nicht vollständig durchgeführt wurde. Patienten klagten nach der Therapie über einseitige emotionale Schübe, die bis hin zu schweren Zwangsstörungen reichten. In einem besonders tragischen Fall wurde einige Parameter, die für Jähzorn und Agression zuständig sind, nicht richtig eingestellt; ein 56jähriger geriet danach in einen psychotischen Zustand und tötete drei Menschen. Das Nullpunkt-Verfahren wurde danach beinahe verboten. Heute jedoch handelt es sich um eine Standardbehandlung, die absolut sicher in der Handhabung und nur minimal invasiv ist.
Die gesamtgesellschaftlichen Erfolge des Verfahrens sind heute offensichtlicher denn je. Die Verbrechensrate ist stark gesunken, ebenso die Zahl psychischer Erkrankungen. Der Zufriedenheitsindex ist seit 2046 um vierzehn Punkte gestiegen. Die Zahl der Unfälle in Folge menschlichen Versagens ist beinahe bei Null – auch deshalb, weil Nullpunkt-Behandelte am Steuer nahezu aller öffentlichen Verkehrsmittel sitzen.
Und das Wachstum geht weiter – für das Jahr 2100 rechnet DesireFree mit einer beinahe hundertprozentigen Versorgung des westeuropäischen/nordamerikanischen Marktes.

Auszug; Website von DESIREFREE Global, Rubrik: Historisches – ein kritischer Blick von unabhängigen Geschichtswissenschaftlern.

Professional losing – Verlieren als Lebenskonzept (Poetry Slam – Finalrunde)

Diesen Artikel drucken 4. November 2007

Diesen Text habe ich im Finale gelesen.
Allzu oft wird es als selbstverständlich angesehen – dabei ist es gar nicht so einfach, wie es aussieht: Verlieren.

Nur wenigen ist bekannt, dass man das auch professionell betreiben kann, und ich möchte die knappe Zeit einmal nutzen, um eine kurze Einführung zu liefern.

Natürlich hat jeder schon einmal irgendwann verloren. Mancher Amateur empfindet sich gar als ‚Loser‘ – aber mit der professionellen Variante, mit dem Lebenskonzept Niederlage hat das meist noch wenig zu tun. Zum Profi-Loser braucht es eine Menge Disziplin, Stärke und manchmal auch Durchsetzungsvermögen. Doch die Anstrengung lohnt sich; in die tiefsten Tiefen des Selbstmitleids werden nur diejenigen finden, die trainieren, trainieren und nochmal trainieren. Für die Einsteiger hier einige kurze Hinweise für die ersten Schritte als Profi-Verlierer:

Punkt 1: Nimm das Endergebnis vorweg!

Der mit Abstand wichtigste Ratschlag; Bevor du irgendetwas anfängst, egal ob beruflich oder privat, musst du dir absolut sicher sein, dass du eine vernichtende Niederlage erleiden wirst.

Lass keinen positiven Gedanken zu; Es kann nicht funktionieren – nur dann wird es auch nicht funktionieren.

Punkt 2: Stürze dich nicht in jedes sinnlose Abenteuer!

Gerade Amateure machen den Fehler, sich in zu viele haarsträubende Unternehmungen auf einmal zu stürzen. Das Problem; statistisch gesehen muss man nur genügend aussichtslose Abenteuer beginnen, bis eines gelingt. Das ist natürlich kontraproduktiv. Also: Wähl genau aus, was du tun möchtest!

Punkt 3: Du bist selbst schuld!

Nur Amateure berufen sich darauf, dass die anderen böse sind und die Welt schlecht ist. Profis geben sich an jedem Fehlschlag selbst die Schuld. Mach dich fertig! Trainier vor dem Spiegel, bis du weinst – und dann trainier dir die Tränen ab. Du brauchst sie vor Fremden.

Punkt 4: Es geht gar nicht anders!

Schlag dir die Illusion aus dem Kopf, es gäbe freie Entscheidungen – denn es gibt keine, zumindest für dich nicht. Du musstest in der Klausur durchfallen, du konntest nur krank werden, du musstest dich betrinken; lass dir nie eine Wahl. Du bist nicht frei; mach das deiner Umwelt klar. Und sieh auf keinen Fall ein, dass das Punkt 3. widerspricht – das tut es nämlich nicht.

Punkt 5: Wenn du auf eins von zwei Pferden setzen sollst – setze auf gar keins!

Nichts liefert dem professional losing mehr Vorschub als nicht zu handeln; das solltest du dir merken. Vermeide es, Probleme anzusprechen oder gar aufzulösen. Warte einfach, bis sie dir nach Jahren um die Ohren fliegen; sicherer geht es gar nicht.

Punkt 6: Trage vereinzelte Erfolge mit Fassung!

Selbst dem besten kann es mal passieren – aus irgendeinem glücklichen Zufall heraus klappt etwas. Auch der Profi ist davor nicht gefeit. Wichtig dabei; bewahre Haltung! Wenn du es geschickt anstellst, kannst du jeden zufälligen Erfolg in eine totale Niederlage umdeuten. Das ist gar nicht so schwer. Beispiele gefällig? „Die Note hatte ich überhaupt nicht verdient!“ oder auch „Das war reiner Zufall!“, im Privaten auch gerne „Jetzt bin ich zwar mit ihr zusammen, aber das will ich ja auch nicht!“. Wer sich an solche Sätze hält, der kann sogar mit Erfolgen umgehen.

Beherzige diese sechs goldenen Regeln – dann steht einer Profikarriere wirklich nichts mehr im Weg.

Die Stadt und ihr Untergang (Poetry Slam – Vorrunde)

Diesen Artikel drucken 4. November 2007

Diesen Text habe ich anlässlich des Poetry Slams am 3.11. gelesen. Es handelt sich um eine gekürzte Variante eines längeren Textes, den ich später fertigstellen werde. Übrigens bin ich unter den zehn Teilnehmern der Vorrunde auf Platz drei gekommen. In der Finalrunde mit den drei Erstplatzierten habe ich dann (zusammen mit Dominik Bartels) einen guten zweiten Platz gemacht.

Das Ende war so leise in den kleinen Ort gekommen, dass die meisten es ignorierten, bis das Fernsehbild ausfiel. Begonnen hatte es mit verstörenden Meldungen, die mit der Zeit nicht klarer wurden, sondern immer bruchstückhafter, bis sie sich schließlich widersprachen. Der Physiklehrer der Oberschule im Ort hatte im eilig zusammengerufenen Stadtrat versucht, sie zu deuten, und hatte etwas von thermonuklearen Reaktionen und der Atmosphäre gemurmelt. Die anderen Anwesenden hatten artig genickt und kein Wort verstanden. Natürlich wusste auch der Lehrer nicht, wovon er da genau sprach, aber er war der einzige Physiklehrer im Ort und fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich.
Kurz danach war das Fernsehbild ganz verschwunden. Aber auch diesen seltsamen Moment sah kaum jemand in dem kleinen Ort. Der Stadtrat hatte beschlossen, dass dieser außergewöhnlichen Lage nur eins zu entgegnen war: Normalität. Und so befand sich mehr als die Hälfte der Einwohner auf dem Schützenfest, dass man zu diesem Zwecke um fast eine Woche vorverlegt hatte. Das hatte den Zorn der Schützen erregt, aber unter dem Druck der Situation hatten sie schließlich eingewilligt.
Es war am darauf folgenden Sonntag, kurz nachdem auch das Radioprogramm seine Hiobsbotschaften eingestellt hatte, als der ortsansässige Pfarrer zum ersten Mal von der Apokalypse sprach. Nicht viele im Ort waren religiös, aber doch immer noch genug, um gerade angesichts der Situation einen angemessenen Gottesdienst abzuhalten.
Natürlich hatten sich schon viele im Ort darüber ihre Gedanken gemacht, sofern ihre Arbeit dies zuließ: Nicht zuletzt das stille, beständige Aufflackern des Horizonts während der Feierlichkeiten hatte bei vielen einen gewissen Eindruck hinterlassen. Auch kamen seit einigen Tagen keine Autos mehr über die nahe gelegene Bundesstraße in die Stadt, und diejenigen, die hinaus gefahren waren, waren nicht wieder gekommen. Der letzte Bus, der die Stadt erreicht hatte, war voller Verletzter gewesen, und selbst der oberflächlich kaum verletzte Busfahrer war nicht zu mehr als bloßem Gestammel fähig gewesen. All dies zusammen also hatte bei den meisten Einwohnern einige sehr elementare Überlegungen ausgelöst.
Dennoch ging ein obligatorisches Raunen durch den kleinen Kirchensaal, als der Pfarrer zum ersten Mal offen vom Ende der Welt sprach. Er tat es in der wohl gewählten Weise, die ein Pfarrer nun mal beherrschte, und die meisten Anwesenden sahen sich unsicher an oder nickten.
Auch dem Pfarrer war dieses Thema nicht geheuer, und so kam er etwas holprig auf die Wichtigkeit einer gewissen Ordnung und die weitgehende wirtschaftliche Unabhängigkeit einer Kleinstadt zu sprechen.
Nachdem er gesprochen hatte, verließen alle zügig die Kirche und begaben sich schweigend nach Hause.
In der Woche danach hörten die Blitze am Horizont plötzlich auf. Am Tag darauf kam der Sand.
Selbstverständlich war auch das dem Physiklehrer des Ortes unerklärlich, aber in inzwischen routinierter Weise erklärte er dem Stadtrat genau das, was eigentlich jeder sehen konnte: Der Sand kam. Es war ein hell-gelbliches, kleinkörniges Granulat (so hatte es der Lehrer bezeichnet), dass innerhalb von wenigen Dutzend Stunden das gesamte Umland bedeckte. Man entschied sich, einige Hilfskräfte zum Abtragen des Sandes an den Stadtgrenzen einzusetzen; die lokale Arbeitsvermittlung wurde damit beauftragt und brachte so, wie man in der lokalen Zeitung schrieb, drei Menschen in Lohn und Brot, die zuvor als Arbeitslose ein tristes Dasein geführt hatten. Zwei weitere wurden dazu abgestellt, ein örtliches Großlager freizuhalten, denn man hatte sich dafür entschieden, die dort gelagerten Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Zwar war bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Knappheit zu befürchten gewesen, dennoch wollte man lieber sicher gehen und gab so schweren Herzens der Enteignung des Lagers statt. Auch hatte sich der Rat darauf verständigt, eine generelle Ausgangssperre zu verhängen, was das Verlassen der Stadt anging; man hielt es für das beste, derartigen Exkursionen vorzubeugen.
Die meisten Menschen gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und selbst am toten Bahnhof der Stadt lungerten dieselben Jugendlichen herum, wenn sie schwänzten; allerdings waren es seit dem Untergang mehr geworden. Meist saßen sie herum und tranken Bier, dass ihnen der Betreiber der Tankstelle verkaufte.
Dort tankten nicht mehr so viele Menschen wie vor der Apokalypse, aber es waren noch genug, um den Tankwart zu ernähren; natürlich waren etliche Personen, allen voran die Frau des Pfarrers und die des einzigen Buchhändlers, von der Lage am Bahnhof entrüstet, insbesondere auch vom dortigen Bierkonsum. Aber das war schon zuvor so gewesen, und so scherte sich auch niemand darum; es war das übliche Tagesgespräch, mehr nicht.
Anderen Geschäftszweigen dagegen ging es besser als vor dem Untergang. Man hatte die Lokalzeitung schon auflösen wollen, doch dann bemerkte man, dass sich die Zeitung besser als zuvor verkaufte. Zwar konnte man keine Agenturmeldungen mehr abschreiben, aber dafür war es nun leichter, das Bedürfnis der Leser nach lokalen Nachrichten zu befriedigen. Und so hatte sich Auflage des Blattes fast verdoppelt, während die Zahl der Seiten von 20 auf immerhin noch fünf geschrumpft war. Zunächst hatte man noch überlegt, alte Ausgaben der Klatschspalte anzuhängen, aber das Interesse an Tratsch beschränkte sich offenkundig nun auf die Stadt. Den größten Absatz fand in den ersten Wochen die Ausgabe mit dem Aufhänger “Satellit stürzt auf Stadt!”, denn tatsächlich stürzte, einige Tage nachdem der Sand gekommen war, ein Objekt von der Größe eines Wohnwagens kurz vor der Stadt brennend nieder. Der Artikel war insofern historisch, als dass er der erste war, der nicht mehr den Namen des Ortes im Titel trug, sondern schlicht nur noch von ‘der Stadt’ sprach; den Lesern fiel es nicht auf, in ihrem Sprachgebrauch war es nie anders gewesen.
Ganz entgegen der allgemeinen Vorurteile brach in keinster Weise Chaos aus. Es dauerte nur wenige Wochen, bis alle Begriffe für das, was früher ‚außen’ gewesen war, verschwanden: wirklich wichtig war das nie gewesen, und jetzt war da draußen wirklich nur noch der Sand, so weit man das beurteilen konnte.
Das Leben in der kleinen Stadt blieb, wie es war. Die wenigen, die die Welt nach der Apokalypse nicht ertrugen, brachten sich nach und nach um oder liefen in die Wüste, die vor der Stadt begann; viele waren es nicht. Die meisten lebten exakt das Leben weiter, dass sie auch geführt hatten, bevor die Welt draußen untergegangen war. Wer Arbeit hatte oder arbeiten musste, der arbeitete. Wer keine Arbeit hatte, der bemühte sich um welche, trank oder tat, wonach ihm sonst der Sinn stand. Die Lagerhalle, die von der Stadt okkupiert worden war, war schlicht riesig; Auch auf lange Sicht würde niemand verhungern müssen.
Abends sah man dann wieder fern. Es gab zwar kein aktuelles Programm mehr, aber letztlich war ja auch das immer eine endlose Wiederholung gewesen; also tauschte man Videoaufzeichnungen alter Sendungen aus, und außerdem war da ja auch noch die Videothek am Stadtrand.
Natürlich sahen nicht alle fern; einige, darunter auch die Frau des Pfarrers und des Buchhändlers trafen sich in kleinen Gruppen und sprachen über das, was sie für tiefsinnig hielten, lasen, sahen sich alte Vorführungen an.
Sie waren interessanterweise die ersten, die der Apokalypse etwas Positives abgewinnen konnten. Schon zwei Wochen nach dem Ausfall des Fernsehbilds saßen sie beisammen und stellten leise flüsternd fest, dass ihrer Heimstadt jetzt endlich die Bedeutung zukam, die ihr schon immer gebührte.

Droge

Diesen Artikel drucken 26. Oktober 2007

Wir sind süchtig. Weil wir Menschen sind. Man kann es drehen und wenden, wie man will; wir sind süchtig, nach jeder Form dieses Stoffes. Vielfach reden wir uns ein, es sei keine Droge, sei nur Ausdruck des Mensch-Seins an sich. Aber wer könnte das mit Sicherheit sagen; für die meisten legalen Drogen haben wir letztlich einen rein virtuellen Raum aus Zwecken und Rechtfertigungen konstruiert. Alkohol ist ein gesellschaftliches Stilmittel, Nikotin die eigentliche Waffe des Cowboys.
Die Sucht nach dieser anderen Substanz freilich ist leichter zu befriedigen, und obwohl sie viel später legalisiert wurde als andere – kaum 150, 200 Jahre ist es her – scheint uns ihre Rolle als Droge seltsam unvertraut. Sicher hat das auch damit zu tun, dass ihre Befriedigung soviel einfacher ist; zumeist kostet sie kein Geld, und oft reicht schon ein Telefon, um sich eine geringe Dosis zu verabreichen. Dennoch ist es wie mit allen Drogen. Die meisten Menschen arrangieren sich mit ihr, nehmen hin und wieder etwas, können damit umgehen und akzeptieren sie als Lebens-Mittel, als etwas, dass man manchmal braucht, von dem aber zuviel nie gut sei kann.
Andere dagegen, wenige, schaffen das nicht. Sie schreien nach immer höheren Dosen, immer aufregenderen Trips, immer größeren Abenteuern. Morgens erwachen sie dann verkatert, ausgebrannt, leer, stehen auf und suchen nach dem nächsten Schuss. Sie sind es auch, die – wie alle Junkies – daran zu Grunde gehen. Daran ist alles verkehrt, oder gar nichts; es ist eine Frage der Perspektive. Wie alle psychoaktiven Substanzen hat auch diese sicher Tausende von Schriftstellern, Musikern, Bildhauern inspiriert; die größten von ihnen waren sicher unkontrollierte, gefährliche Abhängige, die stetig nur nach dem nächsten Kick gierten, und so beschrieben sie uns auch genau solche Menschen; Junkies, Verlorene wie Werther oder Luise Miller, die sich im Rausch zu Grunde richten.
Wie alle Drogensüchtigen, die keine Kontrolle mehr haben, stellen auch diese eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Da gibt es die Beschaffungskriminalität, das klassische Eifersuchtsdrama etwa. Ein guter Teil aller Morde geschieht in diesem Zusammenhang. Und es gibt die Selbstmorde, die psychischen Erkrankungen. Die meisten Amokläufe der jüngsten Zeit haben zumindest indirekt mit der Droge zu tun; nicht, dass sie sie ausgelöst hätte, aber sie trug sicher dazu bei.
Viele Aussteiger versuchen sich den Stoff mit anderen Drogen zu entziehen, aber auch das scheitert – selbstverständlich – meist kläglich. Statistisch gesehen erhöht sich so etwa die Wahrscheinlichkeit, dem Alkohol zu verfallen, nach einer Scheidung signifikant; wer die eine Droge nicht mehr bekommt, steigt auf eine andere um. Riesige Therapiezentren beschäftigen Tausende von Menschen, die letztlich nur die Abhängigen behandeln sollen. Kalter Entzug, Antidepressiva gegen die Entzugssymptome, Gruppentherapie für den sozialen Austausch, Verhaltenstherapien für den möglichen Wiedereinstieg in die Gesellschaft. Das selbe Programm wie bei Heroin, Kokain und LSD.
Dabei ist die Rückfallquote dennoch höher als bei diesen konventionellen Substanzen. Wer auf Heroin war, muss seine Umgebung verändern, seine Freunde wechseln, sich von den Versuchungen fernhalten, neu anfangen; dann hat er eine Chance.
Wer einmal an dieser anderen Droge hing, dem reicht das alles nicht. Solange er sich nicht allein auf eine einsame Insel begibt, ist er in Gefahr – selbst in Therapie. Beim Einkaufen, im Kino, bei der Arbeit, überall reicht vielleicht ein Blick oder einige flüchtige Sätze, um die Verlockung wieder aufschäumen zu lassen. Dann ist der Rückfall vorprogrammiert, oder zumindest naheliegend.
Sicher ist es diese ansonsten kaum zu findende Schwerstabhängigkeit, die die Menschen dazu motivierte, ihr den Decknamen einer simplen menschlichen Emotion zu geben, einem Teil des Mensch-Seins an sich. Vielleicht ist sie das sogar, vielleicht macht sie uns zu Menschen, diese Abhängigkeit. Aber – wer könnte das schon mit Sicherheit sagen?