Der Traum und die Anderen

geschrieben am 14. Januar 2010 um 14:20 Uhr

Es war bereits zehn nach fünf, als er zum ersten Mal an diesem Abend – oder besser Morgen – die Zeit fand, eine kleine Pause zu machen. Das war nichts Ungewöhnliches an einem Freitag; der Laden war meist völlig überfüllt, und da er der einzige war, der an der hinteren Theke bediente, hatte er meist alle Hände voll zu tun. Er schenkte aus, kassierte, nahm die nächste Bestellung entgegen, ununterbrochen; es war anstrengend, zumal es in der Nähe der Tanzfläche so heiß war, dass manchmal Kondenswasser von der Decke tropfte.
Jetzt, um zehn nach fünf, lichtete sich die Tanzfläche langsam. Diejenigen, die schon den ganzen Abend bei ihm bestellt hatten, waren entweder auf dem Weg nach Hause oder hatten genug. 30 oder 40 Leute tanzten noch; er kannte einige vom Sehen. Manche schienen direkt von der Spätschicht hierher zu kommen, um noch einige Stunden zu tanzen, bevor sie erschöpft ins Bett fielen. Der Laden schloss in der Regel erst um 7 oder 8; offiziell war natürlich um halb 6 Schluss, aber damit nahm es sein Chef nicht so genau.
Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen Hocker, der am Rand der Theke stand. Einen Moment lang schweifte sein Blick über die Tanzenden, versuchte sich an den Namen des Lieds zu erinnern, das gerade gespielt wurde; jemand sang von der Kürze des Lebens und davon, wie sehr uns die Zeit fehlt, den Anderen zu finden. Dann sah er das Buch.

Es lag zwischen Wand und Theke: Wenn die Wände nicht aus spiegelndem Glas gewesen wären, hätte er es gar nicht entdecken können. Es fiel ihm auf, weil es hier sonst keine Bücher gab; wer würde hier schon lesen wollen? Und doch lag dort, versteckt in der Ecke des hölzernen Bartisches ein Buch. Das heißt, eigentlich war es weniger ein Buch als vielmehr eine Broschüre, ein kleines Heft, nur mit Stahlzwecken gebunden: er griff danach und versuchte, den Titel zu lesen, „Der Traum und die Anderen: Eine Warnung“ stand da, auf dünnem Kopierpapier. Er neigte sich ein wenig, so dass die Lampe über der Kasse das Papier etwas erhellte, und legte die Zigarette weg. Es war kein Autor angegeben; in seiner ganzen Ausführung wirkte das Buch auch eher so, als ob es in Heimarbeit erstellt worden wäre. Er sah zu den Gäste, vergewisserte sich, dass er noch Zeit hatte, dann schlug er um.

„Das luzide Träumen ist eine seit Jahrtausenden verwandte Technik, die das bewusste Durchleben und Steuern von Träumen ermöglicht. Viel ist darüber geschrieben worden, auch über spezifische Methoden des Luziden Träumens. Wir werden daher nicht näher auf die Frage eingehen, wie der luzide Traum zu erreichen ist und verweisen stattdessen auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema. In diesem Buch soll es daher um etwas anderes gehen: Wir wollen auf eine Gefahr des luziden Träumens, möglicherweise des Träumens selbst hinweisen. Unsere Botschaft lautet: Wir sind nicht allein im Traum. Dies mag seltsam klingen, gleichsam sicher auch unglaubwürdig, aber es ist die Wahrheit. Einen Beweis kann jedoch nur ein jeder für sich selbst erbringen, und zu diesem Zweck sind Kenntnisse über das luzide Träumen nötig, aber nichts darüber hinaus, abgesehen von einem großen Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter).“

Er blickte auf und sah den Kunden, knickte das Heft und nahm seine gelallte Bestellung entgegen. Geistesabwesend nahm er das Geld, gab zu wenig heraus (aber das bemerkte er erst später) und zapfte ein Bier. Als der Mann gegangen war, wand er sich wieder dem seltsamen Büchlein zu; es war seit langem das interessanteste Objekt, dass er hier gefunden hatte. Natürlich verloren hier viele Menschen das ein oder andere, manchmal sogar Handys oder persönliche Kalender, aber dieses Buch erschien ihm wesentlich spannender, auch wenn er kein Wort glaubte von dem, was darin stand:

„Es sind keine großen Erfahrungen mit dem luziden Traum erforderlich: Erfahrene Anwender können jede Änderung, ja den Traum selbst frei gestalten. Dafür ist einiges Training nötig, doch diese Fähigkeiten sind hier nicht von Belang. Es reicht, wenn sie sich eine der Basismethoden des Luziden Träumens zu eigen machen, so etwa WILD (Wake-Initiation of Lucid Dreams). Von Vorteil ist es, wenn sie diese oder eine der anderen existierenden Methoden einige Male ausprobieren, bevor sie mit dieser Anleitung fortfahren.“

Er blätterte um.

„Nachdem sie sich mit einer Methode vertraut gemacht haben, können sie nun die Anderen treffen. Sollte sich ihr Bett in der Nähe einer Wand oder an einer Wand befinden, so verrücken sie es so, dass es in der Mitte des Raumes steht. Stellen sie den Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter) frontal vor das Fußende ihres Bettes und merken sie sich die Zahl der Schritte, die er vom Bett entfernt ist: Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass sie während des Einschlafvorgangs Sicht auf den Spiegel haben. Versuchen sie nun, einzuschlafen. Fixieren sie dabei immer wieder geistig den Spiegel. Machen sie sich jederzeit klar, dass der Spiegel existiert! Halten sie sich bewusst, wie viele Schritte er vom Bett entfernt ist! Gleiten sie in den Zustand des Träumens hinüber.“

Es war die vorletzte Seite des Buches gewesen; die letzte war fast leer.

„Sind sie sicher, dass sie träumen? Dann treten sie zurück durch den Spiegel!“

Die letzten Gäste gingen schneller, als er es erwartet hatte, und so war es bereits um sieben zu Hause. Das Buch hatte er mitgenommen, zum einen, weil es eine originelle „Trophäe“ war, zum anderen, weil er einige Schlagwörter daraus (wie etwa den „luziden Traum“) doch einmal heraussuchen wollte, um zu sehen, ob es wirklich rein ersponnene waren. Google und sogar die Wikipedia kannten den Luziden Traum, stellte er zu seiner Überraschung fest; er war, wie gewöhnlich zu dieser Stunde, zwar müde, aber auch etwas überdreht, und so überflog er fünf oder sechs Artikel darüber und fand sogar die WILD-Methode, die in seinem Büchlein genannt worden war. Von den mysteriösen Anderen aber las er nirgendwo etwas.

Es war schon halb neun, als er seinen Computer wieder ausschaltete. Er stand auf, ging durch den Flur in die Küche, um noch einen Schluck Wasser zu trinken: Da fiel ihm der Spiegel neben der Garderobe ins Auge. Er hatte ihn geschenkt bekommen, ein Nachbar hatte ihn wohl wegwerfen wollen. In dem kleinen Flur wirkte er immer etwas deplatziert, aber er hatte sich nie dazu durchringen können, ihn wegzuwerfen. Er war riesig und ging fast bis zur Decke, die immerhin fast drei Meter hoch war: An einer Ecke hatte er einen kleinen Riss, aber sonst war er völlig intakt.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er davor stehen und sah sein eigenes Spiegelbild grinsen. Was konnte es schaden? Die Artikel über das Luzide Träumen hatten ihn neugierig gemacht. Angeblich konnten trainierte Träumer in ihren eigenen Träumen fliegen und vieles mehr; er wollte es ausprobieren.

Der Spiegel war nicht so schwer, wie er es erwartet hatte, und so hatte er kaum Mühe, ihn aus dem Flur ins Schlafzimmer zu wuchten. Er schob die Unterlagen, die sich im Zimmer auf dem Boden verteilten, in eine Ecke, und lehnte den Spiegel an die Wand. Dann schob er das Bett über das protestierende Laminat hinweg in die Mitte des Raumes, so dass es genau drei Schritte davor stand. Er zog sich um und stellte fest,  dass ihn die Anstrengung doch müde gemacht hatte; es würde nicht schwer werden, einzuschlafen.

Die WILD-Methode, so hatte er gelesen, war im Prinzip sehr simpel. Im wesentlichen ging es darum, das Bewusstsein solange wach zu halten, bis der Körper und andere Teile des Gehirns schliefen – dann wechselte man in den Traum, ohne dabei selbst zu schlafen. Er versuchte es; einige Male bemerkte er gerade noch rechtzeitig, wie seine Aufmerksamkeit floh und seine Gedanken verschwanden. Am Anfang versuchte er noch, sich auf einen bestimmten Gedanken, eine bestimmte Sache so sehr zu konzentrieren, dass er nicht wegdämmerte, aber nach einigen Versuchen begriff er, dass es viel einfacher war, die eigene Aufmerksamkeit immer wieder auf neue Dinge zu richten. Eine Zeit lang versuchte er, jeden Gedanken im Geiste auszuformulieren, und jedes Mal dann, wenn er eine bestimmtes Wort dachte, einen neuen Gedanken zu fassen: er wusste nicht, wie lange er das tat, und als er bemerkte, dass auch dieses Spiel ermüdend wurde, fuhr er damit fort und wechselte das Wort selbst, auf welches hin er den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ändern wollte, wiederum auf ein anderes Wort hin, und so weiter und so fort, bis er eine fast unaussprechliche Verschachtelung dieses Spiels dachte oder spielte. Er war es fast leid, als er plötzlich feststellte, dass die Welt hinter seinen Lidern nicht mehr dunkel war.

„Das Wasser ist nicht tief. Du kannst darin schwimmen, es wird dich tragen.“, sagte ein alter Mann, der wie ein verlorener Kieselstein auf dem Strand saß und dabei an ihm vorbei blickte. Er erkannte den Mann als jemanden, den er als Kind einmal hatte Angeln sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er auch den Strand; es war der Strand, an dem er zwei oder drei Urlaube verbracht hatte. Bei genauerer Betrachtung wurde ihm klar, dass es nicht exakt dieser Strand war. Es war eine gewissermaßen geträumte, irgendwie verdunkelte Variante des Strandes in seiner Erinnerung; es gab Sand, es gab das Meer. Es gab die Brücke, einige Hundert Meter entfernt, und sogar einige Strandkörbe waren dort: aber irgendwie schien alles abgedunkelt, als wäre es Nacht, obwohl doch heller Tag war. Selbst die Wellen schienen zu schlafen, denn sie machten kein Geräusch, wenn sie auf den Strand prallten. „Das Wasser ist nicht tief“, sagte der Mann noch einmal, als hätte man ihn nicht richtig verstanden. Etwas trieb ihn ins Wasser; er wollte, musste schwimmen. Kontrolle, dachte er, die Kontrolle war nicht vollständig. Er konnte bewusst zusehen, aber es war schwer, die Handlung zu beeinflussen. Drei Schritte, es waren nur drei Schritte: Der Spiegel. Er sah auf seine Füße und versuchte, sich auf die Bewegung zu konzentrieren. Einen Schritt machte er nach vorne: es funktionierte. Ein zweiter. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, von dem er nicht wusste, ob er ihn hatte, oder ob es jemand anders war, der ihm den Gedanken einflüsterte: Hinter dem Spiegel. Du bist hinter dem Spiegel. Nicht vorwärts: rückwärts! Es war überraschend schwer, der Anweisung zu folgen, und doch setzte er langsam einen Fuß vor oder besser: hinter den anderen. Ein Schritt, ein zweiter, ein dritter. Der alte Mann saß immer noch im Sand und schien ihn gleichgültig zu beobachten. Der vierte Schritt: Nur noch einer, der schwierigste, der entscheidende. Er blickte auf seine Füße und sah, wie sein Bein sich hob, ein Ruck, dann hörte er ein Geräusch in der Stille des Strandes, als ob man mit den Fingern gegen eine Glasscheibe – eine Spiegelscheibe – schnippen würde.

Er hob den Kopf: Der alte Mann war noch da, der Sand war noch da, die Brücke, das Meer, die Strandkörbe. Doch etwas war anders: der Strand war nicht länger leer. In den Körben saßen dunkle Gestalten, die ihn beobachteten: einige von ihnen standen auch auf der Brücke, manche schienen Ferngläser zu halten. Auch im Sand, den ganzen Strand entlang saßen, standen oder lagen die Männer in ihrer schwarzen Kleidung. Selbst auf der nahen Sandbank, an die er zuvor überhaupt nicht gedacht hatte, sah er einige von ihnen. Zwei standen direkt neben dem alten Angler und schienen flüsternd etwas zu erzählen; vier oder fünf standen ihm selbst so nahe, dass er ihre Gesichter erkennen konnte, ununterscheidbare, pergamentartige Züge, mit tiefen Rillen und Furchen. Sie waren viel größer als er selbst, vielleicht 1,90, vielleicht sogar etwas größer. Ihr Alter konnte er nicht schätzen; sie sahen sowohl jung als auch alt aus, und wenn ihr Gesicht etwas ausdrückte, dann war es eine schwere, lang anhaltende Anstrengung. Der, der ihm am nächsten stand, wand seinen Kopf plötzlich: „Der Träumer sieht uns.“, sagte er überrascht, und so etwas wie Erschrecken schien sich darin wiederzufinden.

Tritt zurück, dachte er, du stehst im Spiegel, tritt einfach zurück und erwache. Er machte einen Schritt und fand sich in seinem Bett wieder, doch es war nicht still und friedlich, wie er es erwartet hatte; Dutzende Leute schienen durcheinander zu sprechen. Er sprang auf und fand sich in einem Gemenge, einem wirren Haufen von schwarzen Ärmeln, schwarzen Hosenbeinen und düsteren Gesichtern wieder, „Er gehört zu den anderen!“ riefen sie, „Macht euch bereit!“, „Ladet die Waffen!“, er wühlte sich durch den Haufen, und der machte Platz, schien von ihm weichen zu wollen wie er von ihm, er versuchte die Schritte zur Tür zu finden, doch es waren zu viele im Raum, die sich dazu noch umeinander und aneinander vorbei schoben, „Auf mein Kommando!“, brüllten zwei, „Bajonette aufpflanzen!“ andere, „Bewahrt die Ruhe, bewahrt die Ruhe!“, die Spannung schien zu einem hörbaren, greifbaren Surren zu werden, während er sich wie die Anderen auch verloren durch das Gemenge kämpfte, mal hier anstieß, mal dort, und schließlich hörte er,

Left to no one
No Space
No time,

Und erkannte seine eigene Stimme, die mühsam die Töne haltend sang, während die Anderen im Chor antworteten,

I’m not to find you,
But if there was just a second,
I would try,
I would try.

Die Männer und er wiederholten den Gesang, immer wieder, und dabei standen sie alle still, konzentrierten sich auf jeden Ton: ihre Stimmen ergänzten seine, und er gab ihnen die Worte, wo sie ihnen fehlten. Das Surren war verschwunden, und in den Augen der Anderen sah er so etwas wie eine friedliche Übereinstimmung. Als sie das Lied einige Male gesungen hatten, begannen sie sich zu der Musik zu bewegen, betont langsam, wohl auch um ihn nicht zu erschrecken, nur um die Anspannung zu lösen, und schließlich wiegten sich alle leise im Takt der Musik. Schließlich hörte einer von ihnen auf zu singen, trat langsam und vorsichtig an ihn heran, ergriff ihn an der Schulter und sagte: „Du bist keiner von uns. Geh lieber in den Flur, dort ist es sicherer.“ Sie ließen ihn zur Tür durch, er ging hinaus, zog den Hocker heran und setzte sich. Die Männer hörten nicht auf zu singen und zu tanzen, im Gegenteil, jetzt, wo der Fremdkörper zwischen ihnen entfernt war, schienen sie mutiger zu werden, und sie bewegten sich schnell und geschickt, nie stießen sie aneinander. Er sah ihnen zu bei ihrem Tanz; dann griff er zu dem Aschenbecher und nahm die Zigarette, die er dort abgelegt hatte. Als er wieder hinblickte, erkannte er plötzlich einige der Männer: sie kamen wohl nach der Spätschicht direkt hierher, um noch einige Stunden zu tanzen. Er blickte auf die glimmende Glut; Wann hatte er sich diese Zigarette angezündet? Plötzlich stand jemand vor der Bar und verlangte lautstark ein Weißbier.
Es dauerte eine Weile, bis er reagierte, dann jedoch tat er, was von ihm verlangt wurde. Es war zwanzig nach fünf; immer noch tanzten dreißig oder vierzig Menschen nur einige Meter entfernt. Er suchte nach dem Büchlein, fand es aber nirgendwo; schließlich blickte er in die Ecke, in der er es gefunden hatte. Einen Moment lang glaubte er, es in der Spiegelwand zu sehen. Doch vor dem Spiegel lag kein Buch.

Avatar ∞

geschrieben am 7. Dezember 2009 um 02:43 Uhr

In einem Moment
Betrachtete er

die elektronische Oberfläche eines einfachen Moleküls, das am Rande eines Protosterns frei durch den Raum glitt
den Kampf zweier Schlangenwesen auf einem Planeten, der zwischen zwei roten Riesen zerrieben wurde
das Wesen einiger Dutzend emotionaler Zustände einer primitiven Spezies, die auf zwei Beinen lief
und vieles mehr

In diesem einen Moment

verschob er 241 Sterne in der Nähe der zentralen Anomalie, so dass ihre Anordnung in stabile Bahnen überging
schuf er eine neue Spezies reptilienartiger Sechsfüßer, deren Proportionen den Fibonacci-Zahlen entsprachen
ruhte er in der Tiefe eines Plasmasees und hörte das Rauschen von ionisiertem Helium

In einem Augenblick
Erinnerte er sich

an die Femtosekunden und Jahrtausende seiner Existenz
an das fremd gewordene Gefühl von Heimweh
an den winzigen blauen Ball, von dem er stammte

Und tanzte

zwischen diesen, jenen, allen Sternen
in der komplexen Ebene
und im Sonnenwind

In diesem einen Moment

dachte er alle Primzahlen mit Ausnahme der Zwei
berechnete er das Ende des Universums und was danach käme
stellte er die Frage nach dem Sinn seiner Existenz,
gab alle Antworten

und verwarf jede einzelne.


Inspiriert von der Figur ‚Doctor Manhattan‘ und Avatar.

Klein Pāradies

geschrieben am 25. November 2009 um 12:28 Uhr

Eine Welle schwappt an den Strand, trägt kein Korn davon, fügt kein Gramm hinzu. Die Wellen kommen und gehen nicht – sie bleiben.

Du siehst hinunter auf den Tisch, siehst das mühevoll zubereitete Essen, das schöne Porzellan, die feinen Gläser. Du siehst auch die Gäste, allesamt Verwandte, Freunde. Und alle zusammen sind sie so – mühelos unbeschwert. Und ja;

Solltet ihr nicht glücklich sein? Könnte es nicht schlimmer sein? Könnte es nicht Krieg sein – könnte es nicht Hass sein?

Nein, nicht Krieg, nicht Hass. Nur Sand. Du weißt, unter den Tellern, unter den Gläsern, unter dem Tischtusch da ist der Sand; warm, weich, jedes Korn so weiß, so weiß, dass es schon fast weh tut – aber nicht weiß genug. Weiß, aber nicht zu weiß, warm aber nicht zu warm, strahlend aber nicht zu strahlend. Könnte es nicht viel schlimmer sein? Nein.

Du legst dich nieder in den Sand, hörst die immer gleiche Welle plätschern. Sie streicht über den Sand, verliert ihn wieder.

Weit hinten siehst du ein Boot, ein kleines Ruderboot. Es schwankt von links nach rechts, von rechts nach links.

Du könntest, ja du könntest damit fahren; nicht weit, einige Meter nur. Und dann würdest du zurückwollen und dich matt ins Wasser gleiten lassen. Zurückschwimmen; Schwimmen durch klares Wasser, warm wie der Sand. Durch kleine und große Wellen, kleine ,aber nicht zu kleine, große, aber nicht zu große Wellen. Schließlich lägst du wieder hier; im Sand. Unter einer Sonne, die dich nicht frieren lässt, aber auch nicht verbrennt. In Sand so feinkörnig und weiß und warm, in Sand der dich wärmt, der dich beschützt, der warm ist, weil er keinen Winter kennt und keine Nacht.

Du nimmst ein Stück von deinem Steak, führst die Gabel zum Mund; Oh, wie dieser Sand schmeckt, süß wie Kaugummi. Süß wie die Bonbons, die du als Kind so mochtest. Aber nicht zu süss, nicht zu fett.

Was treibt dich in diesen Sand, an diesen Strand, an dieses über und über vertraute Meer, das Meer ohne Horizont?

Was daran fasziniert, ist nicht sein Ferne; nein. Es ist seine Beständigkeit, es war schon immer da, es wird immer da sein. Du kannst es betreten, jeden Tag, jeden Mittag, jeden Abend. Es ist nie fer,n aber doch unendlich weit von dieser Welt, dieser Welt der Schwierigkeiten, weit von diesen Abgründen; diesen Dingen, die niemand will. Die du nicht willst. Dieser Strand, ja, dieser Strand, liegt dir immer zu Füßen. Du musst nur dorthin finden. Wenn du dort bist, dann legst du dich in den Sand. Du legst dich in Sand, der nie zu warm ist und nie zu kalt; du legst dich in Sand, der so warm ist, weil er keine Nacht kennt und keinen Winter.

Du kennst die Nacht; du kennst den Winter. Und deshalb bleibt er dir immer ein wenig fern, bleibt dir fremd, wie die Umarmung eines Fremden, die zwar zärtlich sein mag und auch gefühlvoll, dich aber niemals kennt; dich niemals verstehen kann, weil sie eben dich nicht kennt. Weil sie den Winter nicht kennt. Und die Nacht.

Du liegst in der Badewanne. Der Schaum ist ganz weich, das Wasser so warm und anschmiegsam. Und wieder ist es Sand: Sand, in dem du liegst an diesem Strand, der nur dir gehört. Es gibt dort keine Fernseher, kein Radio, kein Handy, auch wenn diese Dinge ein Weg zu ihm sein mögen; Es gibt dort niemanden, der dich informiert, belehrt, berät. Der dir sagt, dass diese oder jene Entscheidung notwendig ist oder wichtig. Für den Sand ist nur der Sand wichtig; dem Meer ist nur das Meer wichtig.

Und selbst wenn das Wasser immer das gleiche sein mag, und die Sandkörner, die sich so zärtlich an deinem Körper schmiegen, immer die gleichen Sandkörner sein werden: Ist es nicht richtig so? Ist es nicht dein Ort, deine Heimstatt?

Entspannt liegst du in deinem Sessel, und betrachtest flackernde farblose Bilder aus einer anderen Zeit, die es nie gab. „It will come to you, this love of the land. There’s no gettin‘ away from it.“, sagt ein Mann. Du kennst den Film, kennst sein Ende; du siehst gerne auf deinen Strand. Deine Gliedmaßen werden schläfrig, doch dein Geist reist ohne Mühe zwischen den zwei Welten, an deren einem Ende der Sand wartet. Warmer, weicher Sand. Einen Moment ist da die Fremdheit, das Wissen, dass dies nur Klein Pāradies ist; dann verschwindet jedes Gefühl. Könnte es nicht schlimmer sein? Solltest du nicht glücklich sein? Ja, es könnte schlimmer sein. Ja, du solltest glücklich sein. Dieser – dein Strand – verspricht nicht die Ewigkeit, er ist Ewigkeit.

Partner kannst du verlieren, Jobs, Freunde, Hobbies, Ziele. Der Strand wird immer das bleiben, was er ist; wird immer dort warten, wo er ist. Die Welt, ja selbst Scarletts Welt, ist nicht so weich und warm wie dein Strand. Andere mögen glauben, der Strand könne nicht der Bestimmungsort aller Leben sein. Es ist egal, denn andere gibt es an deinem Strand nicht. Nur dich, das Wasser, den Sand.

Du sitzt auf einem Stuhl in deinem Büro, blickst auf Zahlen und Daten und Aufgaben, auf viel zu wenig Zeit. Einen Moment Pause gestattest du dir, atmest tief ein und hörst das Rauschen der immer gleichen Welle. Denkst an den Strand, den du wieder betreten kannst, wenn die Uhr Sechs zeigt. Du weißt es genau: Um Sechs wirst du wieder da sein, schon auf der Autofahrt, vielleicht, wenn das Radio alte Musik spielt. Vielleicht auch schon auf dem Weg in den Fahrstuhl; die Türen werden sich öffnen, und du wirst lächeln, weil du gar nicht mehr im Lift stehst, sondern bis zu den Knien im Sand. Noch ist es nicht soweit; die Uhr zeigt Vier. Noch weißt du, dass es anderes gibt, andere Menschen, andere Ziele, andere Zwecke, anderen Schmerz. Bald wird eine Welle das Wissen davonspülen, genau wie jeden Gedanken. Als letztes wird ein bestimmter Satz verblassen, immer der gleiche.

Es gibt nur den Strand; mehr als Klein Pāradies kann man nicht erwarten.


PS: Die Notation Pāradies soll andeuten, dass die erste Silbe betont wird.
Dieser Text ist eine Niederschrift eines Improvisationsversuchs, den ich vor einigen Wochen per Mobiltelefon aufnahm. Die letzten vier Absätze habe ich nach der Abschrift hinzugefügt.

Bekenntnisse eines Wissenschaftlers

geschrieben am 16. November 2009 um 10:50 Uhr

Dies kann kein Plädoyer gegen die so genannten Wissenschaften sein: ein solches zu fertigen wäre widersprüchlich und sinnlos. Eine Anklageschrift zu fertigen ist unmöglich. Zwar sind die Verbrechen offenkundig, aber die Vorfälle sind in ihrer Vielzahl kaum zu erfassen; sogar der Anfang ist nicht leicht zu verorten. Vielleicht begann es schon mit den Griechen, vielleicht davor. Vielleicht auch viel später: Man kann es nicht so leicht einordnen. Aber man kann Beispiele angeben, unzählige Beispiele für das Gift und seine Wirkungsweise. Seht euch um: die Schulen sind voll davon, selbst die meisten Kindergärten. In den meisten ernsten Gesprächen ist es schon vorhanden, wenigstens latent. Es umgibt uns, und vielleicht ist das Grund, weshalb wir uns an seine Wirkung schon so sehr gewöhnt haben.Heiligtum
Die einfachsten seiner vielfältigen Ausprägungen beginnen meist mit Erklärungen. So erklärt man dem Kind, dass Schneeflocken nicht schweben können: sie fallen nur langsamer als andere Objekte, aber wie alle Dinge müssen sie sich der Gravitation beugen. Es gibt keine winzigen Engel und auch keine Feen, die sie sachte heben, ihnen ihre Anmut und ihren Glanz verleihen. Schneeflocken, so erklärt man es dem Jugendlichen vielleicht, sind kristalline Ansammlungen von gefrorenem Wasser, und wenn sie zur Erde zu schweben scheinen, dann ist das nur die Folge eines Kräftegleichgewichts zwischen Luftwiderstand und Gravitation. Ihr Aufleuchten im Gegenlicht ist eine rein physikalische Konsequenz, die mit den optischen Eigenschaften von Kristallen zu tun hat. Man muss nicht spitzfindig sein, um darin den Prozess zu erkennen; den eines Zerbrechens, eines Vernichtens von Vorstellungen. Andere Beispiele betreffen eher die Erwachsenen: So wird man nicht müde zu erklären, dass der Mensch das Resultat einer vom Zufall dominierten Entwicklung ist, die gemeinhin Evolution genannt wird. Die Existenz des Menschen besitzt keine auf einen Zweck ausgerichtete Berechtigung; er ist einfach nur da. Ebenso ist die Erde nicht das Zentrum des Universums, und nicht nur das, es gibt überhaupt kein Zentrum. Es gibt kein Gestirn, kein Objekt, um das sich alles dreht. Wir befinden uns am äußeren Rand einer durchschnittlichen Galaxie in einem durchschnittlichen Teil des Alls. Weiterhin, so wird erklärt, ist der Mensch im Kern eine deterministische Maschine, wie ein Dosenöffner oder eine Batterie, und bei allem, was wir tun, sind es doch nicht wir, die sich dazu entschließen, denn es gibt weder einen freien Willen noch ein Ich, für Dosenöffner und Batterien ebensowenig wie für den Menschen. Es gibt auch subtilere Varianten; kleinere, unauffällige Akte der Zerstörung. Einige dieser Manöver nennt man Statistik, andere Studie. Wie man sie auch nennen will, diese Anschläge auf unsere Träume, Wünsche und Hoffnungen, sie sind zahlreich, und nach und nach, so scheint es, weiten sie sich auf den gesamten Bereich dessen aus, was Menschen Wirklichkeit nennen wollen. Der Mensch glaubt an die göttliche Schöpfung – die Wissenschaften erklären ihm, dass es eine solche nicht gab. Der Mensch flüchtet sich in die Liebe – die Wissenschaften erklären ihm, dass es sich nur um einen chemischen Prozess handelt. Er flüchtet in den Wunsch danach, dass seine Kinder ein besseres Leben führen könnten – die Wissenschaft schärft ihm ein, dass auch die Sorge um den Nachwuchs ein alter, letztlich zufällig installierter Mechanismus ist.
Die Wissenschaften haben im Rahmen eines gigantischen Projekts über viele Hunderte Jahre hinweg systematisch Ordnung geschaffen in der Wirklichkeit; sie haben vermessen, sie haben kartografiert, sortiert, berechnet und studiert. Diese Ordnung begann vielleicht mit Dingen, die der Lebenswirklichkeit fern sind; mit den Planeten und Sternen, mit Begriffen von Glück und Moral, die wenig mit dem zu tun hatten, was der Mensch im Alltag denkt. Doch nach und nach haben Wissenschaftler, haben wir das Projekt ausgeweitet, bis es von den fernen Galaxien über das menschliche Verhalten zu den innersten Sehnsüchten, den tiefsten Wünsche der Menschen reichte.
Und, werte Kollegen, wir haben dabei Schätze gehoben und Unfassbares entdeckt; Wir haben Technologien entwickelt, den Alltag vereinfacht und Erklärungen geliefert.
Aber vor allem haben wir den Menschen ihre Vorstellungen genommen: Wir haben ihnen Erklärungen angeboten, die sie nackt in der Dunkelheit zurücklassen. Wir haben ihre Ideen, ihr kreatives Konstruieren der Welt verhindert und alles Wünschen als nutzlos entlarvt mit unseren Werkzeugen, den Zahlen und Daten und Theorien.

Wir sind Giftmischer, Verhetzer, und schuldig in allen Anklagepunkten; schuldig des Raubens von Illusionen. Schuldig des Zerstörens von Hoffnungen, der Vernichtung aller noch so bescheidenen Vorbilder.

Aber man kann uns nicht bestrafen. Warum?

Weil wir die Gerichte stellen; mehr noch, weil die Gerichte, wie wir sie heute kennen und Mittel der Gerechtigkeit nennen, unsere Idee sind. Uns gehört die Gerechtigkeit genau wie die Rechtfertigung. Kein Herrscher, kein Mächtiger kann sich auf Dauer unserem Wirken entziehen. Sie können einige von uns töten, sie können viele von uns einsperren; aber früher oder später werden sie den Verlockungen erliegen, den Kühlschränken, dem Breitbandanschluss, der Interkontinentalrakete.
Wenn die Menschen es wollten, dann könnten sie unsere Richter stürzen. Sie könnten die Gerichte abschaffen und ihre Mikrofaserkleidung ablegen: sie könnten das Auto stehenlassen und zu Fuß zu den Universitäten gehen, um sie niederzubrennen. Sie könnten, aber sie werden es niemals wollen: Und wenn sie es doch wollen, so wird das nur von kurzer Dauer sein. Am Ende zahlen sie gerne den Preis; Man mag von Macht sprechen, wenn jemand jeden Widerstand zerschlagen kann. Aber diese Autorität, die der äußeren Gewalt, kann nicht bestehen, nicht dauerhaft, denn gegen das Wollen vieler ist selbst Stein weich. Wahre Macht besitzt nicht der, der das Handeln kontrolliert. Doch wenn der Mensch den Kampf nicht wollen kann, dann wird er ihn niemals führen. Unser Preis für ihre Wünsche und Träume ist gut gewählt: sie werden das Geschäft nicht ablehnen.

Monstrum/Drei Bilder

geschrieben am 6. November 2009 um 12:05 Uhr

Was sie dort wohl tun, fragte er sich. Was sie dort wohl tun. Er zog an einer Zigarette und blickte weiter aus dem Fenster. Die Antwort auf seine Frage lag vor ihm, lag groß und mächtig vor ihm, aber er würde sie nie verstehen, verstehen können, wollen.

Was sie dort wohl tun, fragte er sich, und blickte auf die Fabrik. Sie lag nicht einmal zum Schein verborgen zwischen den Wohnhäusern. Ihre silberne, an einigen Stellen vom Rost zerfressene Haut war eine Beleidigung, ein offener Affront: zwischen ihr und der ansonsten ruhigen Wohngegend rundherum herrschte so etwas wie ein ästhetischer Krieg. Es ließ sich nicht genau bestimmen, wie hoch der ewig dampfende Schornstein war, der mitten aus dem silbernen Panzer herausragte. In der Umgebung gab es kein Gebäude, keinen Fixpunkt, der auch nur annähernd so hoch war, und deshalb schien er bis in den Himmel zu ragen wie ein übergroßer Zeigefinger.

Monstrum Viel mehr wusste niemand über die Fabrik; sie stand da, war wie eine zum Stillstand gekommene Wucherung in die Stadt gewachsen, und blieb. Er hatte die Nachbarn gefragt, um was für eine Anlage es sich handelte, aber auch sie wussten nicht mehr darüber und wollten – so schien es – auch nicht darüber sprechen. Es war so, als wüsste überhaupt niemand irgendetwas darüber. Alle kannten die Stahlhaut, den grotesken Turm, mehr nicht. Den meisten war dieser Fremdkörper ein Dorn im Auge, sicher; aber er hatte nie von offenem Protest gehört, einer Petition oder Bürgerinitiative.  Und niemandem konnte entgehen, wie sehr die Präsenz dieses seltsamen Monstrums die plangenau angelegten Straßen und Häuserblocks, die Vorgärten und Hinterhöfe rundherum zu verzerren schien; wenn man aus einem der oberen Stockwerke auf die Stadt und die Fabrik blickte, schien es so, als sei die Stadt um das Monstrum in ihrer Mitte angelegt worden, als solle jeder Weg dorthin führen.

Und dabei gab es niemanden, der dort arbeite. Das war falsch, natürlich; dort mussten Menschen arbeiten, manchmal sah er auch einige Gestalten über das Gelände huschen, und die Geräusche, die das Ungetüm selbst in der Nacht von sich gab, ließen auf unablässige menschliche Geschäftigkeit schließen. Aber niemand aus der Stadt arbeitete dort, und niemand kannte jemanden, der es tat; sie mussten von weit her kommen.

Er beobachtete, wie ein kleiner Hubschrauber am Horizont auftauchte, sah ihn auf die Fabrik zuhalten. Einige Minuten umkreiste er den stahlgrauen Zeigefinger, schien etwas zu suchen. Es war ein schwarzer, schmaler Helikopter, der höchstens für zwei Personen Platz bieten konnte, wie er glaubte:  die Scheiben waren geschwärzt, und so konnte er die Insassen nicht sehen. Er blickte auf seine Uhr, als der Pilot wieder abdrehte und in die Richtung zurückflog, aus der er gekommen war: die gleiche Zeit wie immer.

Was sie dort wohl tun. Das fragte er sich und schloss das Fenster wieder.

Der Zug hatte Verspätung gehabt, wie so oft, und so stand er viel zu spät vor seiner Wohnung. Er drehte den Schlüssel im Schloss und trat ein: Die Luft roch abgestanden. Einige Sekunden horchte er und genoss die Stille. Dann ließ er seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich. Atmete tief durch. Und befühlte fast unwillkürlich den Riss, den niemand sah.

Ja, er war wieder größer geworden: aber wen hätte das verwundern sollen? Es würde sich nicht mehr ändern. Das Loch würde wachsen, auch wenn er nicht sagen konnte, wohin: es würde seine Organe auflösen und Platz für die Leere schaffen, auch wenn er sich nicht einmal sicher war, wo der Riss genau verlief. Manchmal dachte er, er oder es wäre in seiner Brust; dann war es wieder der Bauch. Manchmal glaubte er, ihn mit den Fingerspitzen zwischen zwei Rippen zu spüren. Dann wieder war er sicher, dass der Riss quer über seine Stirn lief. Wenn er aß, dann schien alle Nahrung durch den Riss zu sickern und er blieb hungrig, immer hungrig: war ihm nach Weinen zu Mute (und das geschah oft), so schienen die Tränen in dem Loch zu verschwinden.

Sie hätten es erklären müssen, dachte er oft. Natürlich hatte er den Vertrag gelesen, und natürlich hatten sie ihn in gewisser Weise darüber informiert, dass es Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Aber sie hatten ihm nichts von dem Riss erzählt. Die Einspeisung war irreversibel gewesen, das wusste er; er hatte es in Kauf genommen, weil die Bezahlung gut war.

Er stand auf und ging zum Kühlschrank, fand nichts Essbares vor. Sinnlos, dachte er, und setzte sich wieder. Das Schlimmste an der Einspeisung war, dass sie niemand sah. Früher hatte er sich nicht einmal getraut, bei Tageslicht auf die Straße zu gehen, weil er dachte, die Passanten würden erschrecken. Aber niemand sah ihm an, was mit ihm geschah, wie ihn die Arbeit langsam auffraß. Einmal hatte er den Kassierer im Supermarkt angesprochen; er hatte nicht gewusst, wie er es sagen sollte, und so hatte er alles auf einmal und dabei doch gar nichts gesagt, als ob selbst die Worte in dem Abgrund zwischen seinen Schultern verschwinden würden. Der Mann hatte ihn einige Sekunden angestarrt und dann gelacht: Das kennen wir doch alle, hatte er gesagt, und nicht das Geringste verstanden. Sie sahen den Riss nicht; sie sahen ihn einfach nicht.

Er seufzte leise, und für einen Augenblick glaubte er, so etwas wie ein tiefes, fast stummes Echo zu hören. Es war bereits halb eins; nur an der Tankstelle würde er noch etwas zu Essen bekommen, und dann blieb zum Schlafen kaum noch Zeit. Wenn er noch etwas zu sich nehmen wollte, dann musste er jetzt losgehen; einen Moment lang versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, den er nehmen musste.

Aus dem Haus heraus, dann über die Straße. An der Ecke vor der Schule musste er links abbiegen auf den Zubringer; dann immer geradeaus, zwischen den beiden Brücken hindurch, immer entlang der großen Straße, auf der ein beständiger Strom von silbrigen Fahrzeugen in jedwede Richtung fuhr. Vorbei an den stahlgrauen Bürokomplexen, in denen um diese Zeit kein Licht mehr brannte, immer weiter parallel zur Leitplanke, die im Licht der Scheinwerfer so vertraut funkelte, funkelte wie ein Zeigefinger in dunkler Nacht. Irgendwo hier hätte er noch einmal abbiegen müssen, aber wo, wo nur, es half nichts, er musste zunächst weiter geradeaus, hin zu dem Ungetüm, silbrige Haut und ein 50 Meter messender Stachel, immer weiter darauf zu, kein Weg zurück, er musste weiter, er hörte schon das unablässige Klopfen, konnte den Rauch aufsteigen sehen, fühlte, wie der Riss von seinem Bauch in die Brust und dann in den Kopf wuchs, sah sich selbst, ein Fleck Nicht-Anwesenheit zwischen Bordstein und Häuserwand, ein Riss mit einem Stachel, der 50 Meter in die Nacht wuchs.

Als er erwachte, fand er sich auf dem Stuhl wieder, auf dem er eingeschlafen war. Er blickte auf die Uhr, es wurde Zeit. Ein letztes Mal atmete er tief ein. Es mißlang ihm; der Riss gestattete es nicht. Dann nahm er seine Tasche und lief durch die Dunkelheit zum Zug.

Er blickte auf die Zigarettenschachtel, dann nahm er die letzte Zigarette heraus und fröstelte. Es war kalt um diese Uhrzeit: er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so früh noch wach gewesen war. Seine Uhr zeigte 4 Uhr 22, und es war noch immer niemand in Sicht. Vor einer halben Stunde wäre er fast schon nach Hause gegangen, und je früher es wurde, desto verlockender erschien ihm sein Bett. Seine Neugier war groß genug gewesen, um sich in der Nacht aus dem Haus zu schleichen; jetzt stand er schon fast fünf Stunden in dieser düsteren Ecke zwischen zwei Häusern in der Nähe der Fabrik. Irgendwann mussten sie hier vorbeikommen; er wusste, manche kamen mit dem Zug, vielleicht sogar alle. Er trat die Zigarette aus; jetzt konnte er nicht einmal mehr rauchen. Lautlos fluchte er. Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Es war eine Fabrik, jeder konnte es sehen. Wen scherte es schon, was sie genau darin taten? Und wer würde so dumm sein, die ganze Nacht frierend zu warten, nur um einen der Arbeiter aus der Nähe zu sehen? Er selbst, dachte er und musste fast lächeln, auch wenn er seine Lippen kaum noch spürte. Noch einmal sah er auf die Uhr; 4 Uhr 33. Um halb fünf kamen sie also auch nicht. Er gab seinem frierendem Körper nach, schüttelte seine Füße einige Momente aus, um wieder etwas Wärme hineinzubringen, dann trat er aus der Ecke heraus und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war erst einige Meter gegangen, da bemerkte er, wie sehr es ihn erleichterte, von dort verschwinden zu können: Nachts und aus der Nähe wirkte die Fabrik noch seltsamer, nicht nur befremdlich, sondern fast beängstigend. Er fragte sich immer noch, was darin vorging: aber das musste warten, vielleicht auf den Sommer. Ja, im Sommer würde er es vielleicht länger dort aushalten.

Er sah den Mann in Arbeitskluft erst, als er in eine Seitenstraße einbog, und prallte fast gegen ihn. Es war ein Arbeiter, dass war ihm sofort klar; er trug den Overall mit dem seltsamen Emblem, das auch den Turm zierte. In der Hand trug er nur eine dünne Aktentasche, und es wirkte so, als wäre sie sehr leicht.

Er starrte den Arbeiter an: „Verzeihung“ murmelte er  „Mein Fehler.“ antwortete der andere. Einige Sekunden blieb er stehen und musterte den Mann in dem Overall; der tat es ihm gleich.

Die ganze Nacht lang hatte er gewartet und sich Fragen zurecht gelegt; er war sich ganz sicher gewesen, was er fragen musste und in welcher Reihenfolge. Doch jetzt fiel ihm kein Wort mehr ein. Einige verirrte Silben entflohen ihm, ziellos, aber der Arbeiter schien irgendetwas davon zu verstehen und nickte. Sein Gesichtsausdruck wurde düster, und mit der freien Hand schien er instinktiv nach etwas zu greifen, dass sich an oder in seinem Overall befinden musste.

„Das machen sie. Es frisst uns auf.“

Für einen Moment versuchte der Anwohner zu lächeln; sein Mund öffnete sich, er wollte sagen, dass es ihm auch manchmal so geht. Dann sah er, wonach der Arbeiter gegriffen hatte; das heißt, eigentlich war er sich nicht sicher, was er sah, aber es ließ ihn verstummen. Das Lächeln verschwand, Entsetzen kam. Einige Sekunden starrte er auf die Brust, oder den Bauch, oder den Kopf des Arbeiters, der immer noch zitternd seine Aktentasche hielt.

„Das geht uns doch allen so. Die Arbeit frisst einen auf!“, sagte er dann und lachte bellend laut. Er ließ den Mann mit dem Loch in der Brust hinter sich, eilte nach Hause und versuchte schon auf dem Weg alles zu vergessen, was er jemals über diese Fabrik gehört hatte.

Sie suchen

geschrieben am 23. September 2009 um 14:22 Uhr

In den Taschen ihrer Sakkos
Zwischen den Ritzen ihrer Sessel
An den Rändern ihrer Vorgärten

Sie durchwühlen
Festplatten und Handyspeicher
Schränke und Handschuhfächer
Essensreste und Weinkeller

Zählen ab, zählen durch
Autos
Häuser
Jobs

Und finden nichts
Weil doch alles da ist
Alles an seinem Platz
Alles und

Nichts.

Todesurteil

geschrieben am 7. September 2009 um 15:22 Uhr

Am 2. Verhandlungstag wurde die Anklageschrift verlesen. Sie war verrworren, und der Stimme des Staatsanwalts war neben der autoritären Grundhaltung eines Mannes im Staatsdienst so etwas wie eine gewisse Unbedarftheit zu entnehmen, so als ob man ihm selbst diese Schrift erst kurz vor Verhandlungsbeginn zugestellt hätte.

Jedenfalls erfuhr er, 42, ledig, arbeitslos, erst an diesem Tag, was ihm vorgeworfen wurde. Das heißt, eigentlich erfuhr er es nur ungefähr – ein halbes Dutzend Tatbestände schienen, jedenfalls auf den ersten Blick, in Frage zu kommen. Natürlich forderte man ihn auf, sich zu äußern. Es fiel ihm nichts ein; er beteuerte natürlich seine Unschuld, aber das schien niemand anders zu erwarten. Der Richter hörte sich seine Geschichte an, und stellte nur zwei Fragen; er fragte, ob er sich schuldig bekennen wolle, und ob die Zustände in der U-Haft erträglich seien. Er beantwortete die Fragen, während der Richter auf seine Notizen starrte. Die Protokollantin tippte monoton jedes Wort.

Auf dem Weg zurück in die Zelle versuchte er von seinem Anwalt zu erfahren, was nun geschehen würde; er sei nie politisch gewesen, und überhaupt könne es sich nur um ein Missverständnis handeln. Der Mann, ein junger Kerl mit durchgelaufenen Schuhen, reagierte nervös, fast ängstlich. Er murmelte nur, dass der Gerechtigkeit schon Genüge getan werden würde und dass sich das ganze sicher bald aufklären würde, wenn er nur kooperativ bliebe. Auf die Frage, ob er nun genauer sagen könne, was ihm überhaupt zur Last gelegt werde, blieb er zunächst stumm. Schwitzend sah er zu den Vollzugsbeamten, die unbeteiligt neben ihnen saßen. Es sei eine Farce, flüsterte er dann und konnte nicht aufhören, dabei zu zwinkern.

Todesurteil

Am nächsten Verhandlungstag saß ein anderer Anwalt neben ihm im Gerichtssaal, ein älterer, der viel resoluter auftrat und seine Fragen nur beantwortete, indem er aus einer schwarzen Mappe vorlas. Schließlich sah er ein, dass auch sein Verteidiger ihm nicht sagen wollte, warum er u.a. des Verrats angeklagt war und was nun geschehen würde, und sprach kaum noch mit ihm. Der Anwalt schien damit zufrieden.

Am 10. Verhandlungstag begann man, Beweise vorzubringen. Die Staatsanwaltschaft legte in endloser Folge Gegenstände und Papiere vor; am 12. Tag verbrachten sie den ganzen Vormittag mit der Zahnbürste des Angeklagten (niemand sprach seinen Namen aus, er war und blieb „der Angeklagte“), am 13. war es ein Brief, den er angeblich geschrieben hatte und in dem viele Worte auftauchten, die er hier zum ersten Mal hörte; wie es das Gesetz verlangte, wurde er an jedem Tag befragt, ob er sich zu den Beweisen äußern wolle. Die Protokollantin war die einzige, die von seinen Angaben Notiz nahm. Am 14. Tag legte der Staatsanwalt eine alte Arbeitsmontur vor, am 15. war es ein Buch, das er angeblich besessen hatte, und so ging es weiter, Gegenstände, von denen er nicht verstand, was sie mit den Vorwürfen zu tun hatten., wechselten sich mit ganz offenkundig gefälschten Beweisen seiner Täterschaft ab. Dabei schien niemand ernsthaft behaupten zu wollen, es sei bewiesen, dass er diesen oder jenen Gegenstand besessen, dieses oder jenes Flugblatt verfasst hatte; als er einmal den Staatsanwalt direkt darauf ansprach, blickten alle im Saal auf, und der Richter erklärte ihm, es könne nicht als sicher gelten, dass dies seine Habseligkeiten seien, es sei aber doch recht wahrscheinlich, da die Polizei diese Dinge in seiner Wohnung gefunden habe. Als er daraufhin andeutete, dass die Ermittlungsbehörden selbst vielleicht diese Beweise platziert hätten, fuhr ihn der Richter scharf an, er solle seine Zunge hüten. Daraufhin blieb er bis zum 30. Verhandlungstag stumm; die Tage schienen sich zu wiederholen, man behandelte eine Mischung aus Dingen, die ihm gehörten, aber nichts mit der Sache zu tun hatten, wie einen Staubsauger (16.) und eine alte Schreibmaschine (25.), die seit Jahren nicht mehr funktionierte, in die man aber offenbar ein ganz neues Band eingelegt hatte, und anderen Gegenständen oder Schriften, die ganz offensichtlich nicht ihm zuzuordnen war, so etwa eine Maschinenpistole (17.) oder zwei Briefe (24.), in unterschiedlichen Handschriften verfassst, an einen Mann namens Dimitri , von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem er am 30. Verhandlungstag in einem Anflug von Heroismus gebrüllt hatte, diese ganze Veranstaltung sei ein unrechtmäßiges Verfahren und alle Beteiligten eingeweiht, legte man ihm am 31. vor Beginn der Verhandlung einen Knebel an, und so blieb es für nächsten sechs Tage. Es waren große, starke Männer mit Handschuhen, die dies erledigten; ein Art stilles Abkommen führte dazu, dass er sich den Knebel fast selbst anlegte, während die Männer nur daneben standen und aufmerksam zusahen. Im Gegenzug wurden sie nicht grob.

Als die Aufnahme der Beweise geschlossen wurde und die Vernehmung der Zeugen begann, ließ der Richter ihm den Knebel abnehmen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass er sich nun zu benehmen habe, ansonsten würde er nicht zögern, die Maßnahme, wie er sie nannte, wieder anzuordnen.

Der Angeklagte hielt den Mund, wenigstens für eine Weile. Die ersten drei Zeugen (36.-54.), unter ihnen auch jener Dimitri, an den er angeblich Briefe verschickt hatte, waren ihm gänzlich unbekannt. Ihre Aussagen widersprachen sich nicht, und dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von der Geschichte machen, die sie zu erzählen versuchten; alles blieb nebulös und unbestimmt, immer wieder fielen Namen, teilweise von Personen, aber auch von Gruppierungen, die er nicht kannte und deren Zusammenhang oder Zusammenwirken niemand erklären wollte. Nachdem er einige Tage nur zuhörte, bis ihm klar wurde, dass man auch nicht erwartete oder auch nur wollte, dass sich ein beständiges Bild ergab, beschloss er, seine Verteidigung auf andere Weise zu führen. So begann er, mit ruhigen und gezielten Fragen nach dem Verhältnis der Zeugen zu ihm Widersprüche zu suchen. Meist sah er den Zeugen bereits beim Stellen seiner Fragen an, dass sie nervös wurden. Dimitri etwa fuhr sich unentwegt durch die Haare, eine andere Zeugin, deren Name geheim blieb, zitterte so sehr, dass sogar er es deutlich sehen konnte, obwohl er doch fast zehn Meter weit weg saß.

Doch seine Fragen brachten kein Ergebnis. Einmal sagte eine Zeugin auf seine Nachfrage aus, er sei als Schlosser angestellt gewesen (42.), was natürlich nicht stimmte (er hatte nicht einmal diesen Beruf gelernt), aber es geschah nichts weiter, als dass der Richter die Protokollantin, die schon zum dritten Mal ausgetauscht worden war, anwies, diesen Teil der Aussage zu ignorieren und aufzuschreiben, die Zeugin habe nicht geantwortet und sei deshalb mit einer Ordnungsstrafe von fünfzehn Tagessätzen zu belangen. In der Folge waren es immer häufiger Staatsanwalt und Richter, die seine Fragen an die Zeugen beantworteten, wenn diese nervös wurden. Schließlich herrschte ihn der Richter an, dass seine Fragen irreführend seien; außerdem wäre es längst als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass er all diese Menschen kannte. Als er weiterhin die gleichen Fragen stellte und einmal sogar den Staatsanwalt darauf hinwies, die Frage gelte nicht ihm, ordnete der Richter wieder sechs Tage Knebel an (49.).

So begann die Vernehmung der weiteren Zeugen, es waren mindestens 15, am 53. Verhandlungstag ohne seine Mitwirkung. Er kannte gut die Hälfte der folgenden Zeugen, die teilweise von seinem Verteidiger als Entlastungszeugen geführt wurden, Die meisten waren ihm nur flüchtig bekannt, so erkannte er den Besitzer des Kiosks in seiner Wohngegend und zwei ehemalige Arbeitskollegen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wirkten sehr eingeschüchtert, und die, die er kannte, wagten nicht ihn anzusehen und lasen von kleinen Zetteln ab, was sie zu sagen hatten. Im wesentlichen, soviel verstand er, waren sie nur geladen, um die Aussagen der ersten drei Zeugen zu stützen. Dabei waren die Aussagen selbst so platt und unbestimmt, dass keiner Zeugen allein die nur in Schemen zu erkennende Theorie der Staatsanwaltschaft bestätigte; nur einer der Zeugen, ein ehemals recht guter Freund, sagte tatsächlich Substanzielles aus, und seine Aussage war deutlich besser fingiert als die der anderen. Er vermutete, dass es sein Verteidiger war, der sich diese Einlage ausgedacht hatte: zunächst entlastete der Zeuge ihn. Offenbar war er gar nicht instruiert worden, und so bestritt er beinah alles, was während der Verhandlung bisher ausgesagt und dargelegt worden war. Erst am dritten und letzten Tag seiner Vernehmung kam der Zeuge sichtlich verstört und mit Striemen im Gesicht zur Verhandlung. Die Verteidigung ließ die Aussagen noch einmal zusammenfassen, bis schließlich der Staatsanwalt anmerkte, noch eine Frage zu haben und dem Zeugen einen offenbar gefälschten Brief vorlegte, welcher diesen ebenfalls mit Dimitri in Verbindung brachte. Wie gewünscht „brach der Zeuge zusammen“, wie der Richter es formulierte, und widerrief seine Aussagen. Sein Verteidiger entschuldigte sich lächelnd, aber „zerknirscht“ bei den Anwesenden, auch bei dem Angeklagten, zu dessen Entlastung er den Zeugen ja aufgerufen habe. Die nächsten zwei Verhandlungswochen verbrachte der Angeklagte in Hand- und Fußfesseln sowie geknebelt wegen „fortgesetzter Störung des korrekten Ablaufs des Verfahrens und Angriffs auf seinen Rechtsvertreter“. Als ihm die Fessel und Knebel wieder abgenommen worden waren, stand mit dem 73. Verhandlungstag bereits das Plädoyer des Staatsanwalts an. Er war recht gespannt, weil er zumindest hoffte, jetzt zu erkennen, welche Beweise und Taten man ihm konkret anlasten wollte, wurde aber bald enttäuscht, weil auch die Zusammenfassung der Staatsanwaltschaft so verworren blieb, dass am Ende nur drei Dinge klar wurden; er, der Angeklagte, sei schuldig (wessen?) und dies sei durch das Verfahren eindeutig belegt worden (wodurch?).

Weiterhin sei er mit dem Tode zu bestrafen.

Dies hatte man ihm schon früh in Aussicht gestellt, und so war er nicht überrascht, als der Staatsanwalt diese Strafe forderte; nachdem er es mit Kooperation versucht hatte, mit Argumentation, dann mit Subversion und schließlich sogar mit roher Gewalt (dafür hatte er die Knebelstrafe bekommen), war er des Prozesses so müde, dass ihn nur noch der Ausgang interessierte; er stellte keine Fragen mehr, und wenn man ihn etwas fragte, dann wiederholte er nur noch, er sei unschuldig, woraufhin die Protokollantin jedes Mal notierte, er verweigere die Aussage.

Dennoch dauerte es drei Tage, bis der Staatsanwalt sein Plädoyer beendet hatte, und weitere fünf, bis auch sein Verteidiger Position bezogen hatte; dieser argumentierte, er sei zwar schuldig, dennoch solle der Staat Milde walten lassen; er forderte eine lebenslange Haftstrafe für seinen Mandanten. Es folgten einige Tage, in denen sich das Gericht mit teilweise lächerlichen Details beschäftigte; man prüfte einen Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis, da dort seine Zuckerkrankheit besser zu behandeln sei (dem Antrag wurde letztlich stattgegeben; er hatte gar kein Diabetes, auch wenn drei Ärzte das Gegenteil aussagten) und einen weiteren, der mit Wahl seines Verteidigers zu tun hatte und schließlich abgelehnt wurde. Als man ihm sagte, das Urteil sei bis zum 90. Verhandlungstag zu erwarten, war er darüber sogar erleichtert; egal wie es ausging, es würde ausgehen.

Am 87. Verhandlungstag schließlich war es an ihm, sich zum letzten Mal vor der Urteilsfindung zu äußern. Er sei unschuldig, bekräftigte er nur; das schien dem Gericht nicht zu reichen.

Der Staatsanwalt starrte ihn an; ebenso der Richter, sogar die Protokollantin sah zu ihm auf. Niemand im Gericht sagte etwas; keiner regte sich. Eine halbe Stunde ging das so, dann fragte er resigniert nach, was man noch von ihm hören wolle: er sei keines Verbrechens schuldig, und mehr könne er nicht sagen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis schließlich sein Verteidiger, mit dem er seit langer Zeit kein Wort mehr gewechselt hatte, laut fragte, ob er sich von diesem Gericht ungerecht behandelt fühle.

Einen Moment lang witterte er eine neue Falle, dann aber antwortete er: Ja, wenn man ihn so frage, dann sei dieses ganze Verfahren eine einzige Farce, ein riesiges Lügengebäude, in dem Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Polizei gleichermaßen beteiligt seien.

Er erwartete eine weitere Ordnungsstrafe, womöglich sogar schon das Urteil oder einfach nur Gelächter darüber, dass er so Offensichtliches, so offensichtlich Nutzloses sagte, aber es blieb still im Saal.

Schließlich bekannte der Staatsanwalt, dass er möglicherweise tatsächlich befangen sei, jedenfalls nicht für diesen Prozess geeignet, und deshalb sein Amt vorübergehend niederlege, bis die Sache geklärt sei. Der Verteidiger erklärte, so wie die Dinge lägen, müsse er wohl tatsächlich einen Befangenheitsanstrag gegen den Richter und sich selbst stellen; zu spät erkannte der Angeklagte, worum es eigentlich ging. Der Richter gab nachdenklich zu, möglicherweise ungeeignet zu sein, und ließ das Verfahren vertagen.

Drei Monate später begann das neue Verfahren; alle Beteiligten waren, bis auf ihn, ausgetauscht worden. Am 2. Verhandlungstag, der für den Angeklagten schon der 89. war, wurde die Anklageschrift vorgelesen, die man nur unwesentlich verändert hatte.

Am 117. Verhandlungstag gab der Angeklagte sein Geständnis zu Protokoll. Das Urteil sollte zwei Tage später verkündet werden, und Expertisen, die den Ausschluss des Geständnisses und – damit verbunden – eine Neuaufnahme des Verfahrens nahelegten, waren schon angefertigt worden. Die entsprechenden Zeugen, Ärzte und Psychologen, hatte man bereits eingeschüchtert oder bestochen, um die emotionale Instabilität des Angeklagten und die massiven Einschüchterungen durch anonyme Mitglieder des Justizvollzugs zu belegen. Das Verfahren würde in die dritte Runde gehen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Erntezeit

geschrieben am 23. August 2009 um 17:34 Uhr

Leise, bedächtig und langsam schritt er den schmalen Feldweg hinab. Sein Kopf hing locker, angemessen tief zwischen Schultern, die eigentlich die Anspannung starrer Haltung und kerzengeraden Gangs vermissten. Hinter ihm schlug eine Magd ein Fenster mit trüben Gläsern zu. Der Lehrer trat unbeholfen nach einem Stein, der in dem Graben am Wegesrand verschwindet.
Er sah über das Feld hinweg nach Norden und betrachtete die aus dieser Entfernung so winzigen Gewittertürme am Horizont. Die Stadt, die auch in dieser Richtung liegen musste (so glaubte er) , war noch viel weiter entfernt, unerreichbar für ihn.
Ein alter Kleinbauer, der letzte verbliebene, kam ihm entgegen, schwer atmend und mit vom Lehm verschluckten Stiefeln. Der Lehrer nickte zum Gruß, und für einen Moment lang spannten sich seine Schultern ganz ohne sein Zutun. Der Alte sah ihn nur stumpf an, nicht feindselig, aber auch kaum freundschaftlich, und als hätte er die winzige Veränderung in der Haltung des viele Jahre Jüngeren, aber um fast eben so viele Jahre Beleseneren wahrgenommen, entwich seiner Kehle ein unbestimmter, knurriger Laut des Widerwillens, während er wortlos weiterging.
Der Lehrer glich seine Haltung wieder dem allgemeinen Konsens an, ging noch einige Schritte weiter und blieb dann vor den ersten Kornreihen stehen, die sich endlos in alle Richtungen ausbreiteten und dabei dichter und dichter zu stehen schienen, bis von den einzelnen Reihen nicht mehr als das reinste Grau-Gelb blieb. Es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet, sicher stand bald die Ernte an, es würde die dritte sein, die er erlebte. Seine fleckige Hand, die er schon lange nicht mehr richtig wusch, griff nach einigen Halmen. Er betrachtete sie eingehend. Feingliedrige Finger hielten eine Ähre, befühlten sie. Die Sorten waren über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg die geblieben, die man hier seit jeher angebaut hatte. Der Großbauer und die vielen Männer, die für ihn arbeiteten (nicht wenige von ihnen hatten selbst Land in der Gegend besessen) wussten von ihren Vätern und Großvätern und Urgroßvätern, wie sie den größten Ertrag aus diesen Ähren holten. Sie kannten nicht einmal die Namen der angebauten Sorten, freilich wussten sie nicht einmal, dass sie hier Triticum aestivum anbauten. Aber sie wussten, wann man die Samen in die Erde bringen musste; wie sie Ungeziefer fernhielten, wann der Dung der Tiere den besten Dienst erwies. Und auch, wann das Korn vom Feld geholt werden musste. Natürlich wussten sie nichts von den neuerlichen Fortschritten in der Landwirtschaft, sie wollten davon auch nichts wissen. Nicht, dass er ihnen davon erzählt hätte, dies wäre nur sofort als überhebliches, eitles Gewäsch ausgelegt worden. Nein, ganz ohne sein Zutun hatte der Großbauer ihm nach einem sonntäglichen Kirchenbesuch nahelegt, ihn mit dem ‚Kram‘ zu verschonen, der unter den Studierten so hoch gehandelt werde. Der Lehrer hatte sich damit abgefunden, auch damit, dass man ihn, den Studierten, natürlich nicht ins Vertrauen zog. So hatte der Alte, wie alle ihn hier nannten, ihm etwa nur gesagt, in den nächsten Tagen müsse er nicht unterrichten, nicht aber, weshalb. Da es jedoch die dritte Woche des Augusts war, nahm es der Lehrer als sicher an, dass er wegen der Ernte freigestellt worden war.
Auf dem Weg zurück zu dem großen Hof, auf dem er seine Tage und Nächte verbrachte, sah er wieder zu den Gewitterwolken, die sich weit entfernt bildeten. Die Chancen, dass sie hierher zogen, waren gering, ein stetiger Wind gen Nordosten machte es unwahrscheinlich.
Er grüßte zwei junge Mägde, die mit ungelenk schaukelnden Hüften und fleischigen Oberarmen den Feldweg hinunterliefen, wie der alte Bauer in schweren, lehmbehafteten Arbeitsstiefeln, mit einer kaum sichtbaren, schüchternen Bewegung, bemühte sich dabei, die Schultern gesenkt zu lassen. Die beiden kicherten dümmlich, erwiderten aber seinen Gruß.  Hinter ihm hörte er sie bald ein Gespräch führen, das offenbar ihm galt; er wusste nicht, ob sie es aus Bösartigkeit taten oder aus Dummheit. Er nahm nicht an, dass der Alte irgendjemandem von dem Grund für seine Flucht aufs Land erzählt hatte; das hätte man ihn spüren lassen. Als der Großbauer ihn zu sich bestellt hatte an jenem Abend, dann zunächst ebenso großspurig wie naiv über einige Weine gesprochen hatte, deren französische Namen ihm nicht von der Zunge gingen, um dann nach dem Hinunterschütten derselben zur Sache zu kommen, da hatte er versprochen, alles für sich zu behalten, wenn er sich nur anständig verhalte. Er wisse, hatte er gesagt, eine Schweinekeule zwischen den Zähnen, wie schwer es für „einen wie ihn“ sei, hier Fuß zu fassen. Selbstredend hatte der Alte ihm diesen Dienst nicht umsonst erwiesen, es steckte keine Loyalität oder Freundlichkeit dahinter, wie überhaupt nichts, war der Alte tat, von Loyalität oder Freundlichkeit geleitet war. Vermutlich war es eher aus Sorgen um sein Ansehen so geschehen; mit viel Aufwand versuchte der Alte, seine Verbindung zur Kirche zu stärken. Der Pfarrer, ein alter, knurriger Mann mit starren, mehr überlieferten denn studierten Vorstellungen von Religion und Anstand, ging ein und aus in seinem Haus, und die Nachricht, dass in eben diesem  Haus ein Mann unterrichtete, der wegen der unrechtmäßigen Beziehung zu einem Mädchen seine Stellung und seinen Ruf in der Stadt verloren hatte, ja gar aus der Stadt davongejagt worden war, würde sogar auf den alten Pfarrer einen unliebsamen Schatten werfen.
Er wisse ja auch, wie die Mädchen sein können, hatte der Großbauer nach dem Mahl mit immer noch gefräßigen Augen gesagt. Das eine oder andere Mal sei auch er einem hinterher gewesen, und manchmal gebe das eine schlimme Folge, aber damit müsse man jetzt leben und weiterschauen. Fett tropfte dabei von seinen Lippen. Jedenfalls müsse es ja niemand wissen, er wisse es ja nun und der Lehrer selbstredend auch, das sei genug.
Das war vor einem halben Jahr gewesen, und scheinbar hatte der Großbauer sein Wort gehalten, jedenfalls trat ihm niemand in anderer Weise entgegen als zuvor.
Erntezeit
Vielleicht hatte der Alte ihm auch zu Gute gehalten, dass er ihn nicht belogen hatte. Ein Bekannter hatte ihm diese Stelle vermittelt, zum halben des gewöhnlichen Lohns hatte der Lehrer seine Dienste angeboten; der Alte hatte ihn gefragt, warum „einer wie er“ (diese Floskel wählte er immer wieder, mit wachsender Abscheu darin) aufs Dorf wolle und er hatte darauf nur geantwortet, dass man ihn bitte nicht zwingen möge, diese Frage zu beantworten.
Viel wahrscheinlicher aber war es, dass es dem Alten schlicht egal war; es gehörte viel zu dazu, an den ganzen Acker der fruchtbaren Gegend zu gelangen, und unter diesem Vielen war nur wenig Gutes oder Edles.
Er erreichte den Hof, sah auf die Taschenuhr, die er immer bei sich trug, und erinnerte sich an seinen leeren Magen. Er ging um eine große Scheune herum, begegnete dabei einigen Arbeitern, die ihn nicht weiter beachteten, und erreichte eine große, grobe Holzhütte. Über die Türe hatte der Alte ein Schild mit der lächerlichen Aufschrift „Mensa“ gehängt, eins der ersten Ergebnisse seines Unterrichts. Zunächst war er zwar angestellt worden, um die Kinder des Großbauern zu unterrichten, aber schnell stellte sich heraus, dass dies nur ein Vorwand gewesen war; Keiner auf dem Hof konnte richtig lesen oder schreiben, vielen fiel auch das Rechnen schwer. Vermutlich hatte keiner von ihnen je die Schulbank gedrückt, aber zumindest der Alte bestand darauf, nur viel vergessen zu haben; dabei hielt er den Stift wie ein Esel. Der Lehrer lobte ihn häufig für seine winzigen Fortschritte in Rechtschreibung und Grammatik.
Er grüßte die alte Frau, die mit knorrigen, gichtbefallenen Händen einen Teller auf seinen Tisch stellte.  Dieser Tisch war ihm bald nach seiner Ankunft zugewiesen worden. Im Gegensatz zu den anderen war es keine lange Holztafel wie die, an denen die Arbeiter speisten, sondern ein kleines Tischchen ein wenig abseits, an dem er stets allein saß. Kam er zum Essen, so wischte die alte Küchenfrau ihn mit langen, gründlichen Bewegungen ab, als täte sie es zum ersten Mal; alle seine Bitten, diesen Umstand doch nicht nur seinetwegen zu machen, waren vergebens geblieben.
Die Küchenfrau war eine der wenige Personen auf dem Hof, die er nicht wenigstens manchmal unterrichtete; offenbar hatte der Alte es für verschwendete Zeit befunden. Der Lehrer vermutete, der Alte hatte den Unterricht für alle auf dem Hof auf Ansinnen des Pfarrers verfügt; das war schnell geschehen, nachdem er seine Arbeit begonnen hatte, und seitdem lehrte er die viele Arbeiter und Mägde die deutsche Sprache, aber von Zeit zu Zeit auch anderes, so etwa Naturwissenschaft oder ein wenig Geschichte.
All das war, so wusste er, vergebene Mühe. Die meisten waren wirklich dumm, sie behielten nicht, was er mit ihnen übte, und manchmal schien es, dass sie nicht einmal zuhören konnten; so sehr er sich auch bemüht hatte, die Erfolge waren verschwindend. Die wenigen, die er für gescheit hielt, waren nach der harten Arbeit meist nicht willens und auch nicht in der Lage, ihm zu folgen. Und überhaupt schien es ihm, als hätten sich viele der Männer und Frauen mit ihrem Leben abgefunden: Sie sahen die Notwendigkeit nicht, schreiben oder lesen zu können.
Immerhin duldeten sie seine Autorität während des Unterrichts. In einer Weise, die ihm beinahe unheimlich war, befolgten sie gehorsam jede seiner Anweisungen, häufig, ohne sie überhaupt zu verstehen. Vielleicht war es aus diesem Grund ein hoffnungsloses Unterfangen. Hatte er einer Gruppe beigebracht, dass Z zu schreiben, hatten die ersten das A schon wieder halb vergessen; manches, wie die Philosophie etwa, schien an ihren viehischen Augen schlicht vorüberzugehen. Mit wenig Überraschung hatte er bald entdeckt, mit welcher Faszination die Menschen hier Geschichten entgegentraten, mit welcher kindlichen Ernsthaftigkeit sie jede noch so schlechte erzählte oder komponierte Geschichte bedachten. Zunächst hatte er dies aus didaktischen Gründen genutzt; das Versprechen, er werde wieder von Odysseus erzählen, hatte seine Schüler motivieren sollen. Letztlich, so musste er feststellen, änderte das nichts an dem Ausbleiben jedes Lernerfolges. Doch die Geschichten erzählte er weiter, zunächst oft heidnische Mythen, später ersann er auch selbst einige, oder er bediente sich in der Bibel, um diesen seltsam stummen Menschen wenigstens etwas Anteilnahme abzuringen. Schließlich gestaltete er seinen ganzen Unterricht häufig wie eine Erzählung, bei der Lernstoff und Dichtung verschwammen. Die Erzählung musste nicht gut sein; die Bauern waren wie Kinder, gierig verschlangen sie seine Worte, ohne auch nur irgendetwas Sinnvolles dabei zu lernen.
Er schob seinen Teller vorsichtig zur Seite. Wortlos nahm ihn die alte Frau vom Tisch. Er sah sich um, dann zog er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. Es war den Bauern anstößig, wenn er hier, vor ihren Augen, las, da sie selbst es ja nicht konnten, und so hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, früher zu essen, um danach in sein Büchlein schauen zu können.
Ein großer Teil des Jahres war bereits verstrichen. Nicht allzuviel war geschehen, und so hatte er auch nicht viel in sein Büchlein geschrieben. Sein Blick fiel auf eine Überschrift, und er begann zu lesen.
Januar – Im Januar war es bitterkalt geworden, und fast jeder auf dem Hof hatte nachts gefroren. Der Großbauer hatte ihm eine große, schwere Decke aus Tierfellen gegeben, und so war er der einzige gewesen, der nicht gänzlich verfroren zum Unterricht kam. Auf dem Hof war nicht viel zu tun, und so saßen die Arbeiter viel herum und tranken noch mehr. Er hatte einmal versucht, sich zu ihnen zu setzen, aber ihre Gespräche waren ebenso einfältig wie ihr Gemüt gewesen, und so hatte er es aufgegeben. Im Unterricht hatte er erneut mit der Grammatik begonnen und von Ali Baba und den 40 Räubern erzählt. Andere morgenländische Geschichten waren gefolgt, soweit er sich an sie erinnerte, aber er hatte festgestellt, dass sie nur mäßiges Interesse bei den Schülern weckten, wohl, weil sie ihnen zu fremd waren.
Februar – eines Abends hatte das dicke Glas des winzigen Fensters gefehlt, das seine kleine Kammer besass. Der Alte hatte nicht herausgefunden, wer es gestohlen hatte, und es hatte bis in den März gedauert, bis sich jemand der fehlenden Scheibe annahm. Auf den Feldern lag Schnee, und der Lehrer hatte wieder einmal bemerkt, dass er einzige zu sein schien, der diesen Anblick schön fand oder überhaupt wahrnahm.
In der zweiten Woche hatten sie ein Kind zu Grabe getragen. Auf dem kleinen Friedhof stand er abseits; das Kind war wohl schon länger erkrankt gewesen. Er hatte davon nichts gewusst. Im Unterricht waren sie kaum weitergekommen, auch wegen des Todesfalls. Aber er hatte den Bauern von Troja erzählt und den Krieg in seiner Schrecklichkeit ausgemalt, so gut er konnte.
März – Die Saat stand an, und den größten Teil des Monats hatte er in seiner Kammer verbracht, sofern die Temperaturen es zuließen. Nach Ende der Saatzeit hatte er etwas Naturwissenschaft mit ihnen besprochen. Mit einem Katzenfell hatte er ihnen die statische Elektrizität aufgezeigt, und ihnen anschließend vom Entstehen der Blitze und ihrer verherrenden Wirkung erzählt. Sie waren sehr gespannt gewesen, und so hatte er seine Darstellung lang ausgeschmückt, ihnen von Häusern erzählt, die, vom Blitz getroffen, so schnell niedergebrannt waren, dass niemand sich mehr daraus retten konnte, und von Menschen, die auf offenem Feld regelrecht gespalten worden waren.
April – für den April hatte er nun einen Satz notiert: Das Korn wächst.
Mai – Die Natur war freundlich geworden, und der angenehmen Temperaturen wegen hatte er erwogen, den Unterricht nach draußen zu verlegen. Der Großbauer hatte es abgelehnt, weil „die Schüler nun mal in die Schule gehörten“. Er war mit der Grammatik nur leidlich vorangekommen, hatte aber von den alten Göttern der Germanen erzählt, und so auch von Thor, der gewaltige Blitze auf die Erde niederschleudern konnte, um seine Feinde und Frevler allesamt zu verbrennen. Da sie Gefallen an diesen Geschichten fanden und mit fast panischem Ernst lauschten, erzählte er ihnen auch noch andere Geschichten über Blitz und Donner, etwa von furchtbaren Gestalten und Figuren, die ihre Füße und Arme mit den Blitzen gen Erde streckten, um dort umherzuwandern und ihrer grenzenlose Zerstörungswut freien Lauf zu lassen.
Juni – Bei schönem Wetter war er oft spazieren gegangen. An einem Abend war er auf dem Weg in seiner Kammer mit einem betrunkenen Knecht aneinandergeraten, der sich am nächsten Tag (auf Einwirken des Alten) wortkarg bei ihm entschuldigte. Im Unterricht hatte er die Geschichte des Landes durchnehmen wollen, aber schließlich hatte er von Platons Atlantis erzählt und seinen nächtlichen Untergang durch einen Sturm in allen Einzelheiten, die er sich denken konnte, beschrieben. Ängstlich hatten ihm die stummen Bauern zugehört.
Eine Magd war des Hofes verwiesen worden, er wusste nicht, warum. Aus einer Unterhaltung hatte er aber erfahren, dass sie möglicherweise ein Verhältnis mit dem Alten eingegangen war.
Juli – Der Juli brachte große Hitze mit sich, und sie alle hatten in der zum Unterrichtsraum erklärten Scheune furchtbar geschwitzt. Er hatte festgestellt, dass seine Schüler nicht das geringste gelernt hatten, und wieder neu mit der Grammatik begonnen. Außerhalb des Unterrichts hatte er meist im Freien gesessen und sich Notizen gemacht für eine Geschichte, die er später im Monat eindrücklich erzählt hatte. Sie war mit Anleihen an die Offenbarung und den Untergang Babylons gespickt, und ein besonderes Augenmerk legte er auf den Gewittersturm, der alle Sünder hinwegfegen würde, egal wie winzig ihr Vergehen auch sei. Seine Schüler waren wie gefesselt von der Geschichte, und er fand Vergnügen daran, sie so gut er konnte zu erzählen.
August – Im August hatte er noch nichts aufgeschrieben. Unter der Überschrift waren daher einige Zeilen Platz, doch darunter hatte er vor einem Jahr bereits notiert: Dritte Woche – Wind dreht. Die Zeile war unterstrichen.
Der Lehrer besah die Worte einige Sekunden. Schließlich schrieb er nichts mehr dazu, sondern schloss sein Büchlein, schob es wieder in seine Tasche und ging hinaus. Unter dem Schild an der Tür blieb er stehen, sah einen Moment in den Himmel. Dann ging er schnellen Schrittes zu dem Nebenhaus, in dem er mit vielen der Mägde und Knechte hauste, betrat seine Stube mit dem winzigen Fenster, setzte sich auf sein Bett und nahm eins der schweren Bücher vom Regal, um darin zu lesen. Es dauerte etwa eine Stunde, bis er draußen Rufe und das Klappen von Türen hörte. Er zog sich um, legte sich sich hinein, und las weiter. Als es draußen schnell dunkelte, entzündete er eine Kerze, obwohl er wusste, dass er Alte es eine Verschwendung gescholten hatte, zum Lesen eine Kerze anzuzünden.
Als die Rufe plötzlich aufhörten und das Treiben im Haus verstummte, legte der Lehrer sein Buch zurück an seinen Platz und löschte das Licht. Mit offenen Augen starrte er in die Dunkelheit.
Als die ersten Blitze zuckten, hörte er zwei Kinder schreien. Sie verstummten wieder. Als der Donner kam, und mit ihm der Wind und der Regen, da erhob sich über dem ansonsten stillen Haus das Klagen und Wehen. Im Stock über ihm lagen acht Mägde unter ihren Betten und weinten und flehten. Im Raum daneben wimmerten die Männer in ihren Betten; mit jedem Blitz, jedem Donnerschlag ging bald ein großes Aufschreien durch das Haus, und während das Aufblitzen des Gewitters immer häufiger kam und der Wind immer mehr zunahm, vermischten sich die Schreie und Gebete zu einem einzigen, dumpfen Rauschen, das bald lauter war als der Sturm selbst. Im Raum neben dem Lehrer gestanden sich zwei Eheleute beständig ihre Missetaten: weinend und einsam lagen sie sich in Armen, die Münder über und über voll mit Beteuerungen und Geständnissen.
In seiner kleinen, kargen Kammer lag der junge Lehrer aus der fernen Stadt ganz still in seinem Bett, und mit der Bedächtigkeit der ziehenden Wolken, aber ebensolcher Beharrlichkeit, zog eine Veränderung in sein bleiches Gesicht. Bis nach Mitternacht dauerte es, bis der Höhepunkt des schweren Gewitters kam, und selbst der nun heftige Sturm und Regen konnte das Wehen im Haus nicht übertönen, die unzähligen gerufenen Gebete, das Kreischen der Frauen, die geweinten, halb erstickten Bekenntnisse und Entsagungen, und gerade zu dieser Zeit trat die Veränderung schließlich ganz in das Gesicht des ruhenden Lehrers, vielleicht zog sie mit dem Gewitter, vielleicht auch von innen nach außen, oder von weit hinten in seinem Kopf bis ganz nach vorn auf seine Gesichtszüge. Mit jedem der vielen Blitze fiel ein schmaler Lichtstreifen in das kleine Zimmer, fiel auf gewölbte Lippen und lachende Augen. Sein Gesicht war vollgesogen, ganz gesättigt, fast aufgelöst von einem Lächeln, das scheinbar zart und voll auf ihm lag, und in dem doch jede Linie, jeder gespannte Muskel einer momumentalen Anstrengung bedurfte, gegen die jedes Schreien im Haus verschwand wie hinter einem schwarzen Vorhang. Ein Lächeln wie aus höchsten Höhen. Ein Lächeln wie aus den Tiefen des Abgrunds.

Der Prophet

geschrieben am 19. August 2009 um 14:21 Uhr

Die Straße ist voller Menschen, nach links und rechts und soweit das Auge bis zu den Warenauslagen sieht; mal schlendern sie mit einem Eis in der Hand, mal hasten sie von einem Laden zum anderen. Die Sonne steht hoch über der Innenstadt, und es ist heiß. Die meisten Menschen tragen eine Sonnenbrille. Eine Frau huscht in einem zu kurzen Rock vorbei, und einige Männer starren ihr nach. Einer kommt darüber fast ins Stolpern. Einige Jugendliche ziehen vorüber, unterhalten sich laut und lachend. An der Ecke steht ein Leierkasten, der fröhliche Musik spielt, Sommermusik: ein freundlicher, alter Herr steht dahinter und bedankt sich für jede Münze, die man ihm in die Schale legt. Nur ein paar Meter weiter weint ein kleiner Junge mit blauen Augen und gelben Shorts, und einige Passanten bleiben stehen um zu sehen, was ihn so betrübt. Eine Eiswaffel liegt am Boden; er wird eine neue bekommen.
Über die Läden, über die junge Frau, den Jungen und den Leierkastenspieler huscht ein anderer, ein immer dritter Blick – und findet sie nicht. Trübe schweift ein Augenpaar über die Passanten, erkennt niemanden und bleibt doch immer suchend, von der einen auf die andere Seite, immer suchend.
Er steht vor einem Bekleidungsgeschäft, aber in angemessener Entfernung. Nicht, dass man ihn davonjagen könnte, er würde bleiben; es ist sein Platz. Seine Beine sind in eine alte Jeans gehüllt, durch die  an einigen Stellen schon seine nackte Haut schimmert. Sein Oberkörper steckt, trotz der Hitze, in einer ebenso alten und heruntergekommenen Lederjacke. Die Arme, die viel zu lang für seine Jacke sind, hält er merklich angespannt flach am Körper, ohne aggressiv zu wirken  In der linken Hand hält er, lose und unaufmerksam, eine Flasche. Lautlos schwankt die Flasche, schwankt mit ihm.
Eine Frau schreit auf, mit lautem Klirren fallen ihre Einkäufe zu Boden. Schimpfend bückt sie sich, um die geborstenen Gläser aufzusammln.
Der Prophet sieht nur einen Moment hin, von dem Schrei angezogen, und sieht keine Frau und keine Einkäufe. Sein Blick streift sie, streift den Boden und die Passanten, die schadenfroh lächelnd an ihr vorbeigehen, aber kein einziges Mal findet er Halt an einem der Menschen, immer nur suchen und suchen seine Augen, sie suchen das Tor, oder die Heilige, oder auch nur einen Ausweg.
Manchmal sprechen sie ihn an, wenn er hier steht, aber nur manchmal. Meist ignorieren sie ihn: es stört ihn nicht. Wenn es doch geschieht, dann erzählt er ihnen manchmal von dem Stern und dem Tor und der Heiligen, und dann lachen sie oder gehen still und peinlich berührt davon. Einmal fragte einer nach seinem Namen, doch er antwortete nur, es gebe keine Namen mehr, nur noch einen, und den dürfe er nicht aussprechen.
Ein junger Mann geht ganz nah an ihm vorbei, und der Prophet zuckt zusammen, lässt seine Flasche fallen. Eine Gischt aus Hundert Silben rinnt über seine Lippen, Silben aus einer fernen, verbotenen Sprache. Der Mann geht weiter, dreht sich nicht um. Der Prophet blickt auf seine nun leere Hand, scheint sie einen Moment lang zu erkennen, streckt und wendet sie, keine Flasche, kein Blut. Seine Lippen bewegen sich noch einige Sekunden lautlos. Er sieht wieder über über die Straße und durch sie hindurch. Findet kein Tor, findet keine Heilige.
Dann dreht er sich um, geht einen Schritt. Und verschwindet. Einen Schritt macht er, dann verblasst er an den Rändern. Niemand sieht es. Ein zweiter Schritt, die Ladenauslagen schimmern durch seine Lederjacke. Keiner schaut hin. Ein dritter. Er verschwindet. Niemand sieht es. Er verschwindet.

Flecken im Dickicht

geschrieben am 16. Juli 2009 um 05:13 Uhr

Im ersten Moment sah ich die Augen nicht: ich war nur stehengeblieben, weil ich dieses Gefühl in der Magengegend hatte, dieses Gefühl, das einen beschleicht, wenn man etwas neben sich spürt, obwohl man doch allein sein sollte. Der Park war verlassen um diese Uhrzeit. Es muss halb vier gewesen, vielleicht später; ich war auf dem Heimweg, hatte mich noch lange im Büro aufgehalten und war darüber eingeschlafen. Ich muss fast schlaftrunken gewesen sein, als ich die Abkürzung durch den Park wählte: die Stadt ist klein, aber auch in einer kleinen Stadt sollte man so spät in der Nacht nicht allein im Dunkeln gehen.

Als ich aber an diese besondere Stelle kam, da war ich plötzlich hellwach; mein Herz raste wie von einer großen Anstrengung, und dieses Gefühl im Bauch loderte ihn mir auf. So stark hatte ich es noch nie empfunden; es war, als läge ein Gewicht in meiner Brust, drückte auf all die Organe in meinem Inneren. Ich sah mich um; sie schalteten um diese Uhrzeit jede zweite oder dritte Laterne aus, um den Strom zu sparen, aber viele der Lampen funktionierten ohnehin nicht mehr, so dass ich kaum etwas erkennen konnte. Schemenhaft erkannte ich noch den Weg aus weißen, bald grauen Steinen. Links und rechts begann das Unterholz, dass schon seit Jahren ungehindert wucherte.

Flecken im Dickicht

Und so brauchte es dieses winzige, dieses kaum hörbare Geräusch, um meine Augen in seine Richtung zu lenken. Es klang ein wenig wie ein unterdrücktes Jaulen, aber es könnte auch ein winziger Ast gewesen sein: hätte ich nicht so angestrengt gelauscht, ich hätte es sicher nicht gehört. Es müssen noch einige Sekunden vergangen sein, bis ich die beiden ganz leicht funkelnden Augen entdeckte und erstarrte. Ich kann unmöglich sofort erkannt haben, um wessen Augen es sich handelte, aber jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich es gleich gewusst; es waren die Augen einer Wildkatze, einer großen Wildkatze. In diesem Moment aber, als ich die Augen im Gras sah, da habe ich gar nichts mehr gedacht oder gewusst. Wie angewurzelt stand ich da und starrte. Und die Augen starrten zurück. Ich glaube, sie haben mich schon länger beobachtet; sicher lag sie schon lange dort. Vielleicht war sie mir auch auf meinem Weg gefolgt, war ganz leise und vorsichtig neben mir gelaufen, ich auf dem steinernen Weg, sie im tiefen Dickicht der kleinen Bäume und Büsche. Wir sahen uns an, Sekunden, Minuten lang. Und je länger ich hinsah, desto mehr Details konnte ich ausmachen. Ich sah spitze Ohren, die sich ganz leicht gegen den Hintergrund abhoben, und einen großen Kopf. Dann begriff ich die Bösartigkeit, die die Augen dieses Wesens ausstrahlten. Hätten meine Lungen Luft gehabt, hätte ich sicher geschrieen, aber mein Atem stand still; in den Pupillen dieses Wesens sah ich eine Boshaftigkeit, eine Art von Verletztheit und Rachsucht, die ich mir nie habe vorstellen können, von einer Intensität und Kraft, die mich auch heute noch manchmal zittern lässt, wenn ich in einem dunklen Zimmer sitze. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesen Ausdruck silbriger Augen blickte, mich darin fast verfing, fast aufging. Aber es war das Tier, welches sich zuerst bewegte; die Katze kam einen, vielleicht zwei Meter auf mich zu. Meine Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen einen schlanken, dunklen Körper, der sich ganz knapp über dem Boden bewegte, und dann, kaum zu erkennen, das kurze Aufblitzen der schwarzen Flecken. Die Katze schlich bis auf wenige Meter an mich heran: ich war immer noch unfähig, mich zu bewegen. Todesangst befiel mich. Sie hätte mich ohne Zweifel zerreißen können, ich wäre ihr zum Opfer gefallen, ohne auch nur noch einen Laut von mir geben zu können. Doch dann, ich weiß nicht wieso, blieb sie stehen. Der Ausdruck ihrer Augen wandelte sich: es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich glaube so etwas wie Angst erkannt zu haben. Die Katze blickte mich noch einige Sekunden an. Ich sah ihren Schwanz unruhig zittern: Dann sah ich nur eine schnelle Bewegung, deren Richtung ich nicht ausmachen konnte. Einige Äste hörte ich zerbrechen, die Büsche raschelten. Ich war wieder allein.

Für den restlichen Weg benötigte ich nur wenige Minuten, so schnell lief ich. Als ich zu Hause war, zitterte ich am ganzen Leib, ließ mir ein Bad ein und wusch mich. Obwohl das Tier mich nicht berührt hatte, fühlte ich mich unendlich schmutzig. Schließlich ging ich ins Bett; ich muss unter Schock gestanden haben, anders kann ich es mir nicht erklären. Erst, als ich schließlich auf meinem Bett lag und endlich einschlief – der Morgen neigte sich da schon gegen Mittag – fiel mir der Name des Tieres ein. Ich war einem Leoparden begegnet.

Leopard (2)

Als ich am Abend wieder erwachte, erschien mir dies alles unwahrscheinlich, unmöglich: ein Leopard im Stadtpark. Ich hätte die Polizei anrufen können, aber ich tat es nicht. Sie hätten mich wohl für verrückt erklärt, und mir selbst kam die Geschichte immer seltsamer vor, je länger ich darüber nachdachte. Du warst müde, du hast Dinge gesehen, die nicht da waren, dachte ich bei mir. Und in der Tat brachte meine Erinnerung nicht viel mehr auf als Schatten und Schemen: ich war mir ja sogar unsicher, wo genau ich sie gesehen hatte. Also ließ ich die Sache auf sich beruhen. In dem Park war ich seither aber nur noch am Tage: In der Dunkelheit gehe ich lieber den anderen Weg, außen herum, auch wenn dieser länger ist.

Dies alles geschah fünf Tage, bevor der erste Mensch verschwand. Es war eine ältere Frau, die gegen Abend ihren Hund spazieren führte. Die Zeitung berichtete, dass sie gegen neun Uhr aufgebrochen war. Als sie gegen elf immer noch nicht wieder zu Hause war, suchte ihr Mann sie. Er fand nur den völlig verängstigten, aber unversehrten Hund, der unter einem Baum kauerte und winselte, von der Frau aber fehlte jede Spur. Das Kriminallabor fand etwas Blut und Kleidungsreste auf den Steinen, nicht weit von dem Ort, an dem man den Hund gefunden hatte. Doch die Frau oder ihr Leichnam blieb verschwunden.

Als ich davon in der Zeitung las, war mir schon im ersten Moment klar, dass es mit dem Leoparden zu tun haben musste. Meine Erinnerung war nicht falsch, ich hatte nicht geträumt: es war der Leopard gewesen, er hatte die Frau getötet. Mir war klar, dass ich zur Polizei gehen musste, und das tat ich auch: ein streng dreinblickender Beamter hörte sich meine Geschichte an und machte sich dabei Notizen. Er erklärte mir, dass sie den Park am Tag schon dreimal mit mehreren Dutzend Polizisten durchkämmt hatten, ohne etwas Ungewöhliches zu finden; einen toten Fuchs hatten sie gefunden, aber der war einer Krankheit erlegen und ganz sicher nicht, wie er es sagte, einem Urwaldtier. Während ich ihm zuhörte, wurde mir klar, dass er mich nicht ernstnehmen würde. Und so war es auch: er fragte mich zuletzt nur, ob ich trinken würde, und ob ich wegen psychischer Probleme in Behandlung gewesen sei. Das Gespräch wurde sehr unangenehm: schließlich fragte er mich sogar, wo ich in der Nacht gewesen, in der die Frau verschwunden war. Als ich das Polizeigebäude schließlich enttäuscht verließ, wurde mir klar, warum sie den Leoparden nicht fanden, und ich lächelte; er jagte nur in der Nacht. Sie aber hatten am Tag gesucht.

Einige Wochen später verschwand ein Vierzehnjähriger. Er war viel zu spät von einer Geburtstagsparty gekommen und hatte wohl deshalb gegen den Rat seiner Eltern durch den Park abgekürzt: man fand seinen linken Schuh, sonst nichts. Die Polizei besuchte mich einige Tage später und stellte mir wieder Fragen. Offenbar war ich für sie ein Verdächtiger geworden, nur weil ich ihnen von dem Leoparden erzählt hatte. Ich versuchte, ihren Verdacht auszuräumen; als sie doch wieder nach dem Tier fragten, log ich und erklärte, ich wäre an diesem Abend sehr betrunken gewesen. Der Verdacht, der von mir abfallen sollte, ist nicht der einzige Grund dafür, dass ich ihnen diese Lüge auftischte. Ich glaube, es war kein Zufall, dass ich den Leoparden zuerst sah. Er wollte, dass ich ihn sehe, und er ließ mich aus einem bestimmten Grund gehen . Trotz all der Dinge, die der Leopard getan oder auch nicht getan haben mag, darf ich doch auch nicht vergessen, dass er mich verschonte – und warum.

Ich weiß, irgendwo im Park liegt er in seinem Versteck. Es ist vielleicht eine kleine Höhle oder ein dichtes Gewächs, ich glaube, ich weiß, wo man suchen müsste. Dort erwacht er nachts, ohne den Tag hier verbracht zu haben. Er geht auf die Jagd, schleicht durch die Nacht. Sie können ihn kaum sehen, bevor es zu spät ist: Nur Flecken im Dickicht.

Einst erschien ich nur zur Stunde des Schlafes, war ein Traumwesen, dass mit dem Erwachen ging. Ich jagte durch Dschungel, durch Steppe, über Asphalt und in Tiefgaragen: Dem Menschen war ich Vehikel, war ich Avatar und Traumfreund. Ich schlug meine Zähne in vielerlei Arten von Beute; Gazellen waren ebenso darunter wie Menschenväter und Menschenbrüder. Doch all dies reichte nicht. Ich wusste schon lang, dass es eines Tages geschehen würde, dass der Traum nicht auf ewig mein Reich bleiben durfte. Ein ums andere Mal suchte mich der Träumer zu verjagen, obwohl er es doch war, der mich träumte. Ich konnte nicht gehen, ich durfte nicht bleiben: ich lebte im Dschungel, tief verborgen von seinen Augen: er brannte alles nieder. Ich floh in die Steppe, litt Hunger und rastete an den wenigen Wasserstellen: er vergiftete mein Wasser.
Doch ebenso, wie er mich zu zerstören suchte, brauchte er mich auch. Ebenso, wie er den Feind in mir sah, erblickte er auch sich selbst in dem gleichen Bild. Schließlich musste der Widerspruch aufgelöst werden, so verlangt es die Natur: wenn Zwei nicht miteinander leben können, die eigentlich Eins sind, so muss das Eine eben zu Zweien werden. Und so lag der Träumer ein letztes Mal im Kampfe mit mir oder sich selbst; mein kräftiger Rücken hielt seinen Schlägen stand, wie er es immer getan hatte.

Doch diesmal barsten seine Fäuste, und sich selbst verschlingend gebar der Mensch mich auf dem steinernen Boden. Nur einen Moment hielt er inne und sah mich an, diesen Teil seiner selbst, von ihm erträumt, von ihm verfolgt: Dann lief er davon, die Hände voll von meinem Blut, und ließ mich, geschunden und geschwächt, zurück. Ich schleppte mich ins Dickicht, verbarg mich vor fremden Blicken und ließ meine Wunden heilen. Der Wald, so entdeckte ich auf meinen ersten Streifzügen, war reich an Kaninchen und Füchsen. Ein gutes Leben könnte ich hier führen, ein gutes, ein Blutleben, wie es meine Vorfahren schon verbracht hatten, über unzählige Generationen.

Und doch weiß ich, dass ich nicht bin wie sie. Ich bin kein Tier. Die Menschenwesen, die ich töte, verschlinge ich nicht, sie sind für mich ungenießbar: Stundenlang liege ich voller Reue vor ihren toten Körpern, bedauere ihren Tod und meine Mordlust. Doch ich muss es tun, werde es immer wieder tun. Auch wenn wir nicht mehr eins sind, so folgt mein Biss doch immer noch seinem Befehl. Ich bin keine Raubkatze, ich bin ein Traumwesen; Ich bin Vergeltung und schwärzeste Nacht. Ich bin Hass. Ich bin Tod. Ich bin sein Leopard.

edit: Das zweite Bild wurde mir von overclouded_tangle zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!