Bekenntnisse eines Wissenschaftlers

Diesen Artikel drucken 16. November 2009

Dies kann kein Plädoyer gegen die so genannten Wissenschaften sein: ein solches zu fertigen wäre widersprüchlich und sinnlos. Eine Anklageschrift zu fertigen ist unmöglich. Zwar sind die Verbrechen offenkundig, aber die Vorfälle sind in ihrer Vielzahl kaum zu erfassen; sogar der Anfang ist nicht leicht zu verorten. Vielleicht begann es schon mit den Griechen, vielleicht davor. Vielleicht auch viel später: Man kann es nicht so leicht einordnen. Aber man kann Beispiele angeben, unzählige Beispiele für das Gift und seine Wirkungsweise. Seht euch um: die Schulen sind voll davon, selbst die meisten Kindergärten. In den meisten ernsten Gesprächen ist es schon vorhanden, wenigstens latent. Es umgibt uns, und vielleicht ist das Grund, weshalb wir uns an seine Wirkung schon so sehr gewöhnt haben.Heiligtum
Die einfachsten seiner vielfältigen Ausprägungen beginnen meist mit Erklärungen. So erklärt man dem Kind, dass Schneeflocken nicht schweben können: sie fallen nur langsamer als andere Objekte, aber wie alle Dinge müssen sie sich der Gravitation beugen. Es gibt keine winzigen Engel und auch keine Feen, die sie sachte heben, ihnen ihre Anmut und ihren Glanz verleihen. Schneeflocken, so erklärt man es dem Jugendlichen vielleicht, sind kristalline Ansammlungen von gefrorenem Wasser, und wenn sie zur Erde zu schweben scheinen, dann ist das nur die Folge eines Kräftegleichgewichts zwischen Luftwiderstand und Gravitation. Ihr Aufleuchten im Gegenlicht ist eine rein physikalische Konsequenz, die mit den optischen Eigenschaften von Kristallen zu tun hat. Man muss nicht spitzfindig sein, um darin den Prozess zu erkennen; den eines Zerbrechens, eines Vernichtens von Vorstellungen. Andere Beispiele betreffen eher die Erwachsenen: So wird man nicht müde zu erklären, dass der Mensch das Resultat einer vom Zufall dominierten Entwicklung ist, die gemeinhin Evolution genannt wird. Die Existenz des Menschen besitzt keine auf einen Zweck ausgerichtete Berechtigung; er ist einfach nur da. Ebenso ist die Erde nicht das Zentrum des Universums, und nicht nur das, es gibt überhaupt kein Zentrum. Es gibt kein Gestirn, kein Objekt, um das sich alles dreht. Wir befinden uns am äußeren Rand einer durchschnittlichen Galaxie in einem durchschnittlichen Teil des Alls. Weiterhin, so wird erklärt, ist der Mensch im Kern eine deterministische Maschine, wie ein Dosenöffner oder eine Batterie, und bei allem, was wir tun, sind es doch nicht wir, die sich dazu entschließen, denn es gibt weder einen freien Willen noch ein Ich, für Dosenöffner und Batterien ebensowenig wie für den Menschen. Es gibt auch subtilere Varianten; kleinere, unauffällige Akte der Zerstörung. Einige dieser Manöver nennt man Statistik, andere Studie. Wie man sie auch nennen will, diese Anschläge auf unsere Träume, Wünsche und Hoffnungen, sie sind zahlreich, und nach und nach, so scheint es, weiten sie sich auf den gesamten Bereich dessen aus, was Menschen Wirklichkeit nennen wollen. Der Mensch glaubt an die göttliche Schöpfung – die Wissenschaften erklären ihm, dass es eine solche nicht gab. Der Mensch flüchtet sich in die Liebe – die Wissenschaften erklären ihm, dass es sich nur um einen chemischen Prozess handelt. Er flüchtet in den Wunsch danach, dass seine Kinder ein besseres Leben führen könnten – die Wissenschaft schärft ihm ein, dass auch die Sorge um den Nachwuchs ein alter, letztlich zufällig installierter Mechanismus ist.
Die Wissenschaften haben im Rahmen eines gigantischen Projekts über viele Hunderte Jahre hinweg systematisch Ordnung geschaffen in der Wirklichkeit; sie haben vermessen, sie haben kartografiert, sortiert, berechnet und studiert. Diese Ordnung begann vielleicht mit Dingen, die der Lebenswirklichkeit fern sind; mit den Planeten und Sternen, mit Begriffen von Glück und Moral, die wenig mit dem zu tun hatten, was der Mensch im Alltag denkt. Doch nach und nach haben Wissenschaftler, haben wir das Projekt ausgeweitet, bis es von den fernen Galaxien über das menschliche Verhalten zu den innersten Sehnsüchten, den tiefsten Wünsche der Menschen reichte.
Und, werte Kollegen, wir haben dabei Schätze gehoben und Unfassbares entdeckt; Wir haben Technologien entwickelt, den Alltag vereinfacht und Erklärungen geliefert.
Aber vor allem haben wir den Menschen ihre Vorstellungen genommen: Wir haben ihnen Erklärungen angeboten, die sie nackt in der Dunkelheit zurücklassen. Wir haben ihre Ideen, ihr kreatives Konstruieren der Welt verhindert und alles Wünschen als nutzlos entlarvt mit unseren Werkzeugen, den Zahlen und Daten und Theorien.

Wir sind Giftmischer, Verhetzer, und schuldig in allen Anklagepunkten; schuldig des Raubens von Illusionen. Schuldig des Zerstörens von Hoffnungen, der Vernichtung aller noch so bescheidenen Vorbilder.

Aber man kann uns nicht bestrafen. Warum?

Weil wir die Gerichte stellen; mehr noch, weil die Gerichte, wie wir sie heute kennen und Mittel der Gerechtigkeit nennen, unsere Idee sind. Uns gehört die Gerechtigkeit genau wie die Rechtfertigung. Kein Herrscher, kein Mächtiger kann sich auf Dauer unserem Wirken entziehen. Sie können einige von uns töten, sie können viele von uns einsperren; aber früher oder später werden sie den Verlockungen erliegen, den Kühlschränken, dem Breitbandanschluss, der Interkontinentalrakete.
Wenn die Menschen es wollten, dann könnten sie unsere Richter stürzen. Sie könnten die Gerichte abschaffen und ihre Mikrofaserkleidung ablegen: sie könnten das Auto stehenlassen und zu Fuß zu den Universitäten gehen, um sie niederzubrennen. Sie könnten, aber sie werden es niemals wollen: Und wenn sie es doch wollen, so wird das nur von kurzer Dauer sein. Am Ende zahlen sie gerne den Preis; Man mag von Macht sprechen, wenn jemand jeden Widerstand zerschlagen kann. Aber diese Autorität, die der äußeren Gewalt, kann nicht bestehen, nicht dauerhaft, denn gegen das Wollen vieler ist selbst Stein weich. Wahre Macht besitzt nicht der, der das Handeln kontrolliert. Doch wenn der Mensch den Kampf nicht wollen kann, dann wird er ihn niemals führen. Unser Preis für ihre Wünsche und Träume ist gut gewählt: sie werden das Geschäft nicht ablehnen.

Sie suchen

Diesen Artikel drucken 23. September 2009

In den Taschen ihrer Sakkos
Zwischen den Ritzen ihrer Sessel
An den Rändern ihrer Vorgärten

Sie durchwühlen
Festplatten und Handyspeicher
Schränke und Handschuhfächer
Essensreste und Weinkeller

Zählen ab, zählen durch
Autos
Häuser
Jobs

Und finden nichts
Weil doch alles da ist
Alles an seinem Platz
Alles und

Nichts.

Todesurteil

Diesen Artikel drucken 7. September 2009

Am 2. Verhandlungstag wurde die Anklageschrift verlesen. Sie war verrworren, und der Stimme des Staatsanwalts war neben der autoritären Grundhaltung eines Mannes im Staatsdienst so etwas wie eine gewisse Unbedarftheit zu entnehmen, so als ob man ihm selbst diese Schrift erst kurz vor Verhandlungsbeginn zugestellt hätte.

Jedenfalls erfuhr er, 42, ledig, arbeitslos, erst an diesem Tag, was ihm vorgeworfen wurde. Das heißt, eigentlich erfuhr er es nur ungefähr – ein halbes Dutzend Tatbestände schienen, jedenfalls auf den ersten Blick, in Frage zu kommen. Natürlich forderte man ihn auf, sich zu äußern. Es fiel ihm nichts ein; er beteuerte natürlich seine Unschuld, aber das schien niemand anders zu erwarten. Der Richter hörte sich seine Geschichte an, und stellte nur zwei Fragen; er fragte, ob er sich schuldig bekennen wolle, und ob die Zustände in der U-Haft erträglich seien. Er beantwortete die Fragen, während der Richter auf seine Notizen starrte. Die Protokollantin tippte monoton jedes Wort.

Auf dem Weg zurück in die Zelle versuchte er von seinem Anwalt zu erfahren, was nun geschehen würde; er sei nie politisch gewesen, und überhaupt könne es sich nur um ein Missverständnis handeln. Der Mann, ein junger Kerl mit durchgelaufenen Schuhen, reagierte nervös, fast ängstlich. Er murmelte nur, dass der Gerechtigkeit schon Genüge getan werden würde und dass sich das ganze sicher bald aufklären würde, wenn er nur kooperativ bliebe. Auf die Frage, ob er nun genauer sagen könne, was ihm überhaupt zur Last gelegt werde, blieb er zunächst stumm. Schwitzend sah er zu den Vollzugsbeamten, die unbeteiligt neben ihnen saßen. Es sei eine Farce, flüsterte er dann und konnte nicht aufhören, dabei zu zwinkern.

Todesurteil

Am nächsten Verhandlungstag saß ein anderer Anwalt neben ihm im Gerichtssaal, ein älterer, der viel resoluter auftrat und seine Fragen nur beantwortete, indem er aus einer schwarzen Mappe vorlas. Schließlich sah er ein, dass auch sein Verteidiger ihm nicht sagen wollte, warum er u.a. des Verrats angeklagt war und was nun geschehen würde, und sprach kaum noch mit ihm. Der Anwalt schien damit zufrieden.

Am 10. Verhandlungstag begann man, Beweise vorzubringen. Die Staatsanwaltschaft legte in endloser Folge Gegenstände und Papiere vor; am 12. Tag verbrachten sie den ganzen Vormittag mit der Zahnbürste des Angeklagten (niemand sprach seinen Namen aus, er war und blieb „der Angeklagte“), am 13. war es ein Brief, den er angeblich geschrieben hatte und in dem viele Worte auftauchten, die er hier zum ersten Mal hörte; wie es das Gesetz verlangte, wurde er an jedem Tag befragt, ob er sich zu den Beweisen äußern wolle. Die Protokollantin war die einzige, die von seinen Angaben Notiz nahm. Am 14. Tag legte der Staatsanwalt eine alte Arbeitsmontur vor, am 15. war es ein Buch, das er angeblich besessen hatte, und so ging es weiter, Gegenstände, von denen er nicht verstand, was sie mit den Vorwürfen zu tun hatten., wechselten sich mit ganz offenkundig gefälschten Beweisen seiner Täterschaft ab. Dabei schien niemand ernsthaft behaupten zu wollen, es sei bewiesen, dass er diesen oder jenen Gegenstand besessen, dieses oder jenes Flugblatt verfasst hatte; als er einmal den Staatsanwalt direkt darauf ansprach, blickten alle im Saal auf, und der Richter erklärte ihm, es könne nicht als sicher gelten, dass dies seine Habseligkeiten seien, es sei aber doch recht wahrscheinlich, da die Polizei diese Dinge in seiner Wohnung gefunden habe. Als er daraufhin andeutete, dass die Ermittlungsbehörden selbst vielleicht diese Beweise platziert hätten, fuhr ihn der Richter scharf an, er solle seine Zunge hüten. Daraufhin blieb er bis zum 30. Verhandlungstag stumm; die Tage schienen sich zu wiederholen, man behandelte eine Mischung aus Dingen, die ihm gehörten, aber nichts mit der Sache zu tun hatten, wie einen Staubsauger (16.) und eine alte Schreibmaschine (25.), die seit Jahren nicht mehr funktionierte, in die man aber offenbar ein ganz neues Band eingelegt hatte, und anderen Gegenständen oder Schriften, die ganz offensichtlich nicht ihm zuzuordnen war, so etwa eine Maschinenpistole (17.) oder zwei Briefe (24.), in unterschiedlichen Handschriften verfassst, an einen Mann namens Dimitri , von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem er am 30. Verhandlungstag in einem Anflug von Heroismus gebrüllt hatte, diese ganze Veranstaltung sei ein unrechtmäßiges Verfahren und alle Beteiligten eingeweiht, legte man ihm am 31. vor Beginn der Verhandlung einen Knebel an, und so blieb es für nächsten sechs Tage. Es waren große, starke Männer mit Handschuhen, die dies erledigten; ein Art stilles Abkommen führte dazu, dass er sich den Knebel fast selbst anlegte, während die Männer nur daneben standen und aufmerksam zusahen. Im Gegenzug wurden sie nicht grob.

Als die Aufnahme der Beweise geschlossen wurde und die Vernehmung der Zeugen begann, ließ der Richter ihm den Knebel abnehmen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass er sich nun zu benehmen habe, ansonsten würde er nicht zögern, die Maßnahme, wie er sie nannte, wieder anzuordnen.

Der Angeklagte hielt den Mund, wenigstens für eine Weile. Die ersten drei Zeugen (36.-54.), unter ihnen auch jener Dimitri, an den er angeblich Briefe verschickt hatte, waren ihm gänzlich unbekannt. Ihre Aussagen widersprachen sich nicht, und dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von der Geschichte machen, die sie zu erzählen versuchten; alles blieb nebulös und unbestimmt, immer wieder fielen Namen, teilweise von Personen, aber auch von Gruppierungen, die er nicht kannte und deren Zusammenhang oder Zusammenwirken niemand erklären wollte. Nachdem er einige Tage nur zuhörte, bis ihm klar wurde, dass man auch nicht erwartete oder auch nur wollte, dass sich ein beständiges Bild ergab, beschloss er, seine Verteidigung auf andere Weise zu führen. So begann er, mit ruhigen und gezielten Fragen nach dem Verhältnis der Zeugen zu ihm Widersprüche zu suchen. Meist sah er den Zeugen bereits beim Stellen seiner Fragen an, dass sie nervös wurden. Dimitri etwa fuhr sich unentwegt durch die Haare, eine andere Zeugin, deren Name geheim blieb, zitterte so sehr, dass sogar er es deutlich sehen konnte, obwohl er doch fast zehn Meter weit weg saß.

Doch seine Fragen brachten kein Ergebnis. Einmal sagte eine Zeugin auf seine Nachfrage aus, er sei als Schlosser angestellt gewesen (42.), was natürlich nicht stimmte (er hatte nicht einmal diesen Beruf gelernt), aber es geschah nichts weiter, als dass der Richter die Protokollantin, die schon zum dritten Mal ausgetauscht worden war, anwies, diesen Teil der Aussage zu ignorieren und aufzuschreiben, die Zeugin habe nicht geantwortet und sei deshalb mit einer Ordnungsstrafe von fünfzehn Tagessätzen zu belangen. In der Folge waren es immer häufiger Staatsanwalt und Richter, die seine Fragen an die Zeugen beantworteten, wenn diese nervös wurden. Schließlich herrschte ihn der Richter an, dass seine Fragen irreführend seien; außerdem wäre es längst als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass er all diese Menschen kannte. Als er weiterhin die gleichen Fragen stellte und einmal sogar den Staatsanwalt darauf hinwies, die Frage gelte nicht ihm, ordnete der Richter wieder sechs Tage Knebel an (49.).

So begann die Vernehmung der weiteren Zeugen, es waren mindestens 15, am 53. Verhandlungstag ohne seine Mitwirkung. Er kannte gut die Hälfte der folgenden Zeugen, die teilweise von seinem Verteidiger als Entlastungszeugen geführt wurden, Die meisten waren ihm nur flüchtig bekannt, so erkannte er den Besitzer des Kiosks in seiner Wohngegend und zwei ehemalige Arbeitskollegen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wirkten sehr eingeschüchtert, und die, die er kannte, wagten nicht ihn anzusehen und lasen von kleinen Zetteln ab, was sie zu sagen hatten. Im wesentlichen, soviel verstand er, waren sie nur geladen, um die Aussagen der ersten drei Zeugen zu stützen. Dabei waren die Aussagen selbst so platt und unbestimmt, dass keiner Zeugen allein die nur in Schemen zu erkennende Theorie der Staatsanwaltschaft bestätigte; nur einer der Zeugen, ein ehemals recht guter Freund, sagte tatsächlich Substanzielles aus, und seine Aussage war deutlich besser fingiert als die der anderen. Er vermutete, dass es sein Verteidiger war, der sich diese Einlage ausgedacht hatte: zunächst entlastete der Zeuge ihn. Offenbar war er gar nicht instruiert worden, und so bestritt er beinah alles, was während der Verhandlung bisher ausgesagt und dargelegt worden war. Erst am dritten und letzten Tag seiner Vernehmung kam der Zeuge sichtlich verstört und mit Striemen im Gesicht zur Verhandlung. Die Verteidigung ließ die Aussagen noch einmal zusammenfassen, bis schließlich der Staatsanwalt anmerkte, noch eine Frage zu haben und dem Zeugen einen offenbar gefälschten Brief vorlegte, welcher diesen ebenfalls mit Dimitri in Verbindung brachte. Wie gewünscht „brach der Zeuge zusammen“, wie der Richter es formulierte, und widerrief seine Aussagen. Sein Verteidiger entschuldigte sich lächelnd, aber „zerknirscht“ bei den Anwesenden, auch bei dem Angeklagten, zu dessen Entlastung er den Zeugen ja aufgerufen habe. Die nächsten zwei Verhandlungswochen verbrachte der Angeklagte in Hand- und Fußfesseln sowie geknebelt wegen „fortgesetzter Störung des korrekten Ablaufs des Verfahrens und Angriffs auf seinen Rechtsvertreter“. Als ihm die Fessel und Knebel wieder abgenommen worden waren, stand mit dem 73. Verhandlungstag bereits das Plädoyer des Staatsanwalts an. Er war recht gespannt, weil er zumindest hoffte, jetzt zu erkennen, welche Beweise und Taten man ihm konkret anlasten wollte, wurde aber bald enttäuscht, weil auch die Zusammenfassung der Staatsanwaltschaft so verworren blieb, dass am Ende nur drei Dinge klar wurden; er, der Angeklagte, sei schuldig (wessen?) und dies sei durch das Verfahren eindeutig belegt worden (wodurch?).

Weiterhin sei er mit dem Tode zu bestrafen.

Dies hatte man ihm schon früh in Aussicht gestellt, und so war er nicht überrascht, als der Staatsanwalt diese Strafe forderte; nachdem er es mit Kooperation versucht hatte, mit Argumentation, dann mit Subversion und schließlich sogar mit roher Gewalt (dafür hatte er die Knebelstrafe bekommen), war er des Prozesses so müde, dass ihn nur noch der Ausgang interessierte; er stellte keine Fragen mehr, und wenn man ihn etwas fragte, dann wiederholte er nur noch, er sei unschuldig, woraufhin die Protokollantin jedes Mal notierte, er verweigere die Aussage.

Dennoch dauerte es drei Tage, bis der Staatsanwalt sein Plädoyer beendet hatte, und weitere fünf, bis auch sein Verteidiger Position bezogen hatte; dieser argumentierte, er sei zwar schuldig, dennoch solle der Staat Milde walten lassen; er forderte eine lebenslange Haftstrafe für seinen Mandanten. Es folgten einige Tage, in denen sich das Gericht mit teilweise lächerlichen Details beschäftigte; man prüfte einen Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis, da dort seine Zuckerkrankheit besser zu behandeln sei (dem Antrag wurde letztlich stattgegeben; er hatte gar kein Diabetes, auch wenn drei Ärzte das Gegenteil aussagten) und einen weiteren, der mit Wahl seines Verteidigers zu tun hatte und schließlich abgelehnt wurde. Als man ihm sagte, das Urteil sei bis zum 90. Verhandlungstag zu erwarten, war er darüber sogar erleichtert; egal wie es ausging, es würde ausgehen.

Am 87. Verhandlungstag schließlich war es an ihm, sich zum letzten Mal vor der Urteilsfindung zu äußern. Er sei unschuldig, bekräftigte er nur; das schien dem Gericht nicht zu reichen.

Der Staatsanwalt starrte ihn an; ebenso der Richter, sogar die Protokollantin sah zu ihm auf. Niemand im Gericht sagte etwas; keiner regte sich. Eine halbe Stunde ging das so, dann fragte er resigniert nach, was man noch von ihm hören wolle: er sei keines Verbrechens schuldig, und mehr könne er nicht sagen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis schließlich sein Verteidiger, mit dem er seit langer Zeit kein Wort mehr gewechselt hatte, laut fragte, ob er sich von diesem Gericht ungerecht behandelt fühle.

Einen Moment lang witterte er eine neue Falle, dann aber antwortete er: Ja, wenn man ihn so frage, dann sei dieses ganze Verfahren eine einzige Farce, ein riesiges Lügengebäude, in dem Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Polizei gleichermaßen beteiligt seien.

Er erwartete eine weitere Ordnungsstrafe, womöglich sogar schon das Urteil oder einfach nur Gelächter darüber, dass er so Offensichtliches, so offensichtlich Nutzloses sagte, aber es blieb still im Saal.

Schließlich bekannte der Staatsanwalt, dass er möglicherweise tatsächlich befangen sei, jedenfalls nicht für diesen Prozess geeignet, und deshalb sein Amt vorübergehend niederlege, bis die Sache geklärt sei. Der Verteidiger erklärte, so wie die Dinge lägen, müsse er wohl tatsächlich einen Befangenheitsanstrag gegen den Richter und sich selbst stellen; zu spät erkannte der Angeklagte, worum es eigentlich ging. Der Richter gab nachdenklich zu, möglicherweise ungeeignet zu sein, und ließ das Verfahren vertagen.

Drei Monate später begann das neue Verfahren; alle Beteiligten waren, bis auf ihn, ausgetauscht worden. Am 2. Verhandlungstag, der für den Angeklagten schon der 89. war, wurde die Anklageschrift vorgelesen, die man nur unwesentlich verändert hatte.

Am 117. Verhandlungstag gab der Angeklagte sein Geständnis zu Protokoll. Das Urteil sollte zwei Tage später verkündet werden, und Expertisen, die den Ausschluss des Geständnisses und – damit verbunden – eine Neuaufnahme des Verfahrens nahelegten, waren schon angefertigt worden. Die entsprechenden Zeugen, Ärzte und Psychologen, hatte man bereits eingeschüchtert oder bestochen, um die emotionale Instabilität des Angeklagten und die massiven Einschüchterungen durch anonyme Mitglieder des Justizvollzugs zu belegen. Das Verfahren würde in die dritte Runde gehen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Schattenarchitekt

Diesen Artikel drucken 22. Februar 2009

Jede Maschine, sei sie noch so groß oder klein, besteht aus einzelnen Teilen, denen jeweils eine bestimmte Funktion zukommt. Die kleine Apparaturen, zu deren Bau selbst Menschen fähig sein mögen, bestehen aus Zahnrädern, aus Drähten und Platten, Hebeln und Lämpchen. Andere, kompliziertere, wie etwa diejenigen, die ihr benutzt, ohne sie gebaut zu haben, bestehen selbst aus Menschen.
Auch die gigantische Maschine, die die Welt beständig schafft und erneuert, der Apparat, den ihr nur schemenhaft begreift, mal als schöpferische Natur, mal als einfältigen Gott, besteht aus einzelnen Teilen.
Ihrem ungleich höheren Zweck entsprechend sind ihre einzelnen Bauteile komplizierter als eure einfachen Schwungräder und Scharniere. Auch sind die Elemente der Großen Maschine in sich wiederum aus Teilen zusammengesetzt, und jedes noch so kleine Teil eines Teiles ist größer und komplizierter als jede eurer Maschinen. Jedes einzelne für sich ist sinnlos, ebenso wie eine Feder aus euren mechanischen Uhren allein nichts bedeutet und zu nichts fähig ist, was einem höheren Zweck entspräche: So ist es auch mit uns.

Der SchattenarchitektEines der Elemente der Großen Maschine bin ich, und kein anderer Grund befiehlt meine Existenz. Meine Funktion bestimmt mich wie auch jedes andere Teilchen der Maschine durch seine Funktion bedingt ist; darüber hinaus gibt es nichts zu fragen, auch wenn ihr es vielleicht als unverständlich sehen werdet.
Wir, die Teile der Großen Maschine sind, wurden mit ganz verschiedenen Eigenarten entworfen. Einige von uns etwa füllen die Zeit nach, wenn sie zur Neige zu gehen droht. Andere schöpfen ein wenig ab, wenn zuviel davon in der Welt ist. Wieder andere schieben die Sterne und Planeten durch das All, die größten unter uns gar die Galaxien. In einigen von uns wurde die Fähigkeit angelegt zu erschaffen, in manchen dagegen die zu zerstören.
Ich bin nicht mehr als ein geringes unter der schier unendlichen Zahl der Elemente, auch wenn viele von euch mit meiner Arbeit vertraut sind. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man mir die Kenntnis eurer Sprache eingab. In dieser niederen Sprache, die eure Ohren verstehen können, würdet ihr mich einen Architekten nennen, genauer, den Architekten der Schatten.

Ich allein bin es, der sie entwirft, sie mit all ihren Eigenarten bestimmt und erschafft. Es mag euch verwundern, da ihr meine Schatten nicht einmal zählen könnt, aber ich kenne jeden einzelnen der Myriaden von Schatten beim Namen, und jeder trägt einen anderen. Beinahe meine ganze Zeit verwende ich darauf, sie immer wieder  neu zu formen und zu entwickeln. Mit dem geringen künstlerischen Talent, dass man mir gegeben hat, suche ich die Glorie des Ganzen auch in den Schatten auszudrücken, und auch ich wachse an dieser Aufgabe. So dauerte es Äonen, bis ich verstand, dass es ausschließlich auf den Charakter des Schattens ankommt, nicht auf seine Form oder seine äußere Beschaffenheit. Von meinen frühen Arbeiten ist daher nicht viel geblieben, aber eine könnt ihr vielleicht sehen, wenn euer grelles, künstliches Licht scharf über einer Kante abfällt: Sie stammt noch aus einer Zeit, da es nicht einmal die Sterne gab.

Manche meiner imposantesten Werken werdet ihr nie erblicken, weil eure Sonne verlöschen wird, bevor ihr die Orte auch nur erreichen könntet, an denen ich sie geschaffen haben; aber die subtilsten, die auf die eine oder andere Art eindrucksvollsten meiner Kreationen existieren fast ausschließlich in eurer Nähe. Es gibt keine Regel dafür; es gibt kein Gesetz, das dies so vorschreibt. Aber ich denke, meine Sympathie für euch ist kein Zufall. Nein, man hat es sicher absichtlich so eingerichtet: Und so bin ich meist in eurer Nähe. Mit Leichtigkeit könnte ich die äußersten Bereiche des Universums erkunden. Ich könnte Schatten malen, die von gigantischen toten Sternen geworfen werden oder solche, deren Existenz allein euch schon erschrecken würde. Aber stattdessen verbringe ich so viel Zeit wie möglich damit, die Schatten auf Bahnsteigen zu malen; die Schatten von Butterblumen, von Bergen.

Es ist aus eurer Sicht schon eine lange Zeit vergangen, seit ich euch entdeckte. Schon die ersten von euch hatten dieses besondere an sich, dass ich mir immer nicht zu erklären vermag. Schnell wurde mir klar, dass ihr mir, so primitiv ihr auch seid, in gewisser Weise ähnlich seid: auch ihr versteht etwas von den Schatten; Ich kann es sehen, wenn ihr sie anseht. Aber auch über euch huschen Schatten; manche eurer Gesichter sind voll davon, und in ihrer Art und Verschiedenheit sind sie kaum zu zählen. Einmal fuhr ich in einer eurer Straßenbahn und sah einen alten Mann, der kein zu Hause mehr hatte: nicht weniger als 78 Schatten zählte ich in seinem schlafenden Gesicht, und keiner von ihnen hatte etwas Ordinäres.

So könntet ihr mich manchches Mal beobachten; gern fahre ich in Zügen. Meist sehe ich in die Dunkelheit, beobachte die Silhouette des Zuges. Ich weiß nicht, woher eure Leidenschaft für die Schatten kommt. Meine wurde mir in die Wiege gelegt, bei euch bin mir nicht mehr sicher. Ich beobachte euch gerne: auch wenn ihr so simpel konstruiert seid, auch wenn eure Körper so zerbrechlich sind und euer Verstand so gering, da ist etwas besonderes an euch. Man erwartet von mir nicht, dass ich Fragen stelle, und so besitze ich nicht die Neugier, Fragen zu stellen oder gar nachzuforschen, aber ich denke, eins ist mir inzwischen klar: Ihr seid nicht Teil der Großen Maschine.

Ein Gebäude (3)

Diesen Artikel drucken 5. Januar 2008

Wenn er nachts durch die Flure schleicht, dann bleibt er ab und zu stehen und horcht: Er schaut links und rechts die Gänge hinunter. Manchmal bleibt er auch unvermittelt stehen und lauscht auf etwas, dass nur er hören kann. In diesem Gebaren hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Katze. Er bewegt sich kaum so geschmeidig wie eine Katze, aber ebenso leise; vielleicht ähnelt er auch eher eine Ratte, die mal hier, mal dort schnüffelt und etwas Essbares zu erspähen sucht; ja, eine Ratte, das kommt auch seiner Gestalt recht nahe.

Früher, als noch alles anders war, da war er ein recht hochgewachsener Mann mit einem etwas dümmlichen, aber klaren Ausdruck in den Augen gewesen: Etwas besonderes war er nie. Seine Vergangenheit war, inzwischen sogar für ihn, nicht der Rede wert; irgendwann nach einer mittelmäßigen Karriere als Kleinkrimineller hat er einmal angefangen, als Hausmeister zu arbeiten, und das tut er immer noch. Ein gewisses Geschick für die kleinen technischen Dinge war ihm schon immer gegeben gewesen, und so konnte er in diesem Beruf einigermaßen über die Runden kommen. Vor diesem Gebäude hat er schon viele andere betreut, Facility Management nennt man das heute, aber das weiß er nur aus seinem Arbeitsvertrag, und an den denkt er nur selten.
Die Menschen, die ihn heute noch sehen, haben seine Veränderung kaum erkannt; sie meiden ihn, wenn sie können, ansonsten sind sie so freundlich wie nötig, um das zu bekommen, was sie von ihm brauchen; meist Hilfe bei verklemmten Türen, streikenden Steckdosen, verstopften Abflüssen, Blutflecken im Flur.
Auch er selbst ist sich der Veränderung nicht immer bewusst; noch kann man von einem Leben sprechen, dass er lebt, vielleicht werden es einmal zwei verschiedene werden, die nichts voneinander wissen. Physisch gesehen ist er in jedem Fall immer noch eine Einheit, auch wenn sich sein Aussehen verändert hat; Sein Rücken ist ganz krumm geworden in den wenigen Jahren, die er hier schon arbeitet. Die Schultern geben langsam der fehlenden Spannung der Nackenmuskeln nach und haben sich dicht an das Rückgrat gelehnt, und so macht er den Eindruck eines alten Kirchenschiffs, das langsam in sich zusammensinkt. Die Augen sind meist blutunterlaufen und liegen in tiefen Kratern, im Halblicht der nächtlichen Beleuchtung kann man sie kaum erkennen. Manche der Schwestern tuscheln, er trinke, aber das stimmt nicht.

Aber nicht nur er hat sich verändert; auch alles um ihn herum ist anders geworden. Als die seltsamen Selbstmorde begannen, war er es gewesen, der Gitter vor den Balkonen anschraubte. Doch danach waren immer wieder Menschen vom Dach in den Tod gestürzt, und niemand konnte es sich erklären; Studenten waren unter den Toten, Ärzte, Patienten, Schwestern. Die meisten hatten sich gegen Morgen das Leben genommen, meist während eines langen Bereitschaftsdienstes oder nachdem sie einige Stunden geschlafen hatten. Inzwischen ist das der Grund, warum immer mehr Angestellte das Gebäude verlassen und nicht wiederkommen. Auch die Patienten meiden das Gebäude, wenn es möglich ist. Einen Teil der Bettenhäuser hat man schon stillgelegt, weil es nicht genug Personal gibt. Die wenigen, die bleiben oder bleiben müssen, weil sie keine andere Anstellung finden, leisten nur ungern Nachtdienste; manche munkeln, es spuke in dem Komplex. Die Ärzte, die Schwestern, ja sogar schwer kranke Patienten versuchen sich in der Nacht mit Fernsehen, Spielen und Aufputschmitteln wach zu halten, um ja nicht einzuschlafen: Mit trüben Augen und leerem Blick wanken sie dann durch die Gänge, starren auf die Uhren, warten, gehen, warten.

Es gibt nur noch einen, der in diesem Gebäude schläft, und das ist er, der Hausmeister. Er ist schon immer von einfachem Gemüt gewesen, und auch deshalb ist er sich dessen gar nicht so recht bewusst. Es fing ganz kurz nach den ersten Selbstmorden an. Er erinnert sich gut daran, denn er war es, der die Blutlachen im Innenhof beseitigen musst; das gefiel ihm nicht, beim ersten Mal war ihm sogar schlecht gewesen. Doch nach ein paar Malen gewöhnte er sich daran, es war auch nur Dreck, Dreck, wie er ihn jeden Tag beseitigte, wenn etwa ein Unfallopfer durch die Flure geschoben wurde.

Dann begannen die Träume. Es waren Albträume, aber seltsame sterile; viele der Menschen, die hier arbeiteten, hatten auch solche gehabt, aber er war der einzige, der sich an einzelne erinnerte. Anfangs waren sie schockierend gewesen, Träume von seltsam verdrehter Grausamkeit, Bilder von den Blutlachen, aber aus einer merkwürdigen Perspektive betrachtet. Menschen, die in den Tod stürzten, Schreie und immer wieder ein verkrüppeltes Lachen wie von Blechdosen, die man zusammendrückte. Und am Ende jedes Traumes ein riesiges Raubtier, so riesig, dass man es nur hören, aber nicht sehen konnte, als wäre man bereits verschlugen worden.

Damals hatte auch er darüber nachgedacht, das Gebäude zu verlassen und zu kündigen. Aber draußen gab es nichts für ihn; eine Frau oder Freundin hat er nie gehabt, Freunde auch kaum. Seine Eltern waren früh gestorben. Vor den Träumen hatte er das Gebäude schon seit Jahren nicht mehr verlassen; er wohnt in einem ausrangierten Patientenzimmer. Was er braucht, kauft er im hauseigenen Laden, wo er Rabatt bekommt; er isst immer in der Kantine.
Es gab nichts, wo er hätte hingehen können, und deshalb blieb er. Am Anfang fiel ihm das schwer, die Träume verstörten ihn mehr und mehr, er schlief wenig. Doch nach einer Weile verflog der Schrecken. Er hatte sie immer noch, diese Albträume, sie machten ihm immer noch Angst; aber es war eine andere Art von Angst, eine sterile vielleicht. Er wachte nicht mehr schweißgebadet auf. Seine Angst vertrocknete langsam, wurde zu einer Konstante seines Alltags, die ebenso wie andere Routinen keine Reaktion mehr provozierte. Mehr noch; in gewisser Weise begann er, etwas Beruhigendes in der ständigen Präsenz dieses großen Tieres zu sehen.

Dann, irgendwann, fiel die Lüftung in seinem Zimmer aus; er bemerkte das nicht sofort, denn das Rauschen der kleinen Lüfter in Decken und Wänden ist zwar allgegenwärtig, aber leise – so leise, dass es drei Nächte dauerte, bis er es bemerkte.
Was ihm auffiel, das war das Fehlen der Träume – sie schwanden zusammen mit dem Flüstern der Lüftung.
Er muss den Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen erkannt haben. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, tauschte er nach diesen drei Nächten den Lüfter in seiner Decke aus und hatte fortan wieder seine Träume.

Er vermutet manchmal, diejenigen, die schon den Tod gefunden haben, könnten ähnliche Träume gehabt haben. Dann fragt er sich auch, warum er nicht gesprungen ist, und weiß die Antwort, ohne sie aussprechen zu können. Seit die Träume da sind, ist er unwirscher geworden, er spricht kaum noch mit anderen Menschen. Die anderen, selbst verängstigt, manche vielleicht schon vollkommen von Sinnen, meiden ihn umso mehr, aber das stört ihn nicht mehr. Wenn sie etwas von ihm wollen, dann lächelt er sie schief an und sein Gegenüber erkennt, dass dieses Lächeln aufgesetzt ist, nur eine Maske. Manche erkennen noch etwas anderes, etwas Bedrohliches in diesem Lächeln, etwas, dass sie an kaltes Linoleum erinnert, aber sie brauchen ihn, und deshalb akzeptieren sie das; einmal wollte man ihn ersetzen, aber niemand wollte seine Arbeit machen. Also ist er geblieben und kommt seinen Aufgaben nach: Wenn ihn jemand bittet, die losen Teile der Balkongitter wieder festzuschrauben oder die Wegweiser an den Wänden neu zu tünchen, dann lächelt er wieder schief und tut es.
Nachts jedoch, wenn er fast allein in dem Gebäude ist, da steht er manchmal auf, schleicht durch die Gänge, um ungesehen zu bleiben, und schraubt die Gitter wieder lose. Oder er reißt wahllos Pfeile von den Wänden. Oder sperrt Türen auf, die eigentlich verschlossen bleiben sollten.

Ihm ist nicht zu jeder Zeit klar, dass er das tut. Noch ist seine Psyche zwar ein zusammenhängendes Ding, eine Person. Doch sie ist verbogen, gekrümmt wie sein Rücken, und manchmal kann man deshalb nicht mehr von einem Ende hinüber zum anderen sehen. Dann kann er sich nicht daran erinnern, Hausmeister zu sein; oder er kann sich nicht daran erinnern, nachts aufgestanden zu sein.
Manchmal bemerkt er diese Lücken sogar; aber es berührt ihn nicht, im Gegenteil. Er ist gern die Ratte, er mag seine Metamorphose: dieses Wort kennt er noch nicht lange, jemand hat es ihm eingeflüstert. Er spricht es immer noch falsch aus, wenn er mit sich selbst redet.
Seine Metamorphose, seine Veränderung begann, nachdem er die Lüftung in seinem Zimmer erneuert hatte und er wieder seine Träume durchlebte.

Denn von nun an sprach das Raubtier zu ihm.

Ihm ist nicht klar, warum das so ist. Er versteht auch nicht alles, was dieses Ding zu ihm sagt. Manchmal jedoch erzählt es ihm einfach Geschichten, oft gruselige, brutale Märchen, in denen es um lebende Häuser geht und um kleine tückische Wesen, die sie bewohnen. In einigen Nächten trägt es ihm nur lange, monotone Gedichte vor, deren Begrifflichkeiten er nicht versteht; doch er versteht den Ausdruck, den die Stimme des Raubtiers dabei hat.
Manchmal gibt ihm das Ding auch Anweisungen; etwa den Auftrag, die Tür zum Dach wieder aufzuschließen. Er befolgt die Anweisungen immer sofort. Danach erzählt es ihm oft eine neue Geschichte. Die Stimme in seinem Kopf lässt nie einen Zweifel daran, dass er nichts bedeutet; er und das Tier werden nie Freunde sein, aber von Freundschaft hat er nie viel gehalten. Das Ding in seinen Träumen ist viel mächtiger und stärker als er, auch das versteht er. Aber das Tier braucht ihn für einige Tätigkeiten, und das macht ihn zu einem mächtigen Mann. Er hat sich noch nie im Leben so mächtig gefühlt, bevor er zu der Ratte wurde. Ratte, so nennt ihn das Ding in seinen Träumen.

Inzwischen kann er das Tier auch tagsüber hören, wenn er wieder durch die Korridore schleicht, leise und verstohlen; die Lüfter sind überall in dem Gebäude, die Stimme ist allgegenwärtig. Manchmal bleibt er dann stehen, meist unter einem der Lüftungsrohre, und lauscht der Stimme.
Ihm ist klar geworden, dass dieses Tier in den Mauern stecken muss, oder dahinter; mehr weiß er nicht, aber mehr will er auch nicht wissen. Ihm reicht die Gewissheit der Stimme in seinem Kopf. Er findet es nicht mehr falsch, wenn die Menschen vom Dach stürzen: Das Tier hat Recht, denkt er. Die anderen gehören nicht hierher. Diese Welt gehört nur dem Raubtier – und ihm.

Das Tagebuch – Insekt (3)

Diesen Artikel drucken 8. Dezember 2007

Dritter Eintrag:

Mein letzter Bericht ist noch nicht lange her, zumindest in meinem Empfinden; ich habe es aufgegeben, an diesem Ort ein echtes Maß für Zeit zu suchen .
Ich habe schon vieles gesehen in dieser Wohnung und sehe ständig mehr. Im Moment lese ich – d.h. liest das Wesen, das ich für mein Alter Ego halte – ein Buch, einige Meter entfernt. Er sitzt ganz ruhig da und liest, obwohl ich keine Buchstaben auf den Seiten sehe, nicht einmal einen Titel. Es ist ein dickes, großformatiges Buch, vielleicht ein Lehrbuch. Ich denke, ich habe studiert; sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Ich schätze mein Alter auf 20 bis 30; wenn ich mir die Einrichtung der Wohnung dazu ansehe, bin ich wahrscheinlich wirklich Student.
Natürlich sehe ich mir nicht stundenlang beim Lesen zu. Noch vor kurzem fand eine Geburtstagsfeier statt; einer der Gäste hätte sich beinahe auf mich gesetzt, hockte sich dann jedoch wortlos auf den Boden neben der Couch; auch hier bemerkt mich niemand, es ist so, als wäre ich nicht da. Und doch ist es hier anders als in dem Kinderzimmer. Es ist so, als befände sich die Wohnung und die Menschen in ihr in einer Art Fluss – ja, alles fließt. Es gibt eine gewisse Unschärfe in allem, was ich sehe, als wäre da ein durchscheinender Vorhang vor meinen Augen. Die einzelnen Szenen besitzen zwar einen Ort, einen ausgedehnten Moment, aber darüber hinaus ist nichts fest. Alles bewegt sich. Nein, das trifft es wohl nicht ganz; ich denke, mir wird etwas Bestimmtes gezeigt, ohne dass ich erkennen könnte, was es ist. Vielleicht ist es natürlich auch nur Zufall – aber nein, das glaube ich nicht. Manchmal haben die Ereignisse einen speziellen Ablauf, eine bestimmte… Art. Es ist schwer zu erklären; es ist ein wenig so, als kämen die Dinge, die hier geschehen, von einem uralten Band. Manchmal stockt es, bleibt kurz stehen, als wolle es etwas verdeutlichen; manchmal läuft es sogar einige Sekunden vor und zurück. Andere Szenen dagegen erscheinen mir gestaucht, als würde das Band sich schneller abwickeln, so wie die Geburtstagsfeier, die plötzlich schon wieder vorbei war.

Ich weiß nicht, wann es begann – ich saß eine Weile dort, auf dem Sofa. Ich berichtete schon davon, oder? Ja, ich sehe es, davon habe ich schon geschrieben. Irgendwann hörte ich ein Türschloss leise klicken, dann ein weiteres. Ich wartete – doch es kam niemand. Vielleicht wäre auch nie jemand gekommen, hätte ich einfach nur weiter auf der Couch gesessen, wer weiß das schon; ich jedenfalls stand auf und untersuchte die Türen erneut.
Die Tür zum Bad öffnete sich mühelos. Ich bin mir sicher, sie war zuvor verschlossen gewesen, doch jetzt konnte ich eintreten. Wasserdampf schlug mir entgegen, und das Rauschen von Wasser. Jemand duschte, verborgen durch den Vorhang. Einen Moment lang, das kannst du dir sicherlich denken, zögerte ich. Dies ist sicher wieder ein Spiel – natürlich. Aber dennoch, man beobachtet niemanden beim Duschen, oder? Selbst, wenn er nur eine… ich weiß kein Wort dafür.
Nichtsdestotrotz musste ich, wollte ich erfahren, wer dort in meinem Badezimmer duscht; zumindest lag die Annahme nah, dass es meine Wohnung war. Einige der Poster im Wohnzimmer kommen mir vage bekannt vor, und außerdem habe ich unter der Couch ein Pappschachtel mit ein paar meiner alten Muscheln gefunden. Sie waren nicht so schön poliert wie die gekaufte auf dem Tisch, aber einige von ihnen sind zweifelsohne die selben wie jene aus der Kiste, die ich hierher mitnahm; seltsam, was nur fand ich so besonders an diesen Skeletten.
Wie auch immer, ich schob also den Duschvorhang zurück. Dahinter war – eine Frau. Sie bemerkte mich nicht, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
Vielleicht wirst du nicht verstehen, warum ich da blieb und sie beobachtete – unter normalen Umständen wäre es sicherlich absolut verwerflich, aber gewöhnlich sind die Umstände nun sicher nicht. Und so blieb ich; ich kann dir nicht sagen, wie lange. Das ganze dauerte vielleicht zwanzig Minuten, vielleicht vierzig, vielleicht sogar eine Stunde. Ich sagte schon – hier scheint alles im Fluss zu sein.
Die Frau war sicher hübsch, das kann ich sagen. Ich schätze sie auf Mitte 20, höchstens. Ihre Haut war noch makellos, und auch in ihrem Gesicht zeigten sich keine Falten. Ihre Haare waren schwarz, ganz schwarz, ihre Augen braun. Sie hatte eine wunderbare Figur, auch wenn die ganze Szene kaum etwas Sexuelles besaß – versteh mich nicht falsch, sie war attraktiv und nackt, aber eben auch so… weit entfernt. Ich hatte dieses Gefühl schon oft; dass alles so weit entfernt ist. Was ich sehe, das macht eine lange Reise bis zu meinen Augen, und auf dem Weg wird das Licht alt. Ich will nicht behaupten, diese Frau hätte mich nicht angesprochen – das würdest du vermutlich ohnehin nicht glauben. Aber es war etwas Gedämpftes, Leichtes. Etwas Vergangenes vielleicht.
Nun, ich habe sie nicht erkannt. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor; auch ihr Körper. Etwas äußerst Vertrautes war an ihr, ich konnte es fast greifen, aber – ich erkannte sie nicht. Da war auch keine Emotion, kein Gefühl, nichts. Inzwischen weiß ich, dass ich mit ihr zusammen gewesen sein muss, eine lange Zeit sogar, und das stimmt mich traurig. Sollte ich mich nicht daran erinnern? Ein wenig zumindest. Es hätte mehr bleiben müssen als diese zerstreute körperliche Vertrautheit, oder?
Ich blieb also dort neben dem zurückgezogenen Vorhang stehen. Eine ganze Zeit lang musterte ich sie nur, musterte sie ganz, um doch einen Menschen zu finden, den ich erkennen könnte, aber ich fand niemanden, nur diese halbfremde Frau in meinem Bad. Eigentlich fand ich sogar weniger als eine Fremde; je länger ich hinsah, desto verwaschener wurden ihre Züge, desto fratzenhafter ihre Proportionen. Mein Blick war so starr, dass ihre Arme und Beine fast zu Streichhölzern wurden; ihre Brüste zerfielen in zerquetschte Kugeln. Ihre weiche glatte Haut verdarb, wurde zu einem bräunlichen Panzer, der matt glänzte.
Das machte mir keine Angst; vielleicht erkannte ich sie darin, in dieser Karikatur. Etwas ließ mich an ein Insekt denken dabei; ein ungelenkes, dummes Insekt, dass die Beinchen und die Ärmchen hebt und sich mal hier, mal dort schrubbt, als würde das etwas besser machen.
Ich weiß nicht, was mich zu diesem Gedanken trieb; aber am ehesten erkenne ich dieses Wesen in dem Insekt wieder, dass ich mir vorstellte. Irgendwann jedenfalls stellte sie das Wasser ab und stieg aus der Badewanne; ich ging hinaus und hörte die Tür hinter mir wieder zuschnappen; ich denke, ich hatte gesehen, was ich sehen sollte.
Danach habe ich sie noch oft gesehen, diese Kreatur, meist bekleidet. Ich denke, wir wohnten hier zusammen; ich habe sie mit mir frühstücken sehen, ich weiß nicht, wie oft. Ich sah mich mit ihr Fernsehen, auch wenn ich die Filme nicht wirklich verfolgen konnte. Einige Male fand ich eine Idee, einen Anflug von Vertrautheit in den verwaschenen Streifen auf dem Bildschirm, mehr nicht. Für mich blieb der Schirm blind. Ich sah mich mit ihr schlafen; ich kann nichts Falsches mehr daran erkennen, es zu beobachten, seit ich dieses Insektenbild im Kopf habe.
Ich sah auch viele andere Szenen, aber die meisten davon schienen sich zu überschneiden; selbst das Sonnenlicht vor den trüben Scheiben wechselt seltsam unregelmäßig mit der Dunkelheit, so dass ich beides manchmal nicht genau trennen kann. Ich sprach schon vom Fließen, oder? – Ja, das tat ich.
Gern würde ich dir genauer sagen, was ich noch beobachtete. Aber auch in mir bleiben die einzelnen Ereignisse seltsam verbunden. Es fällt mir schwer, einzelne herauszugreifen, ohne alle fallen zu lassen. Ich weiß etwa, es gab da einen Streit zwischen meinem Alter Ego und ihr, vielleicht auch mehrere; aber viel mehr kann ich nicht sagen. Überhaupt bleiben mir Dialoge hier ebenso verborgen wie das Bild auf dem Fernsehschirm; ich höre die Personen reden, wie eben auch die Menschen auf der Party vor kurzer Zeit, aber ich verstehe nicht einmal Silben. Es ist so, als würde ich an einer dicken Wand lauschen. In manchen Gesprächen meine ich, einen fernen Inhalt zu erkennen; aber er bleibt nebulös und kaum greifbar.
Es gibt nur eine Szene, von der ich dir noch berichten sollte, solange hier Ruhe herrscht; sie ist mir genau im Gedächtnis geblieben, wohl auch, weil sie so lange anhielt; ja, anhalten ist das richtige Wort.
An einem Abend (ich glaube, es war ein Abend) saß er hier genau wie er es jetzt auch tut. Dann jedoch hörte er wohl ein Geräusch, dass ich nicht genau einordnen konnte, und stand auf. Zunächst dachte ich, dies sie nur ein weiterer Übergang, ein weiterer Wechsel in der Zeit. Doch dann sah ich eine scharfe, rote Sonne durch die Fenster scheinen, und mir wurde klar, dass etwas wichtiges geschehen würde.
Er ging also aus dem Zimmer. Ich blieb sitzen und hörte nach einigen Sekunden das leise Plätschern von Wasser; ich hätte wieder einfach dort bleiben können, abwarten können. Doch so lange ich auch gewartet hätte, es wäre wohl nichts geschehen. Also stand ich auf, um ihm folgen; ich fand ihn im Bad, er stand dort und betrachtete sie, während sie duschte.
Ich weiß nicht warum, aber ich konnte sie nicht mehr ansehen. Zumindest nicht so, wie ich es tat, als ich sie zum ersten Mal beobachtete. Sah ich zu ihr hin, am Duschvorhang vorbei, dann sah ich augenblicklich wieder diese Kreatur, dieses große Insekt.
Er dagegen, soviel kann ich sagen, er starrte regelrecht. Sein Blick war so fixiert, dass ich einen Augenblick fürchtete, es würde wieder so enden wie beim letzten Mal. Für einen Moment glaubte ich, gleich wieder diesen seltsamen Satz zu hören und zu fallen.
Aber so war es nicht – er musterte sie einfach nur durch mich hindurch. Ich wagte es, mich zwischen die beiden zu stellen, um ihm in die Augen sehen zu können; in seinem Blick fand ich nichts besonderes. Er war klar und konzentriert, aber mehr nicht. Da war keine Emotion – wenn doch, dann konnte ich sie nicht erkennen.
Ich hatte einen seltsamen Gedanken, während ich dort so stand: Wenn ich so lange mit ihr zusammen gewesen war, warum war sein Blick dann so leer? Ich konnte keine Zärtlichkeit darin erkennen, nicht mal Begehren, nichts. Er musterte sie wirklich nur, vielleicht ganz so, wie ich es getan hatte, als ich hier ankam.
Ich dachte darüber nach, ich weiß nicht wie lange; ich hörte nur das Wasser rauschen, lange Zeit. Irgendwann griff er an mir vorbei und zog ganz den Vorhang ganz zu. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer.
Ich bin mir nicht sicher, warum er überhaupt dorthin gegangen war. Ich glaube nicht, dass sie ihn bemerkt hat; ich verließ das Bad nach ihm und schloss die Tür ebenso leise wie er getan hatte. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er ihr ins Bad folgte, auch nicht, was er dachte, als er dort so stand und starrte. Vielleicht hat er etwas Ähnliches


Ich denke, die Ruhe ist vorbei. Er ist gerade aufgestanden und hat den Raum verlassen. Jetzt höre ich laute Stimmen aus der Küche; ich sollte ihm folgen. Bis bald.