Die Kanonenkugel

Diesen Artikel drucken 15. Dezember 2010

Die meisten Menschen lebten ihr Leben auf sehr kurvigen, teils holprigen Bahnen: Sie wollen dies, dann aber jenes, und zwischen diesen beiden Zuständen und dem Handeln, dass sich daran – wenigstens manchmal – anschließt, steht meist nicht nur die Reflexion, sondern auch der Einfluss anderer Menschen. Manchmal mag man das bedauern, und letztlich gilt es unserer Gesellschaft doch auch viel, wenn jemand sehr geradlinig ist und eine Richtung unabänderlich einhält, bis er genau dort ist, wo er hinwollte.

Nun, in jedem relevanten Sinne des Wortes war er geradlinig: Er bewegte sich auf seiner Bahn ebenso unnachgiebig wie eine Pistolenkugel im Flug. Es war keine aufgesetzte oder erzwungene, keine irgendwie zu brechende oder zu bestechende Unnachgiebigkeit, die ihn auf seiner Bahn hielt, und in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit einer Pistolenkugel vielleicht der falsche. Nein, es brauchte keinen Zwang oder Ausbruch, um ihn auf die Reise zu schicken. Er war schon immer in dieser Bewegung, und er würde es immer sein. Ebenso, wie es einem Schmetterling das leichteste schien, von dieser zu jener Blüte zu fliegen, in so geschwungenen Schleifen, war es für ihn nur natürlich und in diesem Sinne unabwendbar, in einer im Wortsinn geraden Linie durch das Leben zu schießen. Manchmal streifte er natürlich Menschen; berührte sie, durchbohrte sie. Vielleicht passierte er einige manchmal ganz dicht, und es schien, als ob er das Leben dieser wenigen ein wenig teilte, eine Zeit lang. Und so klang es auch manchmal in den Erklärungen, die er sich selbst gab: Ja, das sei ein wichtiger Mensch; ja, hier könne er bleiben; ja, dies sei der Ort, um den man kreisen müsse.Aber eben so schnell, wie die Menschen und die Erklärungen kamen, verschwanden sie auch wieder: Nein, es sei nicht recht gewesen; nein, hier wolle man ihn nicht; nein, er müsse weiter.

Es brauchte eine Weile, man musste schon eine Zeit lang genau hinschauen, vielleicht musste man sich eine Zeichnung machen oder nur genau zuhören, erst dann erkannte man es: Die Menschen passierten ihn nur zufällig, und er sie. Da ist diese charakteristische Wendung, die Krümmung der Person in der Anwesenheit anderer, die ihm fehlte; Andere Menschen bleiben uns nicht nur wichtig, weil wir einmal im Leben nebeneinander liefen. Sie bleiben uns wichtig, weil es da eine Art der Annäherung, eine Art von Spiegelung gibt. Ein wenig werde ich zum anderen, und ein wenig wandelt sich der andere in mich. All das fehlte ihm, bis hin zu einer Tiefe, in der er sich dessen nicht einmal mehr bewusst werden konnte. Er kannte die Namen all der Beziehungen, in denen Menschen stehen konnten, und er benutzte diese Worte. Er hatte Erklärungen für das, was er tat, und manchmal auch für das, was andere taten, jedenfalls wurde er nicht müde, sie zu geben. Aber all diese Dinge blieben in seinem Munde leer: Es waren rein theoretische, nach einem inneren Bedürfnis konstruierte und deklarierte Spiele, die er nur für sich und nur mit sich spielte. Alles andere blieb Staffage. Ihn berührte die Sorge eines Freundes nur seinen Worten nach: ihn erfasste der Kummer eines anderen nur, wenn es sein Kummer war: ihn verstörte Feindseligkeit nur als bloßer Reflex.Er könnte selbst diese Geschichte lesen und verstehen, seine Reaktion bliebe wieder nur ein Spiel der Oberflächen. Er würde ihn passieren, diesen Text, an ihm vorbeirasen. Entlang einer geraden Linie, die von einer ungeheuren Leichtigkeit zeugt.

Was geschah

Diesen Artikel drucken 29. März 2010

War er es? Das Gesicht war vertraut, es gleichte dem in seiner Erinnerung trotz der Jahre recht genau. Und doch..
Er zögerte, bevor er auf ihn zuging und ihm die Hand hinreichte. Der andere nahm die Hand: sie erkannten sich. „Stefan…“ sagte er und sah das Gesicht weiter an. Es war Stefan.
Sie tauschten stockend einige Höflichkeiten aus: Die Frage nach dem Befinden (Stefan antwortete verhalten: Die Gegenfrage ließ er aus), die nach der Arbeit (zögernd erklärte Stefan, er sei mit verschiedenem beschäftigt, zur Zeit aber arbeitslos) und einige andere. Er lud den alten Freund auf einen Kaffee ein, doch der lehnte ab: das Gespräch erlahmte rasch, und im Nachhinein erschien es ihm so, als ob seine Fragen Stefan doch nur am Gehen gehindert hatten. Einige Minuten blieben sie so stehen zwischen den Regalen des Supermarkts; er fragte, wie es Katja gehe, ob er noch Kontakt zu ihr habe; Stefan schien Mühe zu haben, sich an seine langjährige Jugendfreundin zu erinnern, und antwortete schließlich Nein, mit Kat-ja habe er schon lange nicht mehr gesprochen, er betonte den Namen auf der falschen Silbe.
Ein seltsames Gefühl des Irrtums beschlich ihn, er sah den Mann, mit dem er doch so viel Zeit verbracht hatte, eindringlich an und fand doch nur vertraute Gesicht Stefans, älter, aber dennoch vertraut und – wie ihm langsam klar wurde – zutiefst unbekannt. Um das einsetzende Schweigen zu vermeiden und die spürbare Spannung zu verringern, fragte er halb scherzhaft nach der „Alten Runde“, der kleinen Gruppe, in der Stefan sich während des Studiums häufig zu Diskussionen und nächtlichen Blitzschachrunden getroffen hatte, zuweilen auch in seiner Begleitung, obwohl er sich nie der Runde zugehörig gefühlt hatte.
Wieder schien Stefan nachdenken zu müssen, sein Blick wanderte vom Waschmittel zum Weichspüler und dann zurück. Die seien doch alle schon lang nicht mehr da, sagte er dann nervös, mit denen spreche er nicht mehr und überhaupt sei das ganze ja schon vor langer Zeit gewesen, da habe er noch Blitzschach gespielt, und nein, das könne er heute nicht mehr, das sei nicht gut.
Er sah Stefans Blick nach, bis er erkannte, dass sein alter Freund nichts suchte: Dann versuchte er zu erklären, dass er die Frage nicht ganz ernst gemeint habe, aber Stefan schien ihn nicht zu verstehen. Schließlich fragte er stattdessen, ob Stefan hier häufiger einkaufe; er antwortete nicht sofort, stattdessen wandte er sich zwei oder dreimal um, sah in verschiedene Richtungen, erschien dabei teils bestimmt, teils unbestimmt. Nein, er sei nur heute hier, sonst gehe er nur selten in einen großen Warenhandel (er sagte das ganz betont, als ob sich dahinter noch etwas anderes verberge als der Supermarkt, in dem sie gerade standen), er habe eigentlich ein bestimmtes Produkt gesucht, aber das sei hier nicht zu bekommen, nur deshalb sei er hier. Einige Sekunden herrschte Stille, Stefan trat nervös auf der Stelle, doch sein Studienkollege gab noch nicht auf. Ob er ihm, Stefan, vielleicht helfen könne, was suche er denn, fragte er, Stefan schien die Frage zu verstehen, und zum ersten Mal sah sein Jugendfreund so etwas wie eine affektive Reaktion in seiner Antwort, wenn auch zögernd und nervös, Ja, das sei nicht so einfach, ob er denn etwas davon verstehe, eigentlich sei es sehr kompliziert. Nach nochmaliger Nachfrage sah Stefan wieder auf das Regal mit den Waschmitteln, er suche Geschirrspülmittel, aber es dürfe keine Citronensäure und keine Phentamyne enthalten
Den Begriff Phentamyn kannte er nicht, obwohl er promovierter Chemiker war; er fragte danach, doch Stefans Antwort leuchtete ihm nicht. Dass seien Zusatzstoffe, erklärte Stefan, immer noch von einem Fuß auf den anderen springend, giftige Zusatzstoffe, das sei doch bekannt.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, suchte in seinem Gedächtnis noch einmal nach Phentamynen. Stefan hatte damals – genau wie er –  Chemie studiert, und als sie sich aus den Augen verloren hatten, war Stefan mit seinem Studium fast fertig gewesen; er fragte noch einmal nach einer Stoffklasse, konkreten Stoffbezeichnungen; Stefan nannte keine. Das sei schwierig, erklärte er stattdessen und sein Studienfreund wusste nicht, ob Stefan selbst sprach oder ob er nur rezitierte, es sei schwierig, denn die so genannte Wissenschaft (diesen Terminus schien er oft zu verwenden, denn er verschluckte einige Silben) sei derartig unterwandert, dass es kaum Studien in Fachzeitungen dazu gebe, allerdings könne er sich selbst ja ein Bild machen, und dann nannte er einige Namen und Internetadressen. Danach schwieg Stefan wieder, blickte einen Moment auf ein Handgelenk, an dem keine Uhr war, schüttelte den Kopf und machte dabei den Eindruck, als würde er gerade etwas im Geiste überschlagen.
Sein Freund blickte ihn wieder an, sondierte das vertraute, unbekannte Gesicht, fand keine Abweichung der Details, doch irgendetwas war anders. War es wirklich Stefan?
Wie es denn dem Hund ging (wie hieß er doch gleich?), Baxter, dem Hund seiner Eltern, fragte er schließlich, und er wusste selbst nicht, ob er die Frage als eine Art der Kontrolle stellte oder ob es ihn interessierte: Er schien damit einen falschen Punkt getroffen zu haben, denn Stefan wurde noch nervöser, zitterte regelrecht, schien nach Worten zu suchen: Tot sei Baxter, das wisse er. Tot, tot, mausetot. Phentamyn, sagte er dann, Phentamyn, und nickte dabei, als müsse er sich dessen bestätigen. Mit seinen Eltern spreche er seitdem nicht mehr, fügte er dann noch hinzu.
Er folgte dem Impuls, nach den genauen Umständen und Gründen zu fragen, aber Stefan schien nicht antworten zu wollen und blieb nebulös: So sei es manchmal, sagte er, die einen so, die anderen so, aber irgendwann…
Dann sprach Stefan nicht weiter, als ob ihm das offene Ende seines Satzes nicht aufgefallen sei.
Noch einmal blickte er auf sein Handgelenk, an dem sich keine Uhr befand: Er müsse jetzt auch weiter, es gebe viel zu tun, sagte er. Sein Schulfreund wollte noch nach einer Telefonnummer fragen, oder nach einer E-Mailadresse, aber da war Stefan schon zwischen den Regalen verschwunden.

Was geschah

An der Kasse traf er ihn wieder; zwei Polizisten in Uniform standen bei ihm und schienen sich mit ihm zu unterhalten. Er verfolgte die Szene, zahlte und ging hinaus. Er wollte zunächst zu ihm gehen, doch dann entschied er sich dagegen und blieb einige Meter hinter der Gruppe stehen, so dass er noch verstehen konnte, worüber sie sprachen.
Offenbar warfen sie Stefan vor, etwas gestohlen zu haben, und tatsächlich konnte er aus den Augenwinkeln sehen, dass einer der Polizisten einen Gegenstand aus seinem Rucksack zog, der nach einer Plastikflasche aussah. Stefan schien den Diebstahl auch nicht zu leugnen; er bestritt nicht, dass er den Weichspüler nicht bezahlt hatte. Doch dann schien er es sich anders zu überlegen und sagte immer wieder, er habe es tun müssen, er sei dazu gezwungen gewesen. Einer der Beamten, eine Polizistin, schien ihn schon zu kennen und erklärte ihrem Kollegen, dass es „schon mehrmals so gelaufen sei“. Stefan blieb zunächst stumm, als die Polizistin jedoch wiederholt von ähnlichen Diebstählen sprach, schien ihn das wütend zu machen, er wurde laut, das sei doch kein Diebstahl, ja, er hätte die Flaschen mitgenommen, aber dass sei doch kein Diebstahl. Die Polizistin unterbrach ihn, deutete ihm leiser zu sprechen und fragen, ob es nicht Diebstahl sei, wenn man Dinge nehme, die einem nicht gehörten, und das habe er ja bereits zugegeben. Einen Moment lang schien Stefan darüber nachzudenken, aber offenbar verstand er die Frage nicht oder wollte sie nicht verstehen. Nein, die Flasche habe er nicht mitgenommen, er habe sie zwar eingesteckt, aber bezahlt, sagte er schließlich und schien gehen zu wollen. Der andere Polizist hielt ihn am Ärmel, Stefan suchte sich loszureißen und schrie: Schließlich brüllte der Polizist, nun sei es aber genug und griff nach ihm. Sie drehten Stefan den Arm auf den Rücken und schoben ihn vor sich her; Stefan hatte nicht gesehen, dass sein Studienfreund die ganze Szene beobachtet hatte, und als der sich schließlich umdrehte, sah er ihn leise wimmern, von den beiden Polizisten geführt; der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass Stefan nicht genau wusste, warum dies mit ihm geschah. Er sah ihm nach, bis der Streifenwagen das vertraute, unbekannte Gesicht verschluckte.

Einige Stunden später saß er tief über den Bildschirm gebeugt an seinem Schreibtisch. Der Gedanke war eigentlich lächerlich; er hatte damals viel Zeit mit Stefan verbracht, fast 14 Jahre lang (er hatte es ausgerechnet), ihn aber nach dem Studium aus den Augen verloren (das war jetzt 5 Jahre her, auch das hatte er herausgefunden). Für eine lange Zeit hatte er nicht einmal mehr an ihn gedacht, doch jetzt beschäftigte ihn dieser frühere Freund wieder. Er wusste nicht einmal, wonach genau er das Internet durchsuchte, weil ihm die Frage nicht klar war, die er zu beantworten suchte.
Einige Einträge, die noch aus Studienzeiten stammten, fand er schnell; er hatte die Adressen in seinen Unterlagen gelesen. So etwa ein Klausurergebnis von 2010:

Anorganik II: Stefan Anders: Bestanden: Note 1,7

Er hatte sich nicht geirrt, Stefan hatte Chemie studiert, genau wie er; und er war kein schlechter Student gewesen. Nach einiger Suche fand er auch einen Hinweis auf Stefans Abschlussarbeit. Zwar fand er die Arbeit selbst nicht, aber eine Mitteilung über hervorragende Ergebnisse im Studium. Stefans Name tauchte auch dort auf.
Nachdem er einige Stunden gesucht hatte, nahm er ein Blatt Papier und zeichnete darauf eine senkrechte Linie; einen Zeitpfeil. Oben schrieb er 2012 hin (er wusste nicht mehr genau, wann genau der Kontakt abgebrochen war; es war jedenfalls 2012 gewesen), ganz nach unten den 18.12.2017, den Tag, an dem er ihn wieder getroffen hatte. Nach und nach schrieb er mehr Daten dazwischen;

2013 – Abschlussarbeit.
2014 – Arbeitsstelle am Institut für anorganische Chemie in Dresden angetreten
7.12.2014 – Foto vom Betriebsausflugs des Instituts
13.12.2014 – Newsgroup-Eintrag zur Planung der Weihnachtsfeier
Januar 2015 – Betreuung von vier Lehrveranstaltungen (Anorganik I/II + zwei Seminare)
Mitte 2015 – Gruppenfoto von einer Konferenz in Berkeley

Einige Stunden suchte er weiter; er fand nichts mehr. Er konnte nicht herausfinden, wann er seinen Job in Dresden aufgegeben hatte. Auf der Webseite der Universität war er nicht mehr aufgeführt, es war nicht auszumachen, seit wann. Nach 2015 verlor sich schlicht seine Spur. Er erwog, diese seltsame Suche aufzugeben, und machte sich etwas zu essen. Dann sah er etwas fern, ohne sich dabei entspannen zu können. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer, überlegte einen Augenblick, tippte eine andere Suchanfrage. Und fand eine E-Mailadresse; über die Adresse fand er nach einigen Minuten einen Nickname, über den Nickname eine weitere Mailadresse und damit schließlich einige Einträge in einem Forum.

1.5.2016 – erster Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org

Bei genauerer Suche fand er viele Einträge in diesem Forum, die von Stefan stammen mussten. Es waren über Hundert, die meisten enthielten längere Texte, doch er las sie alle.
Er hatte schon direkt nach seiner Rückkehr aus dem Supermarkt festgestellt, dass so genannte Phentamyne Gegenstand einiger pseudowissenschaftlicher Theorien waren, die vor allem im Internet grassierten. Die Antwort auf die Frage, worum es sich dabei genau handelte, wurde je nach Theorie unterschiedlich beantwortet; soweit er es übersehen konnte, fielen für einige eine Reihe von willkürlich gewählten Säuren darunte, so etwa Citronen- oder Phosphorsäure, andere schienen eine unbestimmte Gruppe von Tensiden, also Seifenlaugen, darunter zu zählen. Wieder andere verstanden unter Phentamynen „nanoverstärkte Partikelchips“, ohne dass er hätte sagen können, was das nun genau bedeutete; auch der Zweck oder Effekt dieser Phentamyne schien strittig zu sein, einige Theorien schienen an so genannte Gedankenkontrolleprojekte der CIA anzuknüpfen, andere sahen schlicht eine über alle Maßen gesundheitsschädlichen Effekt, der von der Industrie geleugnet wurde, da die Phentamyne bei maschinellen Herstellungsprozessen unweigerlich in die Produkte gelangten und eine Entfernung zu aufwendig wäre. Alles in allem waren Phentamyne die ausgemachten Hirngespinste, um die sich Verschwörungstheorien stets drehten, und es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass es keine derartigen Partikel gab. Die Quellen, die Stefan ihm genannt hatte, stammten allesamt von Verschwörungstheoretikern ohne jeden akademischen Abschluss und ohne nachvollziehbare Expertise; empirische Beweise fand es nicht.
Dennoch las er die Einträge, die Stefan offenbar verfasst hatte; die meisten waren wirr und voller Fachbegriffe, die teils der chemische Fachsprache, teils der Fantasie entlehnt waren. Es verwunderte ihn, dass aucb die chemischen, die Stefan doch beherrschen musste, in vollkommen falschen, wenn nicht gar absurden Zusammenhängen auftauchten. So sprach Stefan mehrfach von der „Orbitalstruktur der Herstellungsprozesse“ oder schien chemische Bindungen ganz analog zu mechanischen zu behandeln; genausogut hätte er auch behaupten können, dass Liebenswürdigkeit grün sei.
Die Erklärung lag auf der Hand; sein früherer Freund Stefan musste verrückt geworden sein. So etwas geschah, das wusste er. Manche Menschen verbissen sich so sehr in solch wirre Ideen, dass sie den Realitätsbezug verloren.
Seine Suche war damit vorüber, erkannte er. Zumindest hätte sie vorüber sein können; dennoch las er weiter. Etwas schien ihm unbefriedigend an dieser Erklärung, und nach einer Weile begriff er auch, was es war; nicht nur, dass er ein Vokabular falsch verwendete, welches er eigentlich im Schlaf beherrschen musste, es waren auch seine Ausführungen selbst, die inkonsistent blieben. Verschwörungstheorien hießen Verschwörungstheorien, weil sie eben Theorien waren; und als solche waren sie zwar meist völlig falsch und widerlegt, um nicht zu sagen, hirnrissig, aber wenigstens in sich konsistent. Sie enthielten – wenigstens in sich – keine allzu offensichtlichen Widersprüche. Und das galt nicht für Stefans Einträge. Er behauptete, Zitronensäure sei ein Phentamyn, und zwei Sätze dahinter sagte er das Gegenteil. Im einen Moment versuchte er zu beweisen, dass der CIA hinter den Phentamynen steckte, im nächsten verteidigte eine andere These. Je mehr er las, desto klarer wurde ihm, dass auch anderen Nutzern des Forums aufgefallen war, dass Stefan sich ständig widersprach. In Diskussionen las er, wie Stefan diese Kritik offenbar nicht verstand; Nichts von dem, was andere Nutzer schrieben, schien ihn zu erreichen. Es war nicht so, dass er anderer Meinung war, oder die Belege anderer nicht akzeptierte; er verstand sie, so schien es, schlicht nicht. Schließlich schienen sie es aufzugeben, ebenso wie Stefan.

2.7.2017 – letzter Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org.

Er nutzte einige gefundene Daten, um weiter auf Stefans Spuren zu reisen; schließlich fand er in Video aus dem September. Offenbar hatte er eine öffentliche Vorlesung gestört, dabei Unverständliches gebrüllt, das sich mutmaßlich auf Phentamyne bezog. Das Video war offenbar mit einem Mobiltelefon aufgenommen worden. Man sah, wie Stefan schließlich von zwei Ordnern hinausgetragen wurde. An einer Stelle konnte er Stefans Gesicht erkennen; er war es ohne Zweifel. Er kopierte das Bild, druckte es aus und legte es neben ein altes, auf dem er zusammen mit Stefan zu sehen war. Ja, er war es. Das war der Mann, mit dem er früher Blitzschach gespielt hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie berüchtigt die Diskussionen in der Runde damals gewesen waren; er hatte Stefan immer bewundert, war manchmal neidisch gewesen. Stefan hatte über eine äußerst schnelle Auffassungsgabe verfügt und war dazu noch ein außerordentlich guter Rhetoriker gewesen, was für einen Naturwissenschaftler schon ungewöhnlich war. Doch darüber hinaus hatte er sich für so gut wie alles interessiert und war immer „auf dem neuesten Stand“ gewesen, wie er es selbst gern ausgedrückt hatte.
Er verwendete mehrere Stunden darauf, immer wieder die beiden Bilder zu vergleichen; das aus der Studienzeit und das aus dem Internet. Es waren die gleichen Gesichtszüge, er war es, ohne jeden Zweifel; aber wie konnte das sein? Selbst den größtenteils selbst wohl hochgradig verwirrten oder wenigstens paranoiden Benutzern des Forums war aufgefallen, wie widersprüchlich seine Auslassungen waren: Sie hatten ihn ausgeschlossen aus ihrer Gemeinschaft. Was war geschehen?
Er suchte weiter nach Spuren, die Stefan im Internet hinterlassen hatte. Auf einigen anderen Verschwörungsplattformen fand er Einträge, die er ihm zugeordnet hätte, aber sicher sein konnte er sich darüber nicht mehr; es waren immer unterschiedliche E-Mailadressen, immer andere Benutzernamen, und selten mehr als zwei oder drei Beiträge, die in sich so wirr und widersprüchlich waren, dass eine sichere Zuordnung unmöglich wurde. Einer der Beiträge fiel ihm auf; Stefan klagte darin (wenn er es denn geschrieben hatte) die Nutzer des Forums selbst an, Teil einer Verschwörung zu sein. Der Beitrag war recht lang, und nach wenigen Zeilen verlor er sich wieder in Widersprüchen, offenen Halbsätzen; der Schluss war bezeichnend: „ich allein gegen euch und ich allein allein und“. Der Satz endete nicht.

Nachdem er einige Stunden lang nichts mehr fand, beendete er seine Suche, kochte sich einen Kaffee und trank ihn, während er weiter die Bilder betrachtete.

Immer noch schien es ihm nicht zu genügen, dachte er: möglich, dass eine psychische Krankheit für seine Veränderung verantwortlich war. Aber wie war es dazu gekommen? Menschen veränderten sich nicht von einem Tag auf den anderen in dieser Weise, und auch verrückt wurde man nicht in einem Augenblick. Schließlich begriff er, was ihn störte; Es war schlicht keine Erklärung für sein Verhalten, wenn er nur sagen konnte, Stefan sei verrückt. Es ließ die Frage nach dem Warum weiter offen, und es gab nicht den Hauch eines Hinweises darauf, wie sich Stefan konkret verhalten würde. Wenn man jemand nur wüsste, dass Stefan verrückt war, aber nichts weiter, dann wüsste er deshalb nicht das geringste darüber, wie Stefan sich gab, was er sagte und wann (oder warum). Aber welche Erklärung gab es dann? Die Frage war, warum er verrückt geworden war. Als er darüber nachdachte, fiel ihm sofort die Möglichkeit eines Unfalls ein. Es gab Linien auf dem Gesicht Stefans in dem Video: Er hatte sie bisher für Artefakte des Kompressionsverfahrens gehalten, aber als er länger darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, wie seltsam verändert ihm Stefans Gesicht vorgekommen war. War es nur seine Mimik gewesen, der Ausdruck darin, oder waren es möglicherweise Deformationen, die man nach einem schweren Unfall zuschreiben konnte? Als er den Gedanken einmal gefasst hatte, ließ es ihn nicht mehr los. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer und begann gezielt, nach den Benutzernamen und E-Mailadressen zu suchen, die er bereits gefunden hatte: Diesmal jedoch fügte er der Suche einige andere Begriffe hinzu: Eine halbe Stunde war es „Unfall“, dann „Trauma“: Schließlich suchte er auch noch einige andere Begriffe und verknüpfte sie auf komplizierte Weise.

Schließlich fand er etwas, dass seine Aufmerksamkeit weckte: Den Newsgroup-Eintrag eines Arztes der Universitätsklinik Dresden.

12. September 2015 – Artikel „Concerning Case Study Stefan A.“

Viele Details des vier Seiten langen, englischen Artikels blieben ihm unverständlich, obwohl er einige Dutzend medizinische Fachwörter heraussuchte und auf ein Blatt Papier schrieb: Im Wesentlichen schien es aber um einen Unfallpatienten zu gehen, den der Arzt betreut hatte: Die Fallstudie beschrieb sehr genau, welchen Verlauf psychische und physische Folgen eines nicht näher beschriebenen Unfalls nahmen. Von einer „cranial fracture“, also einem Schädelbruch war die Rede, auch von einem Hirntrauma. Weiterhin beschrieb der Artikel psychotische und zwanghafte Phasen des Patienten, über dessen Identität natürlich keine weiteren Informationen angegeben waren, von „Stefan A.“ und seinem Alter abgesehen: es passte zu Stefan Anders.

Einige Minuten zögerte er, dann schrieb er die Mailadresse des Arztes ab und verfasste eine kurze Nachricht an ihn: Der Kaffee war inzwischen kalt geworden. Er versendete die Mail noch nicht, ging in die Küche und setzte neuen auf. Während er vor der Maschine stand, dachte er darüber nach, was für ein Unfall es gewesen sein könnte: Vielleicht war er mit dem Auto von der Straße abgekommen; vielleicht war er mit dem Fahrrad gestürzt. Es könnte auch eine Ziegel gewesen sein, die sich nach einem Sturm vom Dach gelöst hatte: er konnte es nicht wissen. Noch nicht. Wenn der Arzt ihm antworten würde – und das war durchaus denkbar, wenn auch unwahrscheinlich – dann hätte er die Antwort. Dann würde er verstehen.

Kaum hatte er das gedacht, stutzte er. Was genau würde er dann verstehen? Wie er verletzt worden war? Sicher. Aber würde er auch wissen, wie aus dem alten Stefan der neue geworden war? Er überließ die Kaffeemaschine ihrer Arbeit, setzte sich wieder vor den Bildschirm und las die Nachricht, die er verfasst hatte: „Ich möchte verstehen, was geschehen ist.“, mit diesen Worten hatte er seine Bitte abgeschlossen. Er dachte über die Worte und über seine Frage nach, bis die Kaffeemaschine nur noch leise zischte. Die Frage war ganz richtig formuliert, aber weder sie noch die Antwort würde ihm helfen können: Denn es ging nicht darum, was mit dem Auto, dem Fahrrad oder der Ziegel geschehen war oder mit Stefans Kopf. Es ging um das, was mit Stefan geschehen war, und dafür gab es keine Erklärung. Er schob die Mail in den Papierkorb.

Es war völlig egal, welchen Titel, welche Bezeichnung er für Stefans Veränderung verteilte. Was hieß „verrückt geworden“ anderes, als dass er heute anders war als früher? Das war keine Erklärung, nur eine Beschreibung des Offensichtlichen. Die Frage danach, warum er denn verrückt geworden war, half nicht weiter, denn ebenso verhielt es sich mit den Antworten auf diese Frage: Vielleicht war es ein Unfall gewesen; auch das war nur eine Beschreibung. Ein Unfall ist ein Ereignis, nach dem Dinge anders sind als zuvor, oder es zumindest sein können. Ob der Arzt ihm nun die Wahrheit sagen würde; ob Stefan sein Patient gewesen war; ob er verrückt oder invalide war; es würde nichts ändern. Die Erklärung blieb leer, weil es keine geben konnte. Niemand kannte den Mechanismus, der den alten Stefan zu Stefan gemacht hatte, und würde jemand ihn kennen, so würde er wieder nur eine Beschreibung davon geben können, dass der alte Stefan nicht mehr existierte, während es einen anderen Menschen gleichen Namens gab. Wenn der Arzt ihm Unterlagen schicken würde, Krankenakten, in denen dann stehen könnte, dass Stefans Kopf an dieser oder jenen Stelle und hier oder da verletzt wurde, so könnte er das alles lesen und würde doch nicht mehr wissen zuvor. „Der Stein traf Stefan A. zwei Zentimeter oberhalb der rechten Schläfe. Eine Spitze drang dabei 0,7 Zentimeter tief ein und verursachte ein Hämatom mit einem Durchmesser von genau drei Zentimetern, nur zweieinhalb Millimeter entfernt vom Zentrum des […]“. So würde es vielleicht klingen; aber was würde das bedeuten? Nichts, wenigstens nicht mehr als das, was er auch ohne den Bericht sehen konnte: Stefan war anders geworden. Den Stefan aus seiner Vergangenheit gab es nicht mehr. Übrig war seine Hülle, gefüllt mit einem anderen.

Sie suchen

Diesen Artikel drucken 23. September 2009

In den Taschen ihrer Sakkos
Zwischen den Ritzen ihrer Sessel
An den Rändern ihrer Vorgärten

Sie durchwühlen
Festplatten und Handyspeicher
Schränke und Handschuhfächer
Essensreste und Weinkeller

Zählen ab, zählen durch
Autos
Häuser
Jobs

Und finden nichts
Weil doch alles da ist
Alles an seinem Platz
Alles und

Nichts.

Discontra III

Diesen Artikel drucken 20. Mai 2008

Keine Zeilen, nur Schritte mit nichts als der Leere der eigenen Seele dazwischen, darüber Worte wie das überreizte Rauschen eines tauben Wasserfalls.
Keine menschliche Stimme spricht sie aus, keine Wärme und kein Happy End dahinter, aber auch keine Raserei und kein Exzess, nur Worte, nicht mehr als Bedeutungen ohne Beziehung, ohne Ursprung, all das, Emotion, Intention, Relation, herausgeschnitten oder – genauer – gefiltert, überlagert. Leerer als die Zeit zwischen den Schlägen ist nur der Raum, der nur sich selbst anbietet – (er)finde deine eigene Geschichte oder stirb, ich habe keine für dich, ich bin dein und nicht mehr als das.
Und wirklich, da ist niemand, niemand außer dir selbst, das denkst du noch, drehst sich dabei schwerelos im leeren Raum.
So bist du also Astronaut geworden, schwebst weit ab um den Planeten, auf dem du einst lebtest. Warst du auch damals schon allein?

Blacksuit

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2008

Er hatte die im alten Design gehaltene Kreditkarte schon zweimal in den Kartenleser des Kassenautomaten geschoben, doch der Fehler in dieser Szene fiel ihm erst auf, als die ebenfalls absichtlich altmodische gehaltene Maschine auch beim dritten Versuch jede Zahlung verweigerte. Es war weder nötig noch sinnvoll, die alten Maschinendesigns und die längst nutzlosen Plastikkarten zu verwenden, die Zahlautomaten waren davon schon lange nicht mehr abhängig, aber aus Gründen der Ästhetik hatte man sie beibehalten; dennoch stand im Display des Automaten natürlich nichts von einer abgelaufenen oder überzogenen Kreditkarte, sondern nur
IDENT-PIN ungültig.
Und so blieben auch die Türen des Supermarktes verschlossen, solange er den Korb mit den Einkäufen im Arm hatte. Manchmal hatten Geräte dieser Bauart Fehlfunktionen, so dass man ein zweites Mal den Schlüssel übertragen musste. Doch noch nie hatte er es erlebt, das das System dreimal versagte. Er erwartete daher, dass es eine Art von Rückmeldung an die Zentrale oder einen Wachdienst geben würde und blieb verwirrt im Ausgangsbereich stehen. Sein Blick wanderte unschlüssig über die Maschine, den Boden und fand schließlich in den elektronischen Spiegel an der Wand hinter der Kasse. Einen Moment dauerte es noch, bis er das Ungeheuerliche in der digitalen Reflexion erkannte, doch dann fiel ihm der Fehler auf und er erschrak.
Das im Spiegel – das war nicht er selbst. Er korrigierte sich; natürlich war er es selbst. Seine echte Identität war verborgen unter der Blacksuit, die sein Aussehen, seine Stimme und seine Kleidung von Kopf bis Fuß frei konfigurierbar machte, aber das dort im Spiegel – das war auch keine seiner künstlichen Identitäten. Wie die meisten Menschen hatte er etwa ein halbes Dutzend davon, verschiedene für die jeweiligen Anlässe; dazu selbstverständlich auch zehn bis zwanzig verschiedene Kleidungssets, schließlich wollte er ja nicht immer die gleiche virtuelle Kleidung tragen. Was er jedoch dort im Spiegel sah, das war keine seiner digitalen Identitäten. Täuschte er sich? Er ging einen Schritt auf den Spiegel zu und sah genau hin. Nein, dieses Gesicht hatte er sich sicher nicht ausgesucht. Er hatte den JohnD_12AX-Skin übergeworfen, als er sich auf den Weg gemacht hatte; den mit dem schwarzen Sakko, oder mit dem weißen, das wusste er nicht mehr genau. Auf jeden Fall hatte er sicher nicht diesen Skin gewählt; er hatte jetzt das Gesicht eines Matrosen oder Kriminellen, mit tiefen, harten Konturen und einigen kaum verborgenen Narben. Die Kleidung war abgewetzt und größtenteils aus Lederimitat; solche Skins wurden allenfalls zum Spaß getragen, aber sicher nicht beim Einkaufen. Vielleicht war beim Einschalten des Skins etwas schief gelaufen. Er überprüfte die Anzeigen, die der Anzug in sein Auge projizierte; es gab keine Fehlermeldungen. Mit einigen durch die Jacke verborgenen Bewegungen seiner Finger startete er das Diagnosemodul.
Ungültige IDENT-PIN. Diagnose abgebrochen
flüsterte eine leise Stimme aus der Blacksuit.
Er wechselte zur Skinauswahl, und zu seinem Erstaunen fand er in der Liste keinen Oberflächenskin, der ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. DESC_4r hieß der, den er gerade auftrug. Er wählte einen der anderen aus und bestätigte die Umstellung, um das System zu testen.
Ungültige IDENT-PIN. Skinwechsel abgebrochen.
Wieder die leise Frauenstimme, der alte Kassenautomat grinste ihn mißmutig an.
Er hatte den falschen Anzug an, das war die Erklärung, anders konnte es nicht sein. Aber wie konnte das sein? Er suchte nach dem Statusbericht des Anzugs, dort war der echte Besitzer für gewöhnlich eingetragen. Eigentlich sollte man den Vollanzug nicht einmal schließen können, wenn man nicht der Besitzer war, aber auch solche Fehler konnten sicher geschehen, auch wenn er davon noch nie gehört hatte.
Eigentümer: n/a – Bitte natürliche Identität angeben.
Ein leerer Anzug, vielleicht war einfach der Speicher gelöscht worden.
Er wählte die Zeile, gab seine IDENT-Nummer ein und bestätigte. Ein Symbol am oberen Rand zeigte an, dass die Eingabe gepüft wurde.
Identität nicht gefunden. Bitte achten Sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Er überprüfte seine Eingabe zweimal; es konnte nicht sein, es musste die richtige Nummer sein; A12Doring. Er gab sie erneut ein und bestätigte.
Identität nicht gefunden. Bitte wenden Sie sich an den zuständigen Systemadministrator.
Er begann sich vor dem Anzug zu gruseln. Er sah sich um; er war der einzige Kunde. Dann griff er nach der Verriegelung des Kopfendes. Wenn der Anzug eingeschaltet war, konnte man sie nur fühlen und nicht sehen. Eine Weile tastete er über die künstlichen Haaren, die künstliche Stirn, die künstlichen Ohren.
Er fand ihn nicht, er war nicht da; hektisch zog er am Haaransatz, wo die unsichtbare Kapuze des Anzugs mit dem Rest der Suit verbunden war, riß daran, bis die ganz Stirn schmerzte . Es half nichts.
Ausstieg verweigert, ungültige IDENT-PIN. Bitte geben Sie ihre natürliche Identität an.
Die Angst in ihm wuchs. Warum ließ es ihn nicht hinaus? War war mit seiner Identität geschehen? Er gab sie noch einmal ein, diesmal geschah etwas.
Ihre Identität ist nicht existent. Es wird eine Verbindung zur Hotline hergestellt.
Er sah, wie der Anzug den Code wählte.
>>Blacksuit Support, Guten Tag, bitte schildern sie das Problem.<< sagte eine blecherne Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, er war sich nicht ganz sicher, ob er mit einer Frau oder einem Computer sprach. Er erklärte seine Lage, das Wesen am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken (oder zu rechnen).
>>Es tut mir leid, aber ich kann sie tatsächlich nicht in der Datenbank finden…<<, sie stockte, >>da scheint es doch einige… Anomalien in ihrem System zu geben. Von hier aus kann ich das Problem nicht lösen, sie sollten auf dem schnellsten Weg die nächste Filiale aufsuchen.<<
Er sah, wie der Routenplaner aufgerufen wurde, sie hatte die Adresse schon eingegeben.
>>Ich hoffe, Blacksuit Kreditkarten konnte ihnen helfen und bedanke mich für das Gespräch, Herr Doring.<<
Er stutzte.
>>Wie haben sie mich gerade genannt?<<
>>Doe. Oh, das ist die Firmenpolitik; solange ihre natürliche Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, werden sie von uns unter dem Namen John Doe geführt. Fassen sie das bitte nicht als Herabwürdigung auf.<<
Sie trennte die Verbindung. Der blinkende Pfeil vor seinen Augen wies den Weg zur nächsten Filiale. Alles würde in Ordnung kommen, wenn er dort war; er beruhigte sich wieder etwas. Er stellte den Einkaufskorb ab, die Tür öffnete sich. Auf der Straße angekommen folgte er den Pfeilen.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, aber diejenigen, die er sah, wechselten die Straßenseite, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er erkannte einen Nachbarn, oder zumindest glaubte er, dass sich unter der Oberfläche einer seiner Nachbarn verbarg. Der Zweifel begann an ihm zu nagen; was, wenn sie seine Daten wirklich verloren hatten? Wenn sie ihm nicht glauben würden? Das war so gut wie unmöglich, das wusste er. Wenn sie den Anzug entfernen würden, könnten sie sicher feststellen, wer er war. Aber dennoch; er hatte Angst. Was, wenn nicht? Wenn er unter dieser grässlichen Oberfläche gefangen bleiben würde? Seine Knie fühlten sich seltsam weich an.
Plötzlich wollte er nicht mehr allein dorthin gehen; seine Wohnung lag beinahe auf dem Weg, und so beschloss er, den Umweg in Kauf zu nehmen. Im Routingmodul fand er den Weg dorthin nicht – natürlich nicht, der Speicher war ja gelöscht worden. Also musste er sich mit einiger Mühe selbst orientieren.
Nach einer Weile bog er entgegen der Pfeilrichtung in eine Querstraße ab, die ihm bekannt vorkam; Alle drei Sekunden wies ihn die Stimme des Anzugs darauf hin, dass er umdrehen solle, er konnte es nicht abstellen.
Zu seiner Überraschung fand er das Haus sofort. Im Flur stank es nach Urin, das war ihm auf dem Weg nach draußen nicht aufgefallen. Vermutlich war auch das eine Fehlfunktion des Anzugs. Seine Hände zitterten leicht, als er auf den Summer drückte; das Schloss ließ ihn auch hier nicht passieren. Für einen Moment hörte er kein Geräusch aus der Wohnung, und er dachte darüber nach, ob er vielleicht an der falschen Tür geklingelt hatte. Dann jedoch hörte er Schritte. Die Tür öffnete sich, und seine Frau stand dahinter, in dem Skin, den sie zu Hause immer trug. Er war ihrer natürlichen Identität nicht unähnlich, nur waren die Konturen ihres künstlichen Gesichts etwas weicher, und ihre Augen hatten eine andere Farbe.
Er lächelte, bis er bemerkte, dass es nicht sein Lächeln war, sondern ein fremdes. Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich weiß, ich sehe seltsam aus, aber es gibt da einige Probleme mit dem Anzug. Ich muss zur Reparatur in die nächste Filiale, aber ich möchte nicht allein gehen…“. Seine Frau legte den Kopf schief.
„Wer sind sie denn?“ fragte sie, er hörte die Angst dahinter auch durch die künstliche Stimme hindurch, und ihm wurde etwas schwindelig.
„Ich bin es, dein Mann.“
„Wer? Ich habe keinen Mann.“ antwortete und zog die Tür ein wenig weiter zu.
„Liebling, ich bin es. Erkennst du mich nicht?“
„Ich hatte nie einen Mann“ sagte sie tonlos und mehr zu sich selbst, dann schlug sie die Tür zu.

„Ich hatte nie einen Mann“, sagte sie tonlos und er sah sich wieder im digitalen Spiegel des Supermarktes. Sein Kopf war ein Bildschirm und der Körper darunter steckte immer noch in dem grässlichen, falschen Skin. Der Kassenautomat hatte nun Augen und bediente sich selbst mit dünnen, metallischen Ärmchen, die aus der Verkleidung ragten.
A12Doring tippten sie auf der veralteten Tastatur, er sah die Zeichen in der Spiegelung des Bildschirms auf seinen Schultern. Die Zahlen verschwanden wieder, Identität nicht existent, bitten achten sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Seine Frau stand vor der verriegelten Ausgangstür und lächelte ihn und den Automaten seltsam an, ihr Mund öffnete sich,

Er erwachte auf der Türschwelle und sah die Köpfe zweier Männer mit identischen Gesichtern über sich, identische Skins bis auf die Kleidung. Der mit dem schwarzen Sakko sah ihn durchdringend an,
„Wir sind von der Wache.“ sagten die beiden fast zeitgleich mit ähnlichen Stimmen.
Der im schwarzen Sakko beugte sich zu ihm herunter;
„Wir nehmen sie fest aufgrund des Verdachts der Nicht-Identität“, er überlegte einen Moment, „sie sind nicht sie selbst.“, fügte er erklärend hinzu, im Hintergrund hörte er seine Frau leise mit dem anderen Agenten sprechen.

Sie lächelte fast hämisch, ihr Mund öffnete sich.
„Ich weiß ein Geheimnis…“ sagte sie, dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.
Der Kassenautomat gab weiter stakkatohaft Zeichen ein, immer wieder. Auf dem Monitor, der einmal sein Kopf gewesen war, blinkte im selben Rhythmus
Doring nicht existent.
Für einen Moment erkannte er in den verzweifelten, aufgeklebten Augen der Maschine seinen eigenen blauen Augen, aber dann wurden sie grün, braun, rot, schließlich farblos.
Die Schultern der Frau wurden breiter, ihre Brust schmaler, ihr gelbes Kleid wurde kürzer und immer heller, alles zugleich, und nach einem Augenblick hatte sie den Skin der Agenten übergeworfen.
„Ich weiß ein Geheimnis“, flüsterte sie, „es gibt keine Blacksuit.“

„Seine Persönlichkeit destabilisiert sich, wir müssen die Suit jetzt entfernen.“ Er blickte an die Decke, dort war der Name Blacksuit Corp. eingraviert, in einem sich wiederholenden Muster. OP-Licht blendete ihn. Ein Mann stand neben ihm und hielt ein Skalpell in den Händen. Er sah auch die beiden Agenten mit den gleichen Gesichtern, der eine im schwarzen Sakko, der andere im weißen, der eine blickte ihn ernst an, der andere lächelte.
„Wir nehmen sie fest wegen des Verdachts der Nichtidentität. Sie sind nicht sie selbst.“ sagte der eine. Seine Arme und Beine waren an den medizinischen Stuhl gefesselt, auf dem er lag, er sträubte sich gegen die Ketten, als der Arzt noch einen Schritt auf ihn zu ging.

Sie lächelte ihn und den verzweifelnden Automaten hämisch an, „Es gibt keine Blacksuit.“

sagte der Agent im weißen Sakko, sein Kollege schien ihn nicht zu hören.
„Wir müssen jetzt anfangen.“, der Arzt setzte das Messer auf seine Brust, er tobte und schüttelte sich, riss mit aller Kraft an den Fesseln.
„Sie sind nicht sie selbst.“ sagte das schwarze Sakko,
der andere Agent lächelte still,
„Es gibt keine Blacksuit.“ flüsterte er noch einmal.
„Sein Anzug destabilisiert sich, wir müssen die Persönlichkeit jetzt herausschneiden.“ kreischte der Arzt, er hörte seine eigene fremde Stimme schreien, aber seine Schreie klangen wie das Wählgeräusch eines alten Modems,
„Sie sind schuldig des Vergehens der Nicht-Identität“, der Agent überlegte oder rechnete einen Moment,
„Sie sind nicht sie selbst.“
Es gibt keine Blacksuit.
Er brüllte vor Schmerz –

Sie sind nicht sie selbst.
Es gibt keine Blacksuit.

Es g7bt keiAe Black4uit.
Sie siBd nicFt sie sel5st.

A7 A767 F19AE 136A4F5F
1BC 4BDC 163F5 354 AD56B

1010001100 0111001110 1110001110 1001010111 1100101010 10101011111 101101000 000000111
1100101010 10101011111 101101000 000000111 1010001100 0111001110 1110001110 1001010111

Runlevel 0. System halted.

Erwache, Nichts.

Nullpunkt

Diesen Artikel drucken 14. November 2007

Der Begriff des absoluten Nullpunkts entstammt ursprünglich der Physik, genauer der Thermodynamik.
Ganz entgegen dem intuitiven Begriff von Temperatur, der sich vor allem an der Empfindung relativer Kälter beziehungsweise Wärme orientiert, konstatiert die Thermodynamik in einer grundlegenden Definition, dass die Messgröße Temperatur ein Maß für die durchschnittliche Bewegungsenergie der mikroskopischen Teilchen ist, aus denen Materie besteht.
Diese mikroskopischen Teilchen, seien es nun Atome, Moleküle oder Ionen, bewegen sich ungeordnet und statistisch, so folgt aus der Empirie. Durchlaufen sie den Raum weitgehend unbeeinflusst voneinander, etwa in einem Gas, so stoßen sie in gewissen, nur statistisch verteilten Zeitintervallen (die von der Temperatur abhängen) miteinander und sorgen so dafür, dass die Energie im Mittel gleich verteilt ist.
Im gebundenen Zustand dagegen wechselwirken die Teilchen vor allem über Gitterschwingungen miteinander; hier ist die Temperatur ein Maß für die Stärke dieser Schwingungen.
Aus dieser Definition der Temperatur folgt schon recht offensichtlich die Existenz eines absoluten Nullpunkts. Dies ist genau der Punkt, an dem sich die Teilchen nicht mehr bewegen, keine Gitterschwingungen mehr ausführen und auch auf andere Weise keine Energie mehr austauschen.
Über das Verhalten von Materie bei dieser Temperatur ist, wie zu erwarten, nur zu spekulieren. In der Vorstellung eines idealen Gases wird der vom Gas eingenommene Raum bei dieser Temperatur, die man zu 0° Kelvin oder -273,16° Celsius berechnet, gerade Null; Materie eines ideelen Gases besitzt bei dieser Temperatur keine Ausdehnung mehr.
Mit Hilfe der elementaren Sätze der Wärmelehre lässt sich leicht zeigen, dass dieser absolute Nullpunkt niemals erreicht werden kann; formuliert wird dies im Dritten Hauptsatz der Thermodynamik. Aus diesem Grunde sind Aussagen über das Verhalten von Materie am Nullpunkt reine Spekulation.
Wie eingangs schon erwähnt, handelt es sich bei dem Begriff des Absoluten Nullpunkts um einen physikalischen, thermodynamischen, rein theoretischen Begriff, einen Begriff also, der mit der heutigen, allgemein geläufigen Bedeutung kaum noch zu tun hat:

In seiner medizinischen Bedeutung wurde der Terminus 2046 in einem Werbespot der Firma DESIREFREE eingeführt.

Der Spot war Teil einer Kampagne für ein damals neuartiges medizinisches Verfahren; der sich wiederholende Lauftext im Werbefilm, später zum Slogan von DesireFree erhoben, lautete: „Wir bringen sie an den Nullpunkt. Den absoluten Nullpunkt!“
Die Kampagne wurde von der Fachwelt zunächst kaum beachtet, da sie aus offensichtlichen Gründen sehr vage und mysteriös formuliert worden war. Als jedoch Details in der Öffentlichkeit bekannt wurden, löste dies eine lang anhaltende Debatte aus, an der sich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligten.
Bei der Nullpunkt-Technologie, so die offizielle Patentbezeichnung, handelt es sich um ein komplexe, neurophysiologisches Verfahren zur permanenten Verhaltensmodifikation.
Die genauen medizinischen Details können hier eben so wenig erläutert werden wie die mathematischen und technischen Hintergründe der Thermodynamik. Zudem ist die gesamte Spezifikation des Verfahrens rechtlich geschützt.
Es lässt sich jedoch sagen, dass es sich bei dem Verfahren um eine Kombination aus neurales Reprogrammierung und der gezielten Elimination minimalster Teile des Hirngewebes mit Hilfe von flüssigem Helium handelt.
Ohne die entsprechende fachliche Terminologie ist das Ziel und die Wirkung des Verfahrens schwer zu beschreiben. Daher greifen wir an dieser Stelle der Darstellung auf eine Analogie zurück, die DesireFree in einem ihrer ersten Werbefilme verwendete.
Ein Mensch, so der Spot, ähnelt vor der Therapie einem flachen See im Wind. In seiner Oberfläche spiegelt sich der Himmel; auch Wolken, die Sonne. Emotionale Impulse, im Spot durch wechselhafte Winde dargestellt, lassen das Wasser unruhig werden. Es bilden sich zunächst kleine Verwerfungen, schließen größere Turbulenzen und Wellen. In der Metapher könnte man sagen, der Wind habe eine kaum zu überschätzende Wirkung auf die Seeoberfläche. Ist er nur stark genug, so kann er das Wasser sogar aus seinem Bett heben.
Demgegenüber stellt DesireFree einen Menschen nach der Nullpunkt-Behandlung – nun ist der metaphorische See rundherum von hohen Bergen umgeben. Diese Berge sorgen dafür, dass der Sturm das Wasser kaum aufwühlen kann; versinnbildlicht wird dies durch die klare, ungestörte Reflexion der rapide ziehenden Wolken.
Das Verfahren wurde anfangs entwickelt, um Traumaopfer zu behandeln; letztlich führte es zu einem Produkt, dass nahezu alle emotionalen Störzustände, die Menschen durchlaufen können, eliminiert, in dem es die meist unerwünschten Langzeiteffekte vollständig ausschaltet. Laienhaft ausgedrückt könnte mal also sagen, die Nullpunkt-Technologie dämpfe die Intensität emotionaler Verwerfungen; klarer ist es allerdings, wenn man davon spricht, dass sie das emotionale Gedächtnis hemme, ja sogar ausschalte.
Historisch gesehen musste DesireFree diese Wirkungsweise schnell nach Bekanntwerden der neuen Entwicklung vor Gericht belegen. Mehrere Staaten nahmen Verfahren auf, um das Verfahren zu prüfen. Fraglich war, ob nicht schon die Intention und sicher auch die Wirkung des Verfahrens der Menschenwürde zuwider liefen; sie nehme den Menschen ihre Emotionen, behaupteten die Ankläger, und diese seien als integraler Bestandteil des Mensch-Seins zu schützen.
DesireFree konnte letztlich in weitreichenden, langwierigen psychologischen Test belegen, das ihr Verfahren keineswegs die Fähigkeit zerstörte, emotionale Zustände zu durchlaufen oder zu empfinden. In der Tat kamen alle diesbezüglichen Verfahren zu dem Urteil, dass Probanden des Nullpunkt-Verfahrens all die Emotionen durchleben konnten, die sie auch vorher schon besaßen; Angst, Freude, Wut, Liebe, Hass, Trauer in vielerlei Abstufungen.
Hemmend wirkte Nullpunkt-Therapie nur auf die Langzeit-Effekte, die mit emotionalem Erleben in der Regel verbunden sind. Gleichfalls konnte das Unternehmen aufzeigen, welch positive Auswirkung die Behandlung hat; die Wahrscheinlichkeit, Depressionen, Zwangsstörungen oder Stresssyndromen zu erleiden, sowie der Zahl der Fälle von Selbstmorden, Gewaltverbrechen und Unfällen in Folge menschlichen Versagens waren bei den Probanden signifikant geringer als bei der restlichen Bevölkerung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand; In eigenen Studien konnte DesireFree nachweisen, dass die mittlere Verweildauer von Behandelten in einem emotionalen Zustand (ohne weitere äußere Reize) nicht mehr als 29,6 Sekunden beträgt. Das bedeutet; das Empfinden von Gefühlen beschränkt sich ohne äußeren Einfluss auf kurze Augenblicke. Auch das wurde von Teilen der Gesellschaft thematisiert und als menschenunwürdig bezeichnet; letztlich konnten sich diese Gruppen nicht durchsetzen, weil die Mehrheit der Bevölkerung die Vorteile der Behandlung längst erkannt hatte.
Trotz der juristischen Erfolge wechselte DesireFree ihre Kampagne und ihr Logo noch während der Verfahren vollständig aus. Nach eigener Darstellung geschah dies, weil der Terminus des ‚Nullpunktes‘ und insbesondere auch die Spots nicht deutlich genug machten, was die Technologie leisten konnte und was nicht. Insbesondere die physikalischen Wurzen des Begriffs hätten, so eine Pressemitteilung, Kunden abgeschreckt.
In der Bevölkerung hatte sich der Terminus jedoch schon durchgesetzt, ebenso der Begriff ‚Nullpunkt-Mensch‘ (manchmal auch: ‚0.Mensch‘) für diejenigen, die sich bereits der Behandlung unterzogen hatten. Daher griff das Unternehmen den Slogan zwei Jahre später wieder auf.
Im Jahre 2078, also heute, sind etwa 76% aller Menschen in allen Industrieländern mit der Nullpunkt-Technik behandelt worden; für andere Länder lässt sich dies schwer angeben, weil es eine hohe Anzahl von illegalen Operationen gibt. Die Gründe für den rasanten Absatz des Verfahrens sind vielfältig, aber größtenteils pragmatischer Natur. Wie Studien rasch belegten, gibt es weder versteckte Nebenwirkungen noch echte Nachteile der Technologie. In den Anfangsjahren gab es zwar einige Fälle, in denen die Elimination der beteiligten Hirnbereiche nicht vollständig durchgeführt wurde. Patienten klagten nach der Therapie über einseitige emotionale Schübe, die bis hin zu schweren Zwangsstörungen reichten. In einem besonders tragischen Fall wurde einige Parameter, die für Jähzorn und Agression zuständig sind, nicht richtig eingestellt; ein 56jähriger geriet danach in einen psychotischen Zustand und tötete drei Menschen. Das Nullpunkt-Verfahren wurde danach beinahe verboten. Heute jedoch handelt es sich um eine Standardbehandlung, die absolut sicher in der Handhabung und nur minimal invasiv ist.
Die gesamtgesellschaftlichen Erfolge des Verfahrens sind heute offensichtlicher denn je. Die Verbrechensrate ist stark gesunken, ebenso die Zahl psychischer Erkrankungen. Der Zufriedenheitsindex ist seit 2046 um vierzehn Punkte gestiegen. Die Zahl der Unfälle in Folge menschlichen Versagens ist beinahe bei Null – auch deshalb, weil Nullpunkt-Behandelte am Steuer nahezu aller öffentlichen Verkehrsmittel sitzen.
Und das Wachstum geht weiter – für das Jahr 2100 rechnet DesireFree mit einer beinahe hundertprozentigen Versorgung des westeuropäischen/nordamerikanischen Marktes.

Auszug; Website von DESIREFREE Global, Rubrik: Historisches – ein kritischer Blick von unabhängigen Geschichtswissenschaftlern.