Kategorie 'Zukünftiges/Mögliches'

Mögliche Zukunft und zukünftige Möglichkeiten.

Der Tänzer

Diesen Artikel drucken 9. Januar 2011

Einen Schritt macht er, einen weiteren – er taumelt, stolpert, streckt das andere Bein vor, findet wieder Halt und macht wieder einen Schritt, der nur sicher wirkt, bis er wieder zu fallen scheint: Aus einiger Entfernung könnte man glauben, er tanze, wenn auch etwas ungelenk, und in der Tat hat es etwas von einem hässlichen Tanz. Nur, wenn man genau hinsieht, kann man es sehen; nichts läge ihm ferner als das Tanzen: Was ihn unruhig wandern und immer wieder stolpern lässt, das sind die Löcher im Parkett.

Er sieht sie nie genau an, diese Löcher, und das erklärt auch, warum ihm ihr Mangel an Tiefe nie auffällt, obwohl sie doch jedem Außenstehenden sofort als etwas Aufgemaltes, ja gar von ihm Hingezeichnetes auffallen würden; Er ist so sehr mit seinem seltsamen Schwindel befasst, dass es ihm entgehen muss. Aber natürlich weiß er, wer verantwortlich ist: Das wechselt zwar, aber stets berichtet er – schwärmt beinahe – von den Zionisten, dem Bankertum und der Pharma-Industrie, den alten Geheimbünden und neuen Eliten, kurz,  von der ganzen großen Verschwörung, in deren Zentrum er seinen Weg zwischen den ausgehobenen Gruben sucht und nicht findet. Da wären etwa etwa die Biochips, mit denen die Regierung ihre Gedankenkontrollexperimente in die Tat umsetzen will; da sind auch die Jetstreams, mit denen sie den Himmel vergiften; die große Lüge über die Erwärmung der Erde; die Nachbarn von gegenüber, die für die arbeiten, ohne dass er weiß, wissen will oder wissen kann, wer die nun genau sind, aber das ist auch egal, es sind die, die, die es immer sind, nur stets in anderer Form, es sind die Reptiloiden, die den ganzen Planeten unterwandern, es sind Geheimagenten und Killerkommandos, es ist George W. Bush und es sind die Zusatzstoffe im Müsli, alle wollen sie ihm ans Leder, alle reißen Löcher in den Boden, gerade da, wo er eben noch sicher stehen konnte, gerade dort, wo er gehen wollte. Kaum ist er einem Anschlag entgangen, lauert unter seinen Füßen schon der nächste, der nächste Angriff auf seine Autonomie, auf das freie Denken an sich, die Menschheit als ganzes, von irgendwoher, Attacken aus der Nichts in das Nichts für nichts als die Interessen der wenigen Herrschenden, Planenden. Cui bono, wem nützt es, seine Lieblingsfrage, der einzige Garant, die einzige Konstante in dieser Welt der unsichtbaren Mächte, Freund in der ständig drohenden Dämmerung.

Leicht hätte man ihn fällen können, ihm den verzweifelten Lebenswillen rauben können, der ihm die Kraft für den seltsamen Tanz gab, hätte man ihn nur gefragt, was er denn wolle (und wem das nütze), ob er nicht wolle, was sie wollen – oder umgekehrt – (und wem das nütze) und ob er wolle, was er will, oder will, was er wolle (und wem das nütze), alles Fragen, die ihn in endlosen Pirouetten nicht mehr auf dem Parkett, sondern im Kreise um sich selbst gehalten hätten. Schließlich bliebe nichts als die endlose Drehung der Teile um sich selbst, einer Kommunikation unfähig, und das stille Eingeständnis:

Die Glieder haben sich gegen den Kopf verschworen; der Kopf gegen den Magen; der Magen gegen die Gedärme, und so fort, bis jeder gegen jeden spielt und keiner von keinem etwas weiß außer, dass ihm nicht zu trauen ist. Stealth-Panzer überrollen das Lymphsystem; Schläfer lauern im Thalamus. Die Großmächte schlagen ihre Schlacht um den Cortex nur noch zum Schein, ihre Vereinbarungen richten sich längst auf anderes: Während der Zionismus in meinem Kopf siedend-heiß zündet, kündet das Thermit in meinen Adern von einem neuen, größeren Staat.

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Transformation

Diesen Artikel drucken 18. Januar 2010

Ich bin nur ein Mensch; dennoch gibt es drei, möglicherweise vier Personen, die diese Aufzeichnungen abfassen oder wenigstens später glauben werden, sie verfasst zu haben. Ich weiß nicht, wer sie tatsächlich verfasst; womöglich ist diese Unsicherheit auch nicht aufzulösen, vielleicht ist sie dem Menschlichen selbst geschuldet, der Abhängigkeit der Wahrheit von der Perspektive des Subjekts. Es ist mehr eine vage Spekulation, dass die Person, die diese Zeilen gerade schreibt, einen Mischzustand bildet, von dem man nicht sagen kann, ob und wann seine Vieldeutigkeit wieder in die Homogenität eines einzelnen Individuums, einer diskreten Person übergeht, auch wenn ich mir sicher bin, dass der Plan, der alles leitet, dies als letzten Zweck beinhaltet.
Inhalt und Zweck meiner Aufzeichnung aber ist, das ist mir recht klar, eine Erläuterung des Begriffs der Transformation, gleichsam ein Abschied, eine notwendige (wenn auch unvollständige) Erinnerung und eine Rechtfertigung, bestimmt für den Menschen und die Person, die einmal glauben werden, die Zeilen geschrieben zu haben, wenngleich dies in gewisser Hinsicht auch wahr sein mag.

Die Transformation bezeichnet, allgemein gesprochen und vom technischen Terminus befreit, den Wandel des einen hin zum anderen vermöge eines Dritten; Dies mag, wenigstens im Nachsatz, allgemein nicht richtig sein. Wo, so könnte man fragen, ist der Dritte beim Wandel, bei der Transformation des Bäumchens zum Baum? Diesem Einwand gebe ich statt, möglicherweise ist es nur eine facon de parler, wenn ich von dem Dritten spreche. Wenigstens in dieser Form aber mag man mir dann zustimmen; der genannte Wandel würde sich wohl nirgendwo in der Natur vollziehen, wäre da nicht genug Licht, Wasser und anderes, auch nicht ohne den verborgenen Plan der Natur dahinter (wenn man mir diese Metapher gestattet). Im Falle des Baumes mögen wir nichts davon wörtlich den Dritten nennen, es widerspräche auch dem wissenschaftlichen Weltbild und jeder empirischen Erkenntnis, einen solchen zu benennen.

In der Transformation, die das Ding betrifft, dessen Hand diese Zeilen schreibt, gibt es sehr wohl einen solchen Dritten, und dessen Rolle nehme ich zur Zeit ein; es ist eine Rolle, weil ich sie bald, spätestens aber morgen abgeben werden, und weil mich diese Rolle nicht völlig bestimmt. Ich bin eine temporäre Erscheinung, so wie der Eindruck von einer Person, den man im Halbdunkel gewinnen kann, kurz bevor man diese dann als Bekannten erkennt, aber dabei immerhin von solcher Dauer, dass mir diese Aufzeichnung möglich ist.

Ich besitze drei kleine, schwarze Bücher, die voll sind mit Bauplänen, technischen Zeichnungen und Spezifikationslisten. Abgesehen von den ganz offensichtlich unverrückbaren Parametern, die in der Transformation keine Berücksichtigung finden können, weil sie nicht zu ändern sind – so etwa gewisse Maße oder auch Strukturen der äußeren Erscheinung, ist in den Unterlagen alles bis ins Kleinste berücksichtigt. Es finden sich darunter auch naturgetreue Zeichnungen von Brustmuskulatur und Brillenbügeln; diese in ihrem Planungsaufwand paradoxerweise zeitraubenden Merkmale werden in der Realisierungsphase, in der ich mich nun befinde, nur verhältnismäßig wenig Aufwand bedeuten. Arbeitsintensiver werden dagegen die Teile der Transformation ausfallen, die in den endlosen Spezifikationslisten auf- und ausgeführt sind und in ihrer Natur wesentlich funktioneller sind, tiefer liegen, sozusagen. Das soll nicht bedeuten, dass sie für den Beobachter nicht erkennbar sind oder Ähnliches, ganz im Gegenteil, der größte Teil der Spezifikation betrifft ja gerade das Verhalten, welches wie keine andere Größe bestimmt, wer wir für andere sind, wer ich für den anderen bin. Mag es zwar der äußeren Erscheinung nicht zugerechnet werden – und so scheint es Konvention zu sein – stellen die Spezifikationen doch einen Großteil dessen bereit, was wir allgemein den Eindruck von einer Person nennen.
Die Schwierigkeiten, mit denen diese Abschnitte der Transformation behaftet sind, bedürfen wohl kaum einer Erklärung; zu betonen bliebe nur, dass diese, Disziplin, Technik und Opferbereitschaft vorausgesetzt, allesamt mit großer Sicherheit lösbar sind, auch wenn mir die technischen Details – so will es Spezifikation #12 – nicht mehr bekannt sind. Da Spezifikation #12 zu Charge #2 gehört, welche ich also bereits am zweiten Tag in meiner Zelle eingenommen habe, gehe ich davon aus, dass der Person, die ich als Mensch einmal war, gerade diese Veränderung, dieses Vergessen, äußerst wichtig war. Ich kann nur spekulieren, warum dies so ist; möglicherweise hatte diese Person erkannt, dass das Wissen über die Transformation und ihre genauen Gesetzmäßigkeiten, die pharmazeutischen und medizinischen Geheimnisse, die zur Erzeugung der Chargen notwendig waren, zu gefährlich seien, um sie einem nachgerade doch völlig Unbekannten mitzugeben.
Mir scheint es auch nicht nötig, den genauen Prozess zu kennen; die Technik ist meiner Überzeugung nach in sich perfekt (dies gebot schon Spezifikation #2), und der Wandel geht so rasch voran, dass ich diesen Brief trotz der relativen Stabilität meines Bewusstseins zügig abfassen muss. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass ich vergesse fortzuschreiben: Einmal schon muss dies geschehen sein, denn ich erinnere mich nicht mehr an die ersten Zeilen.
Ich akzeptiere diese Beschränkung freimütig, kann ich doch erkennen, dass der Prozess vorangeht. Noch sehe ich viele Brüche, viele sich widersprechende Haltungen und Eigenheiten an oder in meinem Charakter, doch sie lösen sich unter der Behandlung mehr und mehr auf, wechseln zu einer tiefen Harmonie, die nicht einmal die Natur hervorbringt. Bis gestern etwa liebte ich den Jazz, doch verabscheute seine stumpfen Rhythmen (Spezifikation #155), was mir jeden Musikgenuss verleidete und mich tonlos in meiner Zelle sitzen ließ, obschon doch eine Musikanlage darin steht.
Heute nun habe ich entdeckt, dass ich Chopin liebe, und seitdem höre ich ihn mit Genuss. Ich sah in die schwarzen Bücher: es wird bleiben (#196). Ich werde Chopin immer lieben! Es ist nicht die einzige Veränderung, welche die letzte Charge bewirkte: Einige sind mir bewusst, so etwa meine ewige Liebe zu Chopin oder meine weiter gefestigte Haltung gegenüber Fleisch und fettiger Nahrung (heute Mittag ließ ich das Fleisch auf dem Teller, es ekelte mich zutiefst an), andere dagegen sind mir weitestgehend verborgen: Ich habe von ihnen gelesen, aber es erscheint mir nicht, als ob sich etwas verändert hätte. Von den 54 Chargen sind nur noch 22 übrig: Ich bin die Liste von Charge #32, also die Reihe von Eigenschaften, die ich mir noch geben werden, bereits heute morgen durchgegangen. Ich freue mich darauf, Mitleid mit den Armen zu empfinden, und ich freue mich ebenso, morgen nicht mehr zu sein, weil ich jemandem anders, einem anderen Dritten Platz mache. Die kümmerliche eine Person, die in den meisten Menschen wohnt, ist versucht dem Tod zu entgehen, das weiß ich wohl. In meinem Fall scheint es aber anders zu liegen: Ich bin nur ein Zwischenprodukt, und unfertig wie ich bin, wäre das Leben mir wohl eine Qual, wüsste ich nicht, dass es vorbeigeht und einem anderen, harmonischeren Platz macht, welches wiederum unausweichlich dem Ausgang der Transformation entgegenstreben wird (entsprechend Spezifikation #1), so wie ich es tat, als ich die heutige Charge einnahm.

Transformation

Mir erscheinen die Zeilen, die oben von einer Erinnerung, gar einer Rechtfertigung künden, als ein seltsames Artefakt, welches zwar möglicherweise nicht wünschenswert, aber dennoch von dokumentarischem Belang ist: Ich konnte den Autoren der Worte eingrenzen auf den Bereich zwischen Tag/Charge 5 und Tag/Charge 8. Erst #30 und #32 eliminierten jede Form von Schuld und jede Verantwortung für die Person, die diese Transformation vormals geplant und eingeleitet hat, während #18 den Wortschatz etablierte, der sich in den Sätzen zeigt. Sollte ich eine Bezeichnung wählen, so schrieben es entweder Nummer Fünf, Sechs, Sieben oder Acht. Ich bin Nummer 32 in dieser Hierarchie, und damit so gänzlich verschieden von jenen, dass mir ihre Gedankengänge nicht mehr zugänglich sind: man mag mir verzeihen, wenn ich keine Rechtfertigung, nicht einmal eine Erinnerung niederschreiben kann. Ich erinnere mich nicht und es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste. Der Gedanke daran, dass ich vormals ein anderer war, und dass dieser andere aus Gründen, die mir verborgen bleiben, diesen Weg wählte, um durch Transformation – und durch mich sowie meine Vorfahren und Nachfolger – ein anderer zu werden, schreckt mich nicht, noch weckt es in mir Bedenken (#31 und #33). Sollte ich spekulieren, und dies ist mir aufgrund der bereits verinnerlichten psychologischen Kenntnisse möglich, so kann ich nur vermuten, dass der Erschaffer der Chargen, dem ich mich so nah fühle wie auch einem Hausschwein oder einem Hasen, in höchstem Maße verzweifelt, bei all dem Leid aber auch in technischer (und nicht zuletzt künstlerischer, man denke nur an Chopin!)  Hinsicht begabt genug war, um diesen Weg zu finden. Mir ist nicht bekannt, aus welchen Gründen er nicht sein wollte, wer er war, wohl aber ist mir die Tatsache vertraut, dass es den meisten Personen schwerfällt, nur eins zu sein und daran nur mühsam etwas ändern zu können: Möglicherweise, so denke ich es mir, war er gar nicht so verschieden von all den anderen Wesen. Auf eine Art erscheint es mir grausam, dass er mir, dir und uns die Fähigkeit nahm, auch anderen Menschen derart zu helfen; es gäbe viele, die den Prozess bereitwillig durchlaufen würden, so denke ich es mir, auch wenn ich weiß, dass #212 dies ändern wird. Die Natur, so sagt es bereits die Alltagsvernunft der meisten (#77), schafft nur selten wahrhaft harmonische, weil stimmige Strukturen. Kein Baum, an dem nicht ein Makel der Asymmetrie wäre, kein Vogel, dessen Gefieder nicht die eine oder andere Unstimmigkeit besäße: mit den Menschen und den Personen, die ihnen innewohnen, ist es nicht anders. Der Charakter wächst wild wie Gestrüpp oder Unkraut, ohne dass es je einen Gärtner gegeben hätte, und nur allzu schnell nistet sich der Makel ein, zerstört die Schönheit absoluter Symmetrie. Ich kann mich glücklich schätzen, dass der Mann, der einst die Bücher schrieb, die Technik entwickelte und die Zelle für die Dauer der Transformation einrichtete, uns und vor allem dich, der du am letzten Tag diese Zelle verlassen wirst, nicht diesem Schicksal überließ. Die Natur mag aus dem Nichts das Schöne hervorbringen; doch zu ihrer Perfektionierung braucht es den geschulten Intellekt – und die Transformation.

Avatar ∞

Diesen Artikel drucken 7. Dezember 2009

In einem Moment
Betrachtete er

die elektronische Oberfläche eines einfachen Moleküls, das am Rande eines Protosterns frei durch den Raum glitt
den Kampf zweier Schlangenwesen auf einem Planeten, der zwischen zwei roten Riesen zerrieben wurde
das Wesen einiger Dutzend emotionaler Zustände einer primitiven Spezies, die auf zwei Beinen lief
und vieles mehr

In diesem einen Moment

verschob er 241 Sterne in der Nähe der zentralen Anomalie, so dass ihre Anordnung in stabile Bahnen überging
schuf er eine neue Spezies reptilienartiger Sechsfüßer, deren Proportionen den Fibonacci-Zahlen entsprachen
ruhte er in der Tiefe eines Plasmasees und hörte das Rauschen von ionisiertem Helium

In einem Augenblick
Erinnerte er sich

an die Femtosekunden und Jahrtausende seiner Existenz
an das fremd gewordene Gefühl von Heimweh
an den winzigen blauen Ball, von dem er stammte

Und tanzte

zwischen diesen, jenen, allen Sternen
in der komplexen Ebene
und im Sonnenwind

In diesem einen Moment

dachte er alle Primzahlen mit Ausnahme der Zwei
berechnete er das Ende des Universums und was danach käme
stellte er die Frage nach dem Sinn seiner Existenz,
gab alle Antworten

und verwarf jede einzelne.


Inspiriert von der Figur ‚Doctor Manhattan‘ und Avatar.

Monstrum/Drei Bilder

Diesen Artikel drucken 6. November 2009

Was sie dort wohl tun, fragte er sich. Was sie dort wohl tun. Er zog an einer Zigarette und blickte weiter aus dem Fenster. Die Antwort auf seine Frage lag vor ihm, lag groß und mächtig vor ihm, aber er würde sie nie verstehen, verstehen können, wollen.

Was sie dort wohl tun, fragte er sich, und blickte auf die Fabrik. Sie lag nicht einmal zum Schein verborgen zwischen den Wohnhäusern. Ihre silberne, an einigen Stellen vom Rost zerfressene Haut war eine Beleidigung, ein offener Affront: zwischen ihr und der ansonsten ruhigen Wohngegend rundherum herrschte so etwas wie ein ästhetischer Krieg. Es ließ sich nicht genau bestimmen, wie hoch der ewig dampfende Schornstein war, der mitten aus dem silbernen Panzer herausragte. In der Umgebung gab es kein Gebäude, keinen Fixpunkt, der auch nur annähernd so hoch war, und deshalb schien er bis in den Himmel zu ragen wie ein übergroßer Zeigefinger.

Monstrum Viel mehr wusste niemand über die Fabrik; sie stand da, war wie eine zum Stillstand gekommene Wucherung in die Stadt gewachsen, und blieb. Er hatte die Nachbarn gefragt, um was für eine Anlage es sich handelte, aber auch sie wussten nicht mehr darüber und wollten – so schien es – auch nicht darüber sprechen. Es war so, als wüsste überhaupt niemand irgendetwas darüber. Alle kannten die Stahlhaut, den grotesken Turm, mehr nicht. Den meisten war dieser Fremdkörper ein Dorn im Auge, sicher; aber er hatte nie von offenem Protest gehört, einer Petition oder Bürgerinitiative.  Und niemandem konnte entgehen, wie sehr die Präsenz dieses seltsamen Monstrums die plangenau angelegten Straßen und Häuserblocks, die Vorgärten und Hinterhöfe rundherum zu verzerren schien; wenn man aus einem der oberen Stockwerke auf die Stadt und die Fabrik blickte, schien es so, als sei die Stadt um das Monstrum in ihrer Mitte angelegt worden, als solle jeder Weg dorthin führen.

Und dabei gab es niemanden, der dort arbeite. Das war falsch, natürlich; dort mussten Menschen arbeiten, manchmal sah er auch einige Gestalten über das Gelände huschen, und die Geräusche, die das Ungetüm selbst in der Nacht von sich gab, ließen auf unablässige menschliche Geschäftigkeit schließen. Aber niemand aus der Stadt arbeitete dort, und niemand kannte jemanden, der es tat; sie mussten von weit her kommen.

Er beobachtete, wie ein kleiner Hubschrauber am Horizont auftauchte, sah ihn auf die Fabrik zuhalten. Einige Minuten umkreiste er den stahlgrauen Zeigefinger, schien etwas zu suchen. Es war ein schwarzer, schmaler Helikopter, der höchstens für zwei Personen Platz bieten konnte, wie er glaubte:  die Scheiben waren geschwärzt, und so konnte er die Insassen nicht sehen. Er blickte auf seine Uhr, als der Pilot wieder abdrehte und in die Richtung zurückflog, aus der er gekommen war: die gleiche Zeit wie immer.

Was sie dort wohl tun. Das fragte er sich und schloss das Fenster wieder.

Der Zug hatte Verspätung gehabt, wie so oft, und so stand er viel zu spät vor seiner Wohnung. Er drehte den Schlüssel im Schloss und trat ein: Die Luft roch abgestanden. Einige Sekunden horchte er und genoss die Stille. Dann ließ er seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich. Atmete tief durch. Und befühlte fast unwillkürlich den Riss, den niemand sah.

Ja, er war wieder größer geworden: aber wen hätte das verwundern sollen? Es würde sich nicht mehr ändern. Das Loch würde wachsen, auch wenn er nicht sagen konnte, wohin: es würde seine Organe auflösen und Platz für die Leere schaffen, auch wenn er sich nicht einmal sicher war, wo der Riss genau verlief. Manchmal dachte er, er oder es wäre in seiner Brust; dann war es wieder der Bauch. Manchmal glaubte er, ihn mit den Fingerspitzen zwischen zwei Rippen zu spüren. Dann wieder war er sicher, dass der Riss quer über seine Stirn lief. Wenn er aß, dann schien alle Nahrung durch den Riss zu sickern und er blieb hungrig, immer hungrig: war ihm nach Weinen zu Mute (und das geschah oft), so schienen die Tränen in dem Loch zu verschwinden.

Sie hätten es erklären müssen, dachte er oft. Natürlich hatte er den Vertrag gelesen, und natürlich hatten sie ihn in gewisser Weise darüber informiert, dass es Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Aber sie hatten ihm nichts von dem Riss erzählt. Die Einspeisung war irreversibel gewesen, das wusste er; er hatte es in Kauf genommen, weil die Bezahlung gut war.

Er stand auf und ging zum Kühlschrank, fand nichts Essbares vor. Sinnlos, dachte er, und setzte sich wieder. Das Schlimmste an der Einspeisung war, dass sie niemand sah. Früher hatte er sich nicht einmal getraut, bei Tageslicht auf die Straße zu gehen, weil er dachte, die Passanten würden erschrecken. Aber niemand sah ihm an, was mit ihm geschah, wie ihn die Arbeit langsam auffraß. Einmal hatte er den Kassierer im Supermarkt angesprochen; er hatte nicht gewusst, wie er es sagen sollte, und so hatte er alles auf einmal und dabei doch gar nichts gesagt, als ob selbst die Worte in dem Abgrund zwischen seinen Schultern verschwinden würden. Der Mann hatte ihn einige Sekunden angestarrt und dann gelacht: Das kennen wir doch alle, hatte er gesagt, und nicht das Geringste verstanden. Sie sahen den Riss nicht; sie sahen ihn einfach nicht.

Er seufzte leise, und für einen Augenblick glaubte er, so etwas wie ein tiefes, fast stummes Echo zu hören. Es war bereits halb eins; nur an der Tankstelle würde er noch etwas zu Essen bekommen, und dann blieb zum Schlafen kaum noch Zeit. Wenn er noch etwas zu sich nehmen wollte, dann musste er jetzt losgehen; einen Moment lang versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, den er nehmen musste.

Aus dem Haus heraus, dann über die Straße. An der Ecke vor der Schule musste er links abbiegen auf den Zubringer; dann immer geradeaus, zwischen den beiden Brücken hindurch, immer entlang der großen Straße, auf der ein beständiger Strom von silbrigen Fahrzeugen in jedwede Richtung fuhr. Vorbei an den stahlgrauen Bürokomplexen, in denen um diese Zeit kein Licht mehr brannte, immer weiter parallel zur Leitplanke, die im Licht der Scheinwerfer so vertraut funkelte, funkelte wie ein Zeigefinger in dunkler Nacht. Irgendwo hier hätte er noch einmal abbiegen müssen, aber wo, wo nur, es half nichts, er musste zunächst weiter geradeaus, hin zu dem Ungetüm, silbrige Haut und ein 50 Meter messender Stachel, immer weiter darauf zu, kein Weg zurück, er musste weiter, er hörte schon das unablässige Klopfen, konnte den Rauch aufsteigen sehen, fühlte, wie der Riss von seinem Bauch in die Brust und dann in den Kopf wuchs, sah sich selbst, ein Fleck Nicht-Anwesenheit zwischen Bordstein und Häuserwand, ein Riss mit einem Stachel, der 50 Meter in die Nacht wuchs.

Als er erwachte, fand er sich auf dem Stuhl wieder, auf dem er eingeschlafen war. Er blickte auf die Uhr, es wurde Zeit. Ein letztes Mal atmete er tief ein. Es mißlang ihm; der Riss gestattete es nicht. Dann nahm er seine Tasche und lief durch die Dunkelheit zum Zug.

Er blickte auf die Zigarettenschachtel, dann nahm er die letzte Zigarette heraus und fröstelte. Es war kalt um diese Uhrzeit: er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so früh noch wach gewesen war. Seine Uhr zeigte 4 Uhr 22, und es war noch immer niemand in Sicht. Vor einer halben Stunde wäre er fast schon nach Hause gegangen, und je früher es wurde, desto verlockender erschien ihm sein Bett. Seine Neugier war groß genug gewesen, um sich in der Nacht aus dem Haus zu schleichen; jetzt stand er schon fast fünf Stunden in dieser düsteren Ecke zwischen zwei Häusern in der Nähe der Fabrik. Irgendwann mussten sie hier vorbeikommen; er wusste, manche kamen mit dem Zug, vielleicht sogar alle. Er trat die Zigarette aus; jetzt konnte er nicht einmal mehr rauchen. Lautlos fluchte er. Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Es war eine Fabrik, jeder konnte es sehen. Wen scherte es schon, was sie genau darin taten? Und wer würde so dumm sein, die ganze Nacht frierend zu warten, nur um einen der Arbeiter aus der Nähe zu sehen? Er selbst, dachte er und musste fast lächeln, auch wenn er seine Lippen kaum noch spürte. Noch einmal sah er auf die Uhr; 4 Uhr 33. Um halb fünf kamen sie also auch nicht. Er gab seinem frierendem Körper nach, schüttelte seine Füße einige Momente aus, um wieder etwas Wärme hineinzubringen, dann trat er aus der Ecke heraus und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war erst einige Meter gegangen, da bemerkte er, wie sehr es ihn erleichterte, von dort verschwinden zu können: Nachts und aus der Nähe wirkte die Fabrik noch seltsamer, nicht nur befremdlich, sondern fast beängstigend. Er fragte sich immer noch, was darin vorging: aber das musste warten, vielleicht auf den Sommer. Ja, im Sommer würde er es vielleicht länger dort aushalten.

Er sah den Mann in Arbeitskluft erst, als er in eine Seitenstraße einbog, und prallte fast gegen ihn. Es war ein Arbeiter, dass war ihm sofort klar; er trug den Overall mit dem seltsamen Emblem, das auch den Turm zierte. In der Hand trug er nur eine dünne Aktentasche, und es wirkte so, als wäre sie sehr leicht.

Er starrte den Arbeiter an: „Verzeihung“ murmelte er  „Mein Fehler.“ antwortete der andere. Einige Sekunden blieb er stehen und musterte den Mann in dem Overall; der tat es ihm gleich.

Die ganze Nacht lang hatte er gewartet und sich Fragen zurecht gelegt; er war sich ganz sicher gewesen, was er fragen musste und in welcher Reihenfolge. Doch jetzt fiel ihm kein Wort mehr ein. Einige verirrte Silben entflohen ihm, ziellos, aber der Arbeiter schien irgendetwas davon zu verstehen und nickte. Sein Gesichtsausdruck wurde düster, und mit der freien Hand schien er instinktiv nach etwas zu greifen, dass sich an oder in seinem Overall befinden musste.

„Das machen sie. Es frisst uns auf.“

Für einen Moment versuchte der Anwohner zu lächeln; sein Mund öffnete sich, er wollte sagen, dass es ihm auch manchmal so geht. Dann sah er, wonach der Arbeiter gegriffen hatte; das heißt, eigentlich war er sich nicht sicher, was er sah, aber es ließ ihn verstummen. Das Lächeln verschwand, Entsetzen kam. Einige Sekunden starrte er auf die Brust, oder den Bauch, oder den Kopf des Arbeiters, der immer noch zitternd seine Aktentasche hielt.

„Das geht uns doch allen so. Die Arbeit frisst einen auf!“, sagte er dann und lachte bellend laut. Er ließ den Mann mit dem Loch in der Brust hinter sich, eilte nach Hause und versuchte schon auf dem Weg alles zu vergessen, was er jemals über diese Fabrik gehört hatte.

Die Große Schande (2)

Diesen Artikel drucken 25. März 2009

Liebe Leser, auf Anregung Dritter werde ich die weitere Veröffentlichung etwas verzögern: jeden Tag um die 1000 Worte sind wohl auch etwas viel. Daher erscheint der dritte Abschnitt von „Die Große Schande“ am nächsten Donnerstag und dann jeweils wöchentlich.

Zeitindex +4

Als ich das Radio einschaltete, hatte das Töten schon begonnen. Irgendein Korrespondent berichtete gehetzt von den Ausschreitungen in einer Kleinstadt bei Barcelona. Heute glauben viele, dass die Medienberichten in den ersten Stunden als eine Art Multiplikator gewirkt haben müssen, denn schließlich schlugen nicht alle zugleich los; manche taten es sofort, bei anderen dauerte es einige Stunden; letztlich erreichte es fast alle. Wir hatten glaubten, die Menschen würden innehalten; wir glaubten, dass wenigsten die Religiösen das Ende in Gleichmut erwarten können. Wir waren sogar so vermessen, wenigstens uns selbst für besonnen zu halten. All das war, wie wir wissen und wie nun auch ihr wissen werdet, ein Trugschluss. An den ersten beiden Tagen des Novembers starben nach groben Schätzungen 526 Millionen Menschen. Ich kann nicht definitiv sagen, wie viele davon Selbstmord begingen, viele waren es nicht, in jedem Fall überwogen die Morde. Ich weiß nicht, warum die Menschen töteten; ich weiß nicht, warum ich tötete. Ich erinnere mich an eine ältere Frau aus dem Haus nebenan, die ich totschlug; ich erinnere mich an ihr Gesicht, an ihr Schreie, an ihr Flehen, aber nicht an das Warum. Ich erinnere mich auch an nichts Animalisches, an keine Ekstase. So war es bei allen, die ich umbrachte; ich tat es einfach, ich tat es geplant, ohne Wut, aber auch ohne Grund. Natürlich waren unter meinen Opfern auch solche, die mich töten wollten, und manchmal möchte auch ich mich heute noch darauf zurückziehen, dass ich in Notwehr gehandelt habe, aber das ist einfach nicht die Wahrheit; die Frau etwa, von der ich sprach, sie saß in einem alten Lehnstuhl auf ihrer Veranda. Als sie mich kommen sah, kreischte sie.

Zeitindex +5

Es gibt auch keine Studien zu der Frage nach den Gründen. Ich habe versucht, unauffällig Daten darüber zu sammeln, und alle, mit denen ich sprach, sagten mir Ähnliches. Es schien uns egal zu sein: Es war egal. Aus irgendeinem Grund waren in uns alle Dämme gebrochen, weil wir das Ende erwarteten, und das Allzumenschliche brach hervor. Wir brachten unsere Frauen und Männer um; unsere Kinder, unsere Nachbarn, irgendjemanden; wir brandschatzten, vergewaltigten; wir feierten. Niemand kann mir sagen, was wir feierten, vielleicht feierten wir einfach Nichts. Ich weiß es nicht, und die Erinnerung daran ist verschwommen. Wir tranken, wir koksten, wir konsumierten alles, was wir finden konnten. Natürlich blieben wir dabei die meiste Zeit allein und saßen zugedröhnt in irgendeinem Keller, aber in den größeren Städten soll es Nachts einen regelrechten Waffenstillstand gegeben haben, ohne dass irgendjemand diesen hätte ausrufen müssen oder können. Wenn der Rausch vorbei war, dann zogen wir wieder los und brachten jemanden um.
Die Große Schande (2) Man sollte glauben, dass diese Lebensweise irgendwann ermüdete; das man mit jedem Rausch, mit jedem Toten müder wurde, bis schließlich die Lethargie und das Versöhnliche überwog. Heute erscheint es auch mir unverständlich; irgendwann hätten wir genug haben müssen. Dann hätten wir uns auf den Boden gesetzt und auf das Ende gewartet, darauf, dass es endlich kam. Aber diese Sättigung setzte nicht ein; die Menschen feierten, die Menschen töteten, immerzu, immer wieder. Meine Frau und meine Tochter starben am 10. November. Ich weiß nicht, ob ich es war; ich habe nur eine zerfetzte Notiz mit diesem Datum bei ihren Leichen gefunden. Es war in meiner Handschrift verfasst; ich hoffe dennoch, es nicht selbst getan zu haben. Vielleicht war es jemand anders, wer weiß das schon. Ich lebte zu dieser Zeit in einem dünn besiedelten Gebiet in Italien, und dennoch habe ich mindestens 60 Menschen erschossen, erstochen oder totgeschlagen. Dabei kann ich mich noch ein wenig an die Gesichter erinnern, das ist alles. Ich weiß weder, wo ich in der Zeit bis zum 18. genau war, noch weiß ich, wie ich letztlich nach Tropea gelangte. So gut wie es möglich war, sprach ich mit anderen darüber; ein Mann aus Madeira versicherte mir erst letzte Woche, nicht weniger als 1200 Menschenleben ausgelöscht zu haben, einen ganzen Wohnblock.

Zeitindex +6

Niemand weiß, wie viele Menschen im Zeitraum vom ersten bis zum 18. November starben und wie viele vorher schon gestorben waren. Feststeht, dass es am 18. November wohl noch etwa 1600 Millionen Menschen gab. Das Objekt muss zu diesem Zeitpunkt einen Durchmesser von nicht weniger als 850 Kilometern besessen haben, ich erinnere mich, es über den Bergen gesehen zu haben. Es hatte die Farbe des Himmels, das weiß ich noch, und wenn man nicht auf das leichte Glitzern achtete, dann konnte man es fast übersehen. Ich verbrachte den Tag damit, einen alten Bauern, der ein alter Freund meines Vaters gewesen sein muss, durch die Halbwüste zu hetzen. Er lief noch schnell für sein Alter, aber letztlich muss ich ihn doch eingeholt haben; ich erinnere mich daran, dass ich ihn fallen sah. Möglich, dass ich den finalen Termin wirklich vergessen hatte. Vielleicht war er mir auch nur gleich. In meinem Bild von diesem Tag ist da einfach nur die Sonne, das glitzernde Ding im Norden und das Brennen der Pillen, die ich irgendwo eingeworfen hatte.
Als die Sonne unterging, legte ich mich wohl hin, einfach dort, wo ich gerade war: ich sah den Himmel über mir. Ich hatte keinen Hunger, keinen Durst; Ich hatte noch genug Tabletten bei mir. Irgendwann hörte ich das Geräusch, dass ich schon einmal zuvor gehört hatte. Einige Zeit später stand ich auf und sah in Richtung Norden.
Das Objekt verschwand gegen 22:30 Uhr vollständig. Niemand weiß es so ganz genau, weil kaum jemand auf die Uhr schaute.

Die Große Schande (1)

Diesen Artikel drucken 24. März 2009

Liebe Leser, ich habe nach langer Arbeit einen sehr schönen Text fertiggestellt. Aufgrund seiner Länge habe ich beschlossen, ihn zunächst stückweise zu veröffentlichen. Jeden Tag um 10 Uhr erscheint ein neuer Teil. Viel Spaß beim Lesen.

Zeitindex +0

Was würde geschehen, wenn die Welt morgen aufhören würde zu sein?
Was wäre mit den Menschen, wenn sie davon wüssten?
Wie würden sie sich verhalten? Wären sie wie Menschen? Wären sie wie Tiere?

Auf all diese Fragen gibt es eine Antwort, die man euch lange vorenthalten hat. Vielleicht ist es eine Art von Verrat, sie euch zu geben; vielleicht ist es falsch, den Schleier des Nichtwissens von euch zu nehmen. Nur die Geschichte wird ein solches Urteil fällen können – doch kann es ein solches Urteil noch geben, wenn es nicht die wahrhaftige Geschichte ist, die dort richtet, sondern eine erfundene, eine erlogene Geschichte?

Aus der Zeit des Anfangs ist nicht mehr viel erhalten. Bei der Suche nach Quellen konnte ich den genauen Ursprung, die genaue Ursache für das Ereignis nicht ausmachen. Klar ist, dass es im September 2088 erstmals von den Medien aufgegriffen wurde, aber da war die Anlage schon zerstört worden. Auch das Phänomen selbst konnte ich bei meinen Recherchen nicht eindeutig identifizieren; die meisten Aufzeichnungen sind schon gelöscht. Es muss sich um eine Art Artefakt gehandelt haben, nicht direkt um eine Singularität, aber um etwas Ähnliches; vielleicht ein unwahrscheinlicher Übergang oder eine lokale C-Streckung. Die Daten geben nicht mehr her. Wichtig ist nur, dass es rein physikalisches Objekt war; das wurde mehrmals empirisch bestätigt. Nach den Messungen hatte es die vorausberechnete Abstrahlcharakteristik eines Nullstrahlers, kaum gefährlich, wenn man sich nicht in direkter Nähe befand.

Zeitindex +1

In den ersten Tagen wussten wir genauso wenig, was vorging, wie die Journalisten; im Fernsehen sah man immer wieder diesen dunklen Fleck mitten in einem Rapsfeld irgendwo in den Alpen; der Fleck reflektierte zum Teil die dunkle Erde, aber an einigen Stellen auch den Raps, und ich erinnere mich, in einer Liveschaltung das Wachstum dieses Flecks verfolgt zu haben; ich sah es mit meiner Tochter zusammen. Es war vielleicht die Spiegelung des gelben Rapses, die eine Panik noch verhinderte. Irgendwie schien es nicht gefährlich, dieses kleine Ding im Raps. Dennoch war klar, das etwas sehr Beunruhigendes vorging, zumal man zusehen konnte, wie das Ding langsam wuchs. Trotzdem verschwand es gegen Mitte September aus dem Programm, vermutlich hatten die Regierungen einen Informationsstop verhängt.
Ich weiß nicht mehr, was zwischen Mitte September und Anfang Oktober geschah, aber das ist nicht ungewöhnlich. Es muss Alltag gewesen sein; von dem ist mir nicht viel geblieben aus dieser Zeit.
Am 3. Oktober wurde das Ding schlagartig größer. Es muss vormittags geschehen sein, oder aber erst gegen Mittag. Der Durchmesser vergrößerte sich wohl von drei Metern auf 100 Kilometer, so sagte man es zumindest in den Nachrichten. Die meisten Berichterstatter in der Schweiz wurden von dem Ding einfach verschluckt, in Sekunden oder Minuten, daher gab es nur noch Satellitenbilder von dem Objekt. Aus dem Orbit sah es aus wie eine dunkle Blume; die Sterne funkelten darin, und der Kommentator wurde nicht müde, auf den silbernen Fleck hinzuweisen, der die Spiegelung des Satelliten zu sein schien.

Zeitindex +2

Wenn ich daran zurückdenke, ist es seltsam, was mir erhalten geblieben sind; das Ding verschwand von da an nicht mehr aus dem Fernsehen, und ich weiß noch genau, was die Fernsehsprecher berichteten, immer und immer wieder. Dutzende von Wissenschaftler wurden interviewt, sie alle sagten immer nur das gleiche. Eine präzise, physikalische Antwort lieferten sie nie, aber das mag dem Publikum geschuldet gewesen sein. Irgendwann muss ich im Netz einige theoretische Arbeiten dazu gelesen haben, die man hektisch zusammengestückelt hatte, aber daran erinnere ich nicht mehr genau. Daher kann ich auch nicht sagen, was genau dieses Ding war. Geblieben sind mir vor allem diese Bilder auf dem Bildschirm. Die aus dem Rover, den man an das Loch heranfuhr; die Spiegelung des Rovers in einem silbrigen Nichts, das sich langsam ausdehnte. Die Metallstange, die man in die Anomalie schob, um sie entsprechend verkürzt und mit glühendem Ende wieder herauszuziehen. Die Aufnahmen von den startenden Interkontinentalraketen, ihr wirkungsloses Eindringen ins Ziel.
Ich denke, es dauerte etwa ein oder zwei Wochen, bis die Prognosen kamen. Ich erinnere mich an drei oder vier Interviews mit Theoretikern, die plötzlich durch Bildstörungen beendet wurden; ich nehme an, die Regierungen oder das Militär haben die Ausstrahlung unterbunden. Letztlich war das egal; einige Sender gingen nach diesen erzwungenen Störungen nie wieder auf Sendung, auf anderen konnte man später die kalkweißen Gesichter der Reporter sehen, die stotternd nach einer Entschuldigung suchten. Es war klar, dass es schlimm um uns alle stand, und das auch ganz ohne wissenschaftliche Erklärung. Zu diesem Zeitpunkt gab es die ersten Unruhen, meist in den größeren Städten. Einige Endzeitsekten begingen kollektiven Selbstmord, wenn die Armee sie nicht daran hinderte. Im Großen und Ganzen jedoch blieb es relativ ruhig; Gewaltausbrüche wurden rigoros niedergeschlagen. Das Fernsehen zeigte zwischen Nachrichten und Satellitenbild immer häufiger Gottesdienste oder Andachten; einmal habe ich sogar eine Live-Übertragung aus einer Moschee gesehen. Auch in meiner Gegend gingen immer mehr Menschen in die Kirche. Vielleicht war ich auch da, einige Male, das ist möglich, mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.
Schließlich, es muss Mitte Oktober sein, wurde auf allen Sendern gleichzeitig der Wortlaut eines Papiers verlesen, auf dass sich die nationalen Wissenschaftsräte geeinigt hatte; ich weiß nicht, warum die Regierung es zuließ, vermutlich warum sie zu der Überzeugung gelangt, dass alle das Recht hätten, es zu erfahren. Mir ist nicht bekannt, wie sie zu diesem Entschluss gelangten; ich kann ihn dennoch gut verstehen.

Zeitindex +3

Der Bericht hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf, er nannte Daten. Jeder Mensch, den damals lebte, muss den Wortlaut noch genau in Erinnerung haben; Unsere Berechnungen hinsichtlich der Entwicklung der Störung wurden auf nationaler und auch auf internationaler Ebene hundertfach wiederholt und mehrfach verglichen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Radius des Objekts mit einer mittleren Geschwindigkeit von 50m pro Tag wachsen wird. Weiterhin ist unstrittig, dass nach der sprunghaften Expansion, die wir schon erlebt haben, weitere folgen werden. Es ist uns uns möglich gewesen, diese Sprünge exakt zu berechnen. Am 1. November wird es in den Morgenstunden auf einen Radius von etwa 743,25 Kilometer plus minus drei Meter anwachsen. Am 18. November wird es gegen 22:00 Uhr auf einen Radius von 11343,34 Kilometern plus minus zwei Meter anwachsen. Damit wird die Anomalie die gesamte Erde einschließen. Die Chance, dass nach diesem Zeitpunkt noch irgendeine Art von Leben auf der Erde existiert, ist Null.
Nachdem ich diese Worte zum ersten Mal gehört hatte, sah ich herüber zu meiner Frau. Sie hielt unsere Tochter im Arm. Beide weinten; das ist der letzte Moment mit ihnen, der mir im Gedächtnis geblieben ist.
Ich weiß nicht, warum sie das Wort Weltuntergang nicht verwendeten, auch nicht Apokalypse, nicht Armageddon. Nach der Verlesung jedenfalls waren die Fernsehsender voll von diesen Worten, zumindest, solange sie noch arbeiteten. Eigentlich war jedes Gespräch voll von diesen Begriffen und vor allem von diesem Gedanken.
Natürlich gab es unmittelbar danach große Unruhen; Buenos Aires brannte, Tokio. New Orleans. Einige europäische Städte fielen ebenfalls in den ersten Tagen nach der Botschaft. Was in Zentral- und Ostasien geschah, kann niemand mehr genau sagen, die Chinesen kappten alle Verbindungen zum Ausland und es sind zu wenige Menschen übrig geblieben, die man heute noch fragen könnte. Das Militär zog sich aus den Unruhegebieten zurück, zumindest war das die Aussage der wenigen verbliebenen Fernseh- und Radiosender. Dennoch herrschte eine doch recht gefasste Stimmung. Soziologen und Psychologen meiner Generation wussten nie, warum das so war; einige schoben es auf eine Art retardiertes Moment der menschlichen Psyche, andere verwiesen auf lang tradierte, äußerst stabile gesellschaftliche Systeme und meinten damit vor allem die Kirchen.
In der Tat waren die Kirchen in diesen Tagen voll mit Menschen, ich bin mir sicher, ich war auch einer von denen, die sich dorthin flüchteten. Andere zogen sich in ihre eigenen Vorstellungen zurück; in die von einem Jenseits, in die von einer letztendlichen Gerechtigkeit, die die Menschheit nun traf. Wieder andere hielten ihre politischen Botschaften aufrecht, manchmal sah man sie noch im Fernsehen. Sie sprachen vom Frieden; oder von der Würde des Menschen, die selbst im Angesicht des Untergangs nicht verloren ging. Und tatsächlich verlief sogar die Flucht der Millionen Mitteleuropäer nach Westen oder Osten recht ruhig ab.
Dann, es muss in den letzten Tagen des Oktobers gewesen, leerten sich die Kirchen wieder. Niemand weiß, woran das lag; die Wissenschaftler haben auch hierzu ihre Theorien, aber keine klingt in meinen Ohren plausibel. Ich weiß nur, dass der Fernseher plötzlich nur leere Kirchen zeigte.
Irgendwann am Morgen des 1. Novembers hörte ich ein lautes Geräusch; ich saß auf der Terrasse, niemand von uns hatte schlafen können. Es war ein Geräusch wie das eines Autos, das scharf bremste, nur viel durchdringender und lauter. Ich erinnere mich, wie ich nach Norden sah; es war noch dunkel, aber ich konnte das silberne Glänzen des Lochs erkennen. Mitteleuropa war verschwunden.

Fortsetzung folgt.

Gute Seelen

Diesen Artikel drucken 20. Juli 2008

Wenn da niemand wäre, der ab und zu zwischen den Betten hin- und hergehen würde, um einen gefälschten Brief unter eine der löchrigen Decken zu stecken oder mit schmutzigem Wasser überhitzte, fleckige Gesichter abzuwaschen, wenn es niemandem mehr gäbe, der sich wenigstens manchmal den fiebrigen Erzählen der vielen Verlorenen erbarmen würde, wenn kein menschliches Wesen noch diejenigen beruhigen würde, die aus ihren wirren, aber schönen Träumen in dieser düsteren Halle mit ihren staubigen Stahlstreben voller Risse erwachten – ja, dann wäre wirklich alles verloren.

Der Kampf nahm vieles, doch es blieben immer noch wenigstens ein paar wenige dieser guten, dieser treuen Seelen, die zumindest ein wenig Trost spenden konnten.

Natürlich gibt es auch die Ärzte, recht viele sogar; in ihren weißen Kitteln huschen sie durch die Lazarette, Geistern gleich. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung kaum beendet, als der Krieg kam, und so kennen sie ihren Beruf nur mit dem Antlitz, den er im Krieg hat – dem einer anderen Art des Krieges, eines aussichtslosen Vernichtungsfeldzugs gegen den Tod und die Kampfunfähigkeit.

Doch was nützen schon Ärzte; Beine können sie abschneiden, Splitter entfernen, aber was ist das schon. Sie sind nur Soldaten, auch wenn sie keine Gewehre tragen. Welchen Trost kann ein Soldat schon spenden? Hier, am Ende aller hehren Ziele und Siegesversprechen? Und: Was ist eine gut genähte Wunde schon ohne Trost, wenn es schon so weit gekommen ist mit der Welt? Nichts, und so braucht es immer noch ein paar gute Menschen, um wirklich zu heilen.
An manchen Orten, in manchen Spitälern gibt es keine mehr; sie sind getötet worden oder an Erschöpfung, am Kummer und am Dreck gestorben. An solchen Plätzen hilft die beste Kunst der Ärzte nichts mehr. Sie behandeln die Verletzten – vorrangig natürlich die Soldaten – sie operieren und amputieren, sie schneiden und schienen, aber die Menschen sterben trotzdem; vielleicht wollen sie es auch nicht anders, die Ärzte wie die Patienten; alles, alles mag geschehen, nur soll dieser verdammte Krieg endlich verloren gehen, der eine wie der andere. Ohne Hoffnung gibt es keine Chance auf Gesundheit.

Trost gibt es nur noch in wenigen Lazaretten und Spitälern; Verwundete schreien und zettern deshalb manchmal, wenn man sie in eins der Lager bringen will, in dem nur noch Ärzte arbeiten. Und so bringt man alle Verletzten im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern in diese alte Turnhalle, deren nackte Stahlstreben ganz rissig sind von den vielen Einschlägen in der Nähe. Dort arbeitet nur noch eine etwas ältere Frau, von den Ärzten abgesehen. Früher waren sie zu fünft, aber das war, als man dieses Lager eingerichtet hatte, vor vielen Monaten. Ihr Gesicht ist müde, und ein steifes Lächeln hat sich in die Mundwinkel gebrannt; zweimal wäre sie selbst fast Opfer einer der vielen Infektionskrankheiten geworden, die in den Lagern grassieren. Für sie gibt ebenso wie für ihre Kollegen in anderen Lagern keine Berufsbezeichnung; die Ärzte rufen sie meist immer noch Schwester oder Pfleger, aber kaum einer von ihnen hat eine entsprechende Ausbildung. Einen allgemeinen Oberbegriff gibt es nicht; nur die Alten sprechen manchmal von den Seelen, aber so redet auf der Straße niemand. Die Patienten und auch all die anderen nennen die Frau mit dem steifen Lächeln einfach bei ihrem Namen,
Auch sie hat den Beruf der Krankenschwester nie gelernt; sie war Lehrerin. Manchmal erzählt sie einem Patienten von ihren früheren Schülern. Die meisten von ihnen sind gefallen, und so tut sie es nur, wenn sie darum gebeten wird; sie weiß, dass es den Menschen gut tut, von früher zu hören. Doch meist redet sie nicht über ihre Schüler, sondern über etwas Unverfängliches aus der Vergangenheit. Sie hört auch zu, sie wäscht Wunden, kühlt Gesichter, sie tut, was getan werden muss, ohne Sold zu verlangen.

Sie ist, wie ihre Kollegen in anderen Lagern, nur ein Mensch; manchmal hat auch sie soviel Angst und Wut und Trauer im Bauch, dass sie nicht arbeiten kann. Sie trinkt, aber sie ist nicht die einzige, die abhängig ist; die meisten ‚Schwestern‘ sind es auf die eine oder andere Weise geworden, auch wenn sie schon vor dem Krieg abhängig war. Ein Mann etwa, dessen Lager sich stetig mit der Front bewegt, muss von Zeit zu Zeit einen der Leichtverletzten mit einer infizierten Nadel anstecken – nicht um ihn sterben, sondern um ihn durch seine Pflege genesen zu sehen.
Solch absonderliche Obsessionen hat sie nicht, sie trinkt nur. Andere Personen verstehen manchmal nicht, dass auch sie wirklich ein Mensch und nicht nur ein gänzlich selbstloser Engel ist. Der Dienst und der Alkohol zehren sie langsam auf, das stimmt. Sie weiß das und lässt es zu; aber das muss nicht bedeuten, dass sie ihr Leben gern wegwerfen könnte oder wollte; das sehen die anderen nicht immer. Einmal etwa schlug eine Granate in das Dach der Halle; das Gebäude schüttelte sich und schien zusammenbrechen zu wollen. In Panik rannte sie hinaus und ließ die Patienten, die nicht laufen oder gehen konnten, zurück. Dorthin hatten sich schon die Ärzte gerettet; sie jedoch, die immer so hilfsbereit und selbstlos tat, was sie konnte, starrte man mit einer Mischung aus Unverständnis und Überraschung an, als ob man nicht begreifen konnte, dass diese Frau um ihr Leben lief, statt sich um ihre Patienten zu kümmern und im Zweifel mit ihnen zu sterben.

Es dauerte Monate bis der Stabsarzt, der das Lazarett leitet, wieder mit ihr sprach, aber er hegt ohnehin einen Groll gegen sie, zumindest manchmal; sie soll einer verbotenen Partei angehört haben, vor dem Krieg.
Natürlich ist das falsch. Sie war Zeit ihres Lebens ein eher unpolitischer Mensch, zumindest war sie nie in einer Partei. Wahr ist, dass sie vor dem Krieg, schon Jahre davor, auf Demonstrationen gewesen ist. Wahr ist auch, dass man sie wegen ihrer Ansicht über den Großen Konflikt unzählige Male angepöbelt, bespuckt und drangsaliert hat, so lange, bis der Krieg nach der Schlacht bei Krakau kippte und sie mit dem Dienst in den Lazaretten begann. Einmal pflegte sie einen Verletzten, den sie als einen der Polizisten erkannte, der sie am Rande einer Versammlung verprügelte; er erkannte sie nicht, und sie sagte nichts davon, pflegte ihn nur.
Falsch ist dagegen auch, was die Ärzte sich über den Grund ihrer Tätigkeit erzählen; weder ist sie Witwe, noch sind ihre Kinder aufgrund der schlechten Versorgung an der Front gestorben. Sie hatte nie Kinder und war nie verheiratet. Man könnte sie einfach fragen, warum sie tut, was sie tut; warum sie nicht davonläuft, so weit sie kann, wie es all die anderen tun. Aber es fragt sie niemand, zumindest keiner der Gesunden; Man hält sich lieber an die Gerüchte und ansonsten fern. Seit dem Einschlag auf dem Dach erzählt man sich, sie sei eine Politische und werde vom Abwehrdienst beobachtet.
Aber vielleicht würde es auch nichts nützen, sie nach ihren Beweggründen zu fragen. Es gibt keine speziellen, auch keine politischen. Es sind die gleichen, die sie schon seit Jahren umtreiben, die sie zuerst auf die Demonstrationen und schließlich in dieses Lazarett geführt haben.

Natürlich kennt auch sie die Gerüchte; über die meisten der stillen Helfer gibt es ähnliche, von der angeblichen Lebensmüdigkeit bis hin zu den politischen Verstrickungen. Viele von ihnen waren auf den Demonstrationen, fast alle gegen den Krieg. Mehr Frauen als Männer sind darunter, aber das mag dem langen Krieg geschuldet sein. Sie wissen, das diejenigen, die sie heilen, wieder kämpfen, wieder töten oder getötet werden; es ist ihnen gleich.
Die meisten von ihnen haben schon Probleme mit dem Abwehrdienst gehabt, und auch wenn dieser inzwischen zusammengebrochen ist, sprechen sie über ihre Ansicht nur selten, schon gar nicht öffentlich. Das wäre auch unnütz; für Lösungen ist es zu spät, das ist auch ihnen klar. Es gibt in jedem Konflikt den Punkt, ab dem der einzige Ausweg in der Vernichtung des anderen besteht, selbst um den Preis der eigenen Auslöschung, und dieser Punkt war schon lange vor den Bomben auf Paris und Hamburg überschritten worden.

Und so spricht auch sie nur über Politik, wenn sie jemand darum bittet; solche Gespräche beginnen meist mit der Frage, warum es so kommen musste und ob nicht alles anders sein könnte. Meist sind es Sterbende, die solche Fragen stellen.
Dann erzählt sie, was damals schon auf den Demonstrationen gesagt wurde, was sie schon lange vor dem Krieg gedacht hat, und die Augen der Geschundenen hängen an ihren Lippen. Wenn sie darüber spricht, kann man in ihrem Gesicht manchmal den Menschen entdecken, der sie einmal war. Es ist nicht die müde, alte Frau mit den den eingebrannten Falten, die vom Frieden erzählt, sondern der kleine Rest einer viel jüngeren. Vielleicht ist dieser Rest das einzige, was sie noch zum Spenden von flüchtiger, oft falscher und gefälschter Hoffnung befähigt; vielleicht, aber darüber denkt kaum jemand nach, dafür sind die Verwundeten zu gierig auf jeden Tropfen Hoffnung, auf jedes Quäntchen Leben. Aber zumindest hören sie genau zu.
Ganz ähnlich wie auch die ständig angetrunkene Helferin im Lazarett unter dem Dach der abbruchreifen Halle müssen viele der guten Seelen das als bittere, als zynische Genugtuung empfinden, dass man ihnen jetzt, da alles zu spät ist, zuhört. Als sie zum ersten Mal ihre Stimme erhoben, hat man sie zunächst ignoriert und dann belächelt. Als sie erste Demonstrationen veranstalteten, hat man sie als Träumer, als unverbesserliche Idealisten abgetan. Auch als die ersten Versammlungen mit Knüppeln aufgelöst wurden, hat man ihnen nicht zugehört und sie stattdessen angepöbelt, beleidigt, später geschlagen. Als man so begierig darauf wurde, die Brüder und Kinder von Bombenlegern zu ermorden, dass man begann, die eigenen dafür in den Tod zu schicken, hat man zehn von ihnen in einer großen Stadt an einem Pfahl aufgehängt, weil man sie als Verräter sah. Jetzt, wo es doch zu spät ist, hängen wenigstens die Augen der Sterbenden an ihren Lippen; Die Welt musste erst schwarz und leer werden, bevor man ihren Worten Gehör schenkte.

Blacksuit

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2008

Er hatte die im alten Design gehaltene Kreditkarte schon zweimal in den Kartenleser des Kassenautomaten geschoben, doch der Fehler in dieser Szene fiel ihm erst auf, als die ebenfalls absichtlich altmodische gehaltene Maschine auch beim dritten Versuch jede Zahlung verweigerte. Es war weder nötig noch sinnvoll, die alten Maschinendesigns und die längst nutzlosen Plastikkarten zu verwenden, die Zahlautomaten waren davon schon lange nicht mehr abhängig, aber aus Gründen der Ästhetik hatte man sie beibehalten; dennoch stand im Display des Automaten natürlich nichts von einer abgelaufenen oder überzogenen Kreditkarte, sondern nur
IDENT-PIN ungültig.
Und so blieben auch die Türen des Supermarktes verschlossen, solange er den Korb mit den Einkäufen im Arm hatte. Manchmal hatten Geräte dieser Bauart Fehlfunktionen, so dass man ein zweites Mal den Schlüssel übertragen musste. Doch noch nie hatte er es erlebt, das das System dreimal versagte. Er erwartete daher, dass es eine Art von Rückmeldung an die Zentrale oder einen Wachdienst geben würde und blieb verwirrt im Ausgangsbereich stehen. Sein Blick wanderte unschlüssig über die Maschine, den Boden und fand schließlich in den elektronischen Spiegel an der Wand hinter der Kasse. Einen Moment dauerte es noch, bis er das Ungeheuerliche in der digitalen Reflexion erkannte, doch dann fiel ihm der Fehler auf und er erschrak.
Das im Spiegel – das war nicht er selbst. Er korrigierte sich; natürlich war er es selbst. Seine echte Identität war verborgen unter der Blacksuit, die sein Aussehen, seine Stimme und seine Kleidung von Kopf bis Fuß frei konfigurierbar machte, aber das dort im Spiegel – das war auch keine seiner künstlichen Identitäten. Wie die meisten Menschen hatte er etwa ein halbes Dutzend davon, verschiedene für die jeweiligen Anlässe; dazu selbstverständlich auch zehn bis zwanzig verschiedene Kleidungssets, schließlich wollte er ja nicht immer die gleiche virtuelle Kleidung tragen. Was er jedoch dort im Spiegel sah, das war keine seiner digitalen Identitäten. Täuschte er sich? Er ging einen Schritt auf den Spiegel zu und sah genau hin. Nein, dieses Gesicht hatte er sich sicher nicht ausgesucht. Er hatte den JohnD_12AX-Skin übergeworfen, als er sich auf den Weg gemacht hatte; den mit dem schwarzen Sakko, oder mit dem weißen, das wusste er nicht mehr genau. Auf jeden Fall hatte er sicher nicht diesen Skin gewählt; er hatte jetzt das Gesicht eines Matrosen oder Kriminellen, mit tiefen, harten Konturen und einigen kaum verborgenen Narben. Die Kleidung war abgewetzt und größtenteils aus Lederimitat; solche Skins wurden allenfalls zum Spaß getragen, aber sicher nicht beim Einkaufen. Vielleicht war beim Einschalten des Skins etwas schief gelaufen. Er überprüfte die Anzeigen, die der Anzug in sein Auge projizierte; es gab keine Fehlermeldungen. Mit einigen durch die Jacke verborgenen Bewegungen seiner Finger startete er das Diagnosemodul.
Ungültige IDENT-PIN. Diagnose abgebrochen
flüsterte eine leise Stimme aus der Blacksuit.
Er wechselte zur Skinauswahl, und zu seinem Erstaunen fand er in der Liste keinen Oberflächenskin, der ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. DESC_4r hieß der, den er gerade auftrug. Er wählte einen der anderen aus und bestätigte die Umstellung, um das System zu testen.
Ungültige IDENT-PIN. Skinwechsel abgebrochen.
Wieder die leise Frauenstimme, der alte Kassenautomat grinste ihn mißmutig an.
Er hatte den falschen Anzug an, das war die Erklärung, anders konnte es nicht sein. Aber wie konnte das sein? Er suchte nach dem Statusbericht des Anzugs, dort war der echte Besitzer für gewöhnlich eingetragen. Eigentlich sollte man den Vollanzug nicht einmal schließen können, wenn man nicht der Besitzer war, aber auch solche Fehler konnten sicher geschehen, auch wenn er davon noch nie gehört hatte.
Eigentümer: n/a – Bitte natürliche Identität angeben.
Ein leerer Anzug, vielleicht war einfach der Speicher gelöscht worden.
Er wählte die Zeile, gab seine IDENT-Nummer ein und bestätigte. Ein Symbol am oberen Rand zeigte an, dass die Eingabe gepüft wurde.
Identität nicht gefunden. Bitte achten Sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Er überprüfte seine Eingabe zweimal; es konnte nicht sein, es musste die richtige Nummer sein; A12Doring. Er gab sie erneut ein und bestätigte.
Identität nicht gefunden. Bitte wenden Sie sich an den zuständigen Systemadministrator.
Er begann sich vor dem Anzug zu gruseln. Er sah sich um; er war der einzige Kunde. Dann griff er nach der Verriegelung des Kopfendes. Wenn der Anzug eingeschaltet war, konnte man sie nur fühlen und nicht sehen. Eine Weile tastete er über die künstlichen Haaren, die künstliche Stirn, die künstlichen Ohren.
Er fand ihn nicht, er war nicht da; hektisch zog er am Haaransatz, wo die unsichtbare Kapuze des Anzugs mit dem Rest der Suit verbunden war, riß daran, bis die ganz Stirn schmerzte . Es half nichts.
Ausstieg verweigert, ungültige IDENT-PIN. Bitte geben Sie ihre natürliche Identität an.
Die Angst in ihm wuchs. Warum ließ es ihn nicht hinaus? War war mit seiner Identität geschehen? Er gab sie noch einmal ein, diesmal geschah etwas.
Ihre Identität ist nicht existent. Es wird eine Verbindung zur Hotline hergestellt.
Er sah, wie der Anzug den Code wählte.
>>Blacksuit Support, Guten Tag, bitte schildern sie das Problem.<< sagte eine blecherne Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, er war sich nicht ganz sicher, ob er mit einer Frau oder einem Computer sprach. Er erklärte seine Lage, das Wesen am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken (oder zu rechnen).
>>Es tut mir leid, aber ich kann sie tatsächlich nicht in der Datenbank finden…<<, sie stockte, >>da scheint es doch einige… Anomalien in ihrem System zu geben. Von hier aus kann ich das Problem nicht lösen, sie sollten auf dem schnellsten Weg die nächste Filiale aufsuchen.<<
Er sah, wie der Routenplaner aufgerufen wurde, sie hatte die Adresse schon eingegeben.
>>Ich hoffe, Blacksuit Kreditkarten konnte ihnen helfen und bedanke mich für das Gespräch, Herr Doring.<<
Er stutzte.
>>Wie haben sie mich gerade genannt?<<
>>Doe. Oh, das ist die Firmenpolitik; solange ihre natürliche Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, werden sie von uns unter dem Namen John Doe geführt. Fassen sie das bitte nicht als Herabwürdigung auf.<<
Sie trennte die Verbindung. Der blinkende Pfeil vor seinen Augen wies den Weg zur nächsten Filiale. Alles würde in Ordnung kommen, wenn er dort war; er beruhigte sich wieder etwas. Er stellte den Einkaufskorb ab, die Tür öffnete sich. Auf der Straße angekommen folgte er den Pfeilen.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, aber diejenigen, die er sah, wechselten die Straßenseite, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er erkannte einen Nachbarn, oder zumindest glaubte er, dass sich unter der Oberfläche einer seiner Nachbarn verbarg. Der Zweifel begann an ihm zu nagen; was, wenn sie seine Daten wirklich verloren hatten? Wenn sie ihm nicht glauben würden? Das war so gut wie unmöglich, das wusste er. Wenn sie den Anzug entfernen würden, könnten sie sicher feststellen, wer er war. Aber dennoch; er hatte Angst. Was, wenn nicht? Wenn er unter dieser grässlichen Oberfläche gefangen bleiben würde? Seine Knie fühlten sich seltsam weich an.
Plötzlich wollte er nicht mehr allein dorthin gehen; seine Wohnung lag beinahe auf dem Weg, und so beschloss er, den Umweg in Kauf zu nehmen. Im Routingmodul fand er den Weg dorthin nicht – natürlich nicht, der Speicher war ja gelöscht worden. Also musste er sich mit einiger Mühe selbst orientieren.
Nach einer Weile bog er entgegen der Pfeilrichtung in eine Querstraße ab, die ihm bekannt vorkam; Alle drei Sekunden wies ihn die Stimme des Anzugs darauf hin, dass er umdrehen solle, er konnte es nicht abstellen.
Zu seiner Überraschung fand er das Haus sofort. Im Flur stank es nach Urin, das war ihm auf dem Weg nach draußen nicht aufgefallen. Vermutlich war auch das eine Fehlfunktion des Anzugs. Seine Hände zitterten leicht, als er auf den Summer drückte; das Schloss ließ ihn auch hier nicht passieren. Für einen Moment hörte er kein Geräusch aus der Wohnung, und er dachte darüber nach, ob er vielleicht an der falschen Tür geklingelt hatte. Dann jedoch hörte er Schritte. Die Tür öffnete sich, und seine Frau stand dahinter, in dem Skin, den sie zu Hause immer trug. Er war ihrer natürlichen Identität nicht unähnlich, nur waren die Konturen ihres künstlichen Gesichts etwas weicher, und ihre Augen hatten eine andere Farbe.
Er lächelte, bis er bemerkte, dass es nicht sein Lächeln war, sondern ein fremdes. Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich weiß, ich sehe seltsam aus, aber es gibt da einige Probleme mit dem Anzug. Ich muss zur Reparatur in die nächste Filiale, aber ich möchte nicht allein gehen…“. Seine Frau legte den Kopf schief.
„Wer sind sie denn?“ fragte sie, er hörte die Angst dahinter auch durch die künstliche Stimme hindurch, und ihm wurde etwas schwindelig.
„Ich bin es, dein Mann.“
„Wer? Ich habe keinen Mann.“ antwortete und zog die Tür ein wenig weiter zu.
„Liebling, ich bin es. Erkennst du mich nicht?“
„Ich hatte nie einen Mann“ sagte sie tonlos und mehr zu sich selbst, dann schlug sie die Tür zu.

„Ich hatte nie einen Mann“, sagte sie tonlos und er sah sich wieder im digitalen Spiegel des Supermarktes. Sein Kopf war ein Bildschirm und der Körper darunter steckte immer noch in dem grässlichen, falschen Skin. Der Kassenautomat hatte nun Augen und bediente sich selbst mit dünnen, metallischen Ärmchen, die aus der Verkleidung ragten.
A12Doring tippten sie auf der veralteten Tastatur, er sah die Zeichen in der Spiegelung des Bildschirms auf seinen Schultern. Die Zahlen verschwanden wieder, Identität nicht existent, bitten achten sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Seine Frau stand vor der verriegelten Ausgangstür und lächelte ihn und den Automaten seltsam an, ihr Mund öffnete sich,

Er erwachte auf der Türschwelle und sah die Köpfe zweier Männer mit identischen Gesichtern über sich, identische Skins bis auf die Kleidung. Der mit dem schwarzen Sakko sah ihn durchdringend an,
„Wir sind von der Wache.“ sagten die beiden fast zeitgleich mit ähnlichen Stimmen.
Der im schwarzen Sakko beugte sich zu ihm herunter;
„Wir nehmen sie fest aufgrund des Verdachts der Nicht-Identität“, er überlegte einen Moment, „sie sind nicht sie selbst.“, fügte er erklärend hinzu, im Hintergrund hörte er seine Frau leise mit dem anderen Agenten sprechen.

Sie lächelte fast hämisch, ihr Mund öffnete sich.
„Ich weiß ein Geheimnis…“ sagte sie, dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.
Der Kassenautomat gab weiter stakkatohaft Zeichen ein, immer wieder. Auf dem Monitor, der einmal sein Kopf gewesen war, blinkte im selben Rhythmus
Doring nicht existent.
Für einen Moment erkannte er in den verzweifelten, aufgeklebten Augen der Maschine seinen eigenen blauen Augen, aber dann wurden sie grün, braun, rot, schließlich farblos.
Die Schultern der Frau wurden breiter, ihre Brust schmaler, ihr gelbes Kleid wurde kürzer und immer heller, alles zugleich, und nach einem Augenblick hatte sie den Skin der Agenten übergeworfen.
„Ich weiß ein Geheimnis“, flüsterte sie, „es gibt keine Blacksuit.“

„Seine Persönlichkeit destabilisiert sich, wir müssen die Suit jetzt entfernen.“ Er blickte an die Decke, dort war der Name Blacksuit Corp. eingraviert, in einem sich wiederholenden Muster. OP-Licht blendete ihn. Ein Mann stand neben ihm und hielt ein Skalpell in den Händen. Er sah auch die beiden Agenten mit den gleichen Gesichtern, der eine im schwarzen Sakko, der andere im weißen, der eine blickte ihn ernst an, der andere lächelte.
„Wir nehmen sie fest wegen des Verdachts der Nichtidentität. Sie sind nicht sie selbst.“ sagte der eine. Seine Arme und Beine waren an den medizinischen Stuhl gefesselt, auf dem er lag, er sträubte sich gegen die Ketten, als der Arzt noch einen Schritt auf ihn zu ging.

Sie lächelte ihn und den verzweifelnden Automaten hämisch an, „Es gibt keine Blacksuit.“

sagte der Agent im weißen Sakko, sein Kollege schien ihn nicht zu hören.
„Wir müssen jetzt anfangen.“, der Arzt setzte das Messer auf seine Brust, er tobte und schüttelte sich, riss mit aller Kraft an den Fesseln.
„Sie sind nicht sie selbst.“ sagte das schwarze Sakko,
der andere Agent lächelte still,
„Es gibt keine Blacksuit.“ flüsterte er noch einmal.
„Sein Anzug destabilisiert sich, wir müssen die Persönlichkeit jetzt herausschneiden.“ kreischte der Arzt, er hörte seine eigene fremde Stimme schreien, aber seine Schreie klangen wie das Wählgeräusch eines alten Modems,
„Sie sind schuldig des Vergehens der Nicht-Identität“, der Agent überlegte oder rechnete einen Moment,
„Sie sind nicht sie selbst.“
Es gibt keine Blacksuit.
Er brüllte vor Schmerz –

Sie sind nicht sie selbst.
Es gibt keine Blacksuit.

Es g7bt keiAe Black4uit.
Sie siBd nicFt sie sel5st.

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Runlevel 0. System halted.

Erwache, Nichts.

Nullpunkt

Diesen Artikel drucken 14. November 2007

Der Begriff des absoluten Nullpunkts entstammt ursprünglich der Physik, genauer der Thermodynamik.
Ganz entgegen dem intuitiven Begriff von Temperatur, der sich vor allem an der Empfindung relativer Kälter beziehungsweise Wärme orientiert, konstatiert die Thermodynamik in einer grundlegenden Definition, dass die Messgröße Temperatur ein Maß für die durchschnittliche Bewegungsenergie der mikroskopischen Teilchen ist, aus denen Materie besteht.
Diese mikroskopischen Teilchen, seien es nun Atome, Moleküle oder Ionen, bewegen sich ungeordnet und statistisch, so folgt aus der Empirie. Durchlaufen sie den Raum weitgehend unbeeinflusst voneinander, etwa in einem Gas, so stoßen sie in gewissen, nur statistisch verteilten Zeitintervallen (die von der Temperatur abhängen) miteinander und sorgen so dafür, dass die Energie im Mittel gleich verteilt ist.
Im gebundenen Zustand dagegen wechselwirken die Teilchen vor allem über Gitterschwingungen miteinander; hier ist die Temperatur ein Maß für die Stärke dieser Schwingungen.
Aus dieser Definition der Temperatur folgt schon recht offensichtlich die Existenz eines absoluten Nullpunkts. Dies ist genau der Punkt, an dem sich die Teilchen nicht mehr bewegen, keine Gitterschwingungen mehr ausführen und auch auf andere Weise keine Energie mehr austauschen.
Über das Verhalten von Materie bei dieser Temperatur ist, wie zu erwarten, nur zu spekulieren. In der Vorstellung eines idealen Gases wird der vom Gas eingenommene Raum bei dieser Temperatur, die man zu 0° Kelvin oder -273,16° Celsius berechnet, gerade Null; Materie eines ideelen Gases besitzt bei dieser Temperatur keine Ausdehnung mehr.
Mit Hilfe der elementaren Sätze der Wärmelehre lässt sich leicht zeigen, dass dieser absolute Nullpunkt niemals erreicht werden kann; formuliert wird dies im Dritten Hauptsatz der Thermodynamik. Aus diesem Grunde sind Aussagen über das Verhalten von Materie am Nullpunkt reine Spekulation.
Wie eingangs schon erwähnt, handelt es sich bei dem Begriff des Absoluten Nullpunkts um einen physikalischen, thermodynamischen, rein theoretischen Begriff, einen Begriff also, der mit der heutigen, allgemein geläufigen Bedeutung kaum noch zu tun hat:

In seiner medizinischen Bedeutung wurde der Terminus 2046 in einem Werbespot der Firma DESIREFREE eingeführt.

Der Spot war Teil einer Kampagne für ein damals neuartiges medizinisches Verfahren; der sich wiederholende Lauftext im Werbefilm, später zum Slogan von DesireFree erhoben, lautete: „Wir bringen sie an den Nullpunkt. Den absoluten Nullpunkt!“
Die Kampagne wurde von der Fachwelt zunächst kaum beachtet, da sie aus offensichtlichen Gründen sehr vage und mysteriös formuliert worden war. Als jedoch Details in der Öffentlichkeit bekannt wurden, löste dies eine lang anhaltende Debatte aus, an der sich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligten.
Bei der Nullpunkt-Technologie, so die offizielle Patentbezeichnung, handelt es sich um ein komplexe, neurophysiologisches Verfahren zur permanenten Verhaltensmodifikation.
Die genauen medizinischen Details können hier eben so wenig erläutert werden wie die mathematischen und technischen Hintergründe der Thermodynamik. Zudem ist die gesamte Spezifikation des Verfahrens rechtlich geschützt.
Es lässt sich jedoch sagen, dass es sich bei dem Verfahren um eine Kombination aus neurales Reprogrammierung und der gezielten Elimination minimalster Teile des Hirngewebes mit Hilfe von flüssigem Helium handelt.
Ohne die entsprechende fachliche Terminologie ist das Ziel und die Wirkung des Verfahrens schwer zu beschreiben. Daher greifen wir an dieser Stelle der Darstellung auf eine Analogie zurück, die DesireFree in einem ihrer ersten Werbefilme verwendete.
Ein Mensch, so der Spot, ähnelt vor der Therapie einem flachen See im Wind. In seiner Oberfläche spiegelt sich der Himmel; auch Wolken, die Sonne. Emotionale Impulse, im Spot durch wechselhafte Winde dargestellt, lassen das Wasser unruhig werden. Es bilden sich zunächst kleine Verwerfungen, schließen größere Turbulenzen und Wellen. In der Metapher könnte man sagen, der Wind habe eine kaum zu überschätzende Wirkung auf die Seeoberfläche. Ist er nur stark genug, so kann er das Wasser sogar aus seinem Bett heben.
Demgegenüber stellt DesireFree einen Menschen nach der Nullpunkt-Behandlung – nun ist der metaphorische See rundherum von hohen Bergen umgeben. Diese Berge sorgen dafür, dass der Sturm das Wasser kaum aufwühlen kann; versinnbildlicht wird dies durch die klare, ungestörte Reflexion der rapide ziehenden Wolken.
Das Verfahren wurde anfangs entwickelt, um Traumaopfer zu behandeln; letztlich führte es zu einem Produkt, dass nahezu alle emotionalen Störzustände, die Menschen durchlaufen können, eliminiert, in dem es die meist unerwünschten Langzeiteffekte vollständig ausschaltet. Laienhaft ausgedrückt könnte mal also sagen, die Nullpunkt-Technologie dämpfe die Intensität emotionaler Verwerfungen; klarer ist es allerdings, wenn man davon spricht, dass sie das emotionale Gedächtnis hemme, ja sogar ausschalte.
Historisch gesehen musste DesireFree diese Wirkungsweise schnell nach Bekanntwerden der neuen Entwicklung vor Gericht belegen. Mehrere Staaten nahmen Verfahren auf, um das Verfahren zu prüfen. Fraglich war, ob nicht schon die Intention und sicher auch die Wirkung des Verfahrens der Menschenwürde zuwider liefen; sie nehme den Menschen ihre Emotionen, behaupteten die Ankläger, und diese seien als integraler Bestandteil des Mensch-Seins zu schützen.
DesireFree konnte letztlich in weitreichenden, langwierigen psychologischen Test belegen, das ihr Verfahren keineswegs die Fähigkeit zerstörte, emotionale Zustände zu durchlaufen oder zu empfinden. In der Tat kamen alle diesbezüglichen Verfahren zu dem Urteil, dass Probanden des Nullpunkt-Verfahrens all die Emotionen durchleben konnten, die sie auch vorher schon besaßen; Angst, Freude, Wut, Liebe, Hass, Trauer in vielerlei Abstufungen.
Hemmend wirkte Nullpunkt-Therapie nur auf die Langzeit-Effekte, die mit emotionalem Erleben in der Regel verbunden sind. Gleichfalls konnte das Unternehmen aufzeigen, welch positive Auswirkung die Behandlung hat; die Wahrscheinlichkeit, Depressionen, Zwangsstörungen oder Stresssyndromen zu erleiden, sowie der Zahl der Fälle von Selbstmorden, Gewaltverbrechen und Unfällen in Folge menschlichen Versagens waren bei den Probanden signifikant geringer als bei der restlichen Bevölkerung. Die Gründe dafür liegen auf der Hand; In eigenen Studien konnte DesireFree nachweisen, dass die mittlere Verweildauer von Behandelten in einem emotionalen Zustand (ohne weitere äußere Reize) nicht mehr als 29,6 Sekunden beträgt. Das bedeutet; das Empfinden von Gefühlen beschränkt sich ohne äußeren Einfluss auf kurze Augenblicke. Auch das wurde von Teilen der Gesellschaft thematisiert und als menschenunwürdig bezeichnet; letztlich konnten sich diese Gruppen nicht durchsetzen, weil die Mehrheit der Bevölkerung die Vorteile der Behandlung längst erkannt hatte.
Trotz der juristischen Erfolge wechselte DesireFree ihre Kampagne und ihr Logo noch während der Verfahren vollständig aus. Nach eigener Darstellung geschah dies, weil der Terminus des ‚Nullpunktes‘ und insbesondere auch die Spots nicht deutlich genug machten, was die Technologie leisten konnte und was nicht. Insbesondere die physikalischen Wurzen des Begriffs hätten, so eine Pressemitteilung, Kunden abgeschreckt.
In der Bevölkerung hatte sich der Terminus jedoch schon durchgesetzt, ebenso der Begriff ‚Nullpunkt-Mensch‘ (manchmal auch: ‚0.Mensch‘) für diejenigen, die sich bereits der Behandlung unterzogen hatten. Daher griff das Unternehmen den Slogan zwei Jahre später wieder auf.
Im Jahre 2078, also heute, sind etwa 76% aller Menschen in allen Industrieländern mit der Nullpunkt-Technik behandelt worden; für andere Länder lässt sich dies schwer angeben, weil es eine hohe Anzahl von illegalen Operationen gibt. Die Gründe für den rasanten Absatz des Verfahrens sind vielfältig, aber größtenteils pragmatischer Natur. Wie Studien rasch belegten, gibt es weder versteckte Nebenwirkungen noch echte Nachteile der Technologie. In den Anfangsjahren gab es zwar einige Fälle, in denen die Elimination der beteiligten Hirnbereiche nicht vollständig durchgeführt wurde. Patienten klagten nach der Therapie über einseitige emotionale Schübe, die bis hin zu schweren Zwangsstörungen reichten. In einem besonders tragischen Fall wurde einige Parameter, die für Jähzorn und Agression zuständig sind, nicht richtig eingestellt; ein 56jähriger geriet danach in einen psychotischen Zustand und tötete drei Menschen. Das Nullpunkt-Verfahren wurde danach beinahe verboten. Heute jedoch handelt es sich um eine Standardbehandlung, die absolut sicher in der Handhabung und nur minimal invasiv ist.
Die gesamtgesellschaftlichen Erfolge des Verfahrens sind heute offensichtlicher denn je. Die Verbrechensrate ist stark gesunken, ebenso die Zahl psychischer Erkrankungen. Der Zufriedenheitsindex ist seit 2046 um vierzehn Punkte gestiegen. Die Zahl der Unfälle in Folge menschlichen Versagens ist beinahe bei Null – auch deshalb, weil Nullpunkt-Behandelte am Steuer nahezu aller öffentlichen Verkehrsmittel sitzen.
Und das Wachstum geht weiter – für das Jahr 2100 rechnet DesireFree mit einer beinahe hundertprozentigen Versorgung des westeuropäischen/nordamerikanischen Marktes.

Auszug; Website von DESIREFREE Global, Rubrik: Historisches – ein kritischer Blick von unabhängigen Geschichtswissenschaftlern.