Die endlose Linie
10. April 2010Der alte Mann weinte allein, weinte stets allein.
„Das kann doch niemand verstehen, der es nicht selbst erlebt hat.“ so hatte er das Gespräch beendet, wieder einmal beendet.
So war er den Fragen entronnen, doch jetzt war er allein mit einem, der es erlebt hatte und dennoch nicht verstand. Beide sahen sie die Linie in seinem Kopf, den ewigen, stahlgrauen Knoten, der sich von einem Gedanken zum nächsten wand und niemals aufgelöst werden konnte, den rostigen Draht, der ihn durch zwei Deutschlands geführt hatte und den er häufiger verfluchte als die falschen Versprechungen der Dämonen von damals.
Die Linie, auf der sie von Westen nach Osten gezogen waren in ihren Uniformen,
Die gedachte Verlängerung des Gewehrlaufs, der immer in die falsche Richtung gerichtet gewesen war,
Der Strich, zu dem die Lippen der Toten wurden,
Die Reihe, in der sie die Männer und Frauen aufgestellt hatten,
Der Strick, den sie um den Hals der Partisanen gelegt hatten,
Die Verteidigungslinien des Feindes, die zu Angriffslinien wurden,
Der ewige Weg zurück von Ost nach West, schmutzig, kalt und bitter,
Der geradlinige Aufstieg eines deutschen Beamten,
Die Geraden in der Bauzeichnung eines Einfamilienhauses,
Die aufregungslose Abfolge der Jahre,
Die kurvigen Linien im Gesicht eines Alten,
Das endlose Leugnen,
Das ewige Schweigen.
Zu Stecknadelköpfen waren seine Augen geschrumpft: Schwarze Punkte wie die Enden einer langen, langen Linie.