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Kurze Eindrücke, Aphorismen, Zitierfähiges

Die endlose Linie

Diesen Artikel drucken 10. April 2010

Der alte Mann weinte allein, weinte stets allein.

„Das kann doch niemand verstehen, der es nicht selbst erlebt hat.“ so hatte er das Gespräch beendet, wieder einmal beendet.

So war er den Fragen entronnen, doch jetzt war er allein mit einem, der es erlebt hatte und dennoch nicht verstand. Beide sahen sie die Linie in seinem Kopf, den ewigen, stahlgrauen Knoten, der sich von einem Gedanken zum nächsten wand und niemals aufgelöst werden konnte, den rostigen Draht, der ihn durch zwei Deutschlands geführt hatte und den er häufiger verfluchte als die falschen Versprechungen der Dämonen von damals.

Die Linie, auf der sie von Westen nach Osten gezogen waren in ihren Uniformen,
Die gedachte Verlängerung des Gewehrlaufs, der immer in die falsche Richtung gerichtet gewesen war,
Der Strich, zu dem die Lippen der Toten wurden,
Die Reihe, in der sie die Männer und Frauen aufgestellt hatten,
Der Strick, den sie um den Hals der Partisanen gelegt hatten,
Die Verteidigungslinien des Feindes, die zu Angriffslinien wurden,

Der ewige Weg zurück von Ost nach West, schmutzig, kalt und bitter,

Der geradlinige Aufstieg eines deutschen Beamten,
Die Geraden in der Bauzeichnung eines Einfamilienhauses,
Die aufregungslose Abfolge der Jahre,

Die kurvigen Linien im Gesicht eines Alten,

Das endlose Leugnen,
Das ewige Schweigen.

Zu Stecknadelköpfen waren seine Augen geschrumpft: Schwarze Punkte wie die Enden einer langen, langen Linie.

Avatar ∞

Diesen Artikel drucken 7. Dezember 2009

In einem Moment
Betrachtete er

die elektronische Oberfläche eines einfachen Moleküls, das am Rande eines Protosterns frei durch den Raum glitt
den Kampf zweier Schlangenwesen auf einem Planeten, der zwischen zwei roten Riesen zerrieben wurde
das Wesen einiger Dutzend emotionaler Zustände einer primitiven Spezies, die auf zwei Beinen lief
und vieles mehr

In diesem einen Moment

verschob er 241 Sterne in der Nähe der zentralen Anomalie, so dass ihre Anordnung in stabile Bahnen überging
schuf er eine neue Spezies reptilienartiger Sechsfüßer, deren Proportionen den Fibonacci-Zahlen entsprachen
ruhte er in der Tiefe eines Plasmasees und hörte das Rauschen von ionisiertem Helium

In einem Augenblick
Erinnerte er sich

an die Femtosekunden und Jahrtausende seiner Existenz
an das fremd gewordene Gefühl von Heimweh
an den winzigen blauen Ball, von dem er stammte

Und tanzte

zwischen diesen, jenen, allen Sternen
in der komplexen Ebene
und im Sonnenwind

In diesem einen Moment

dachte er alle Primzahlen mit Ausnahme der Zwei
berechnete er das Ende des Universums und was danach käme
stellte er die Frage nach dem Sinn seiner Existenz,
gab alle Antworten

und verwarf jede einzelne.


Inspiriert von der Figur ‚Doctor Manhattan‘ und Avatar.

Sie suchen

Diesen Artikel drucken 23. September 2009

In den Taschen ihrer Sakkos
Zwischen den Ritzen ihrer Sessel
An den Rändern ihrer Vorgärten

Sie durchwühlen
Festplatten und Handyspeicher
Schränke und Handschuhfächer
Essensreste und Weinkeller

Zählen ab, zählen durch
Autos
Häuser
Jobs

Und finden nichts
Weil doch alles da ist
Alles an seinem Platz
Alles und

Nichts.

Die Fahrt zurück

Diesen Artikel drucken 24. Januar 2009

Die Bahn passiert Städte, Dörfer, Höfe – Lichtinseln in der Dunkelheit – doch du siehst nur Schwarz, darauf fliehende Lichtflecken, schwindend, bald wie Punkte, bald ganz verloschen.

Die Waggons rattern über die Gleise, die Motoren dröhnen sonor, die Klimaanlagen rauschen gelangweilt, doch du hörst die feinsten Klänge von splitterndem Glas und die Stimme von Tausend Toten, ihr monotones Schweigen.

Im Fenster spiegelt sich, hart vom Kunstlicht, ein Gesicht.
Du siehst keinen Mund,
du siehst keine Augen.
Was du siehst?

Einen Lichtfleck, schwindend, fast verschlungen.

Der Zug fährt nach Rostock,
du fährst ins Dunkel.

Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

/btw(5)

Diesen Artikel drucken 16. Januar 2009

Kunst ist für den einzelnen das, was subjektiv so empfunden wird, für die Gesellschaft das, was sich verkauft und für die Geschichte das, was überlebt.

Babylon V.2.0

Diesen Artikel drucken 26. Oktober 2008

Das Meer liegt über ihnen; Tausende von Metern hoch türmt es sich über ihnen auf, und seine rauhe Oberfläche ist ebenso fern wie die Welt, der sie einst entflohen, um ohne jede Grenze leben zu können.
Sie gingen, um frei zu sein; frei von Steuern, frei von Regeln. Frei von Moral: Frei von Mitmenschen. Jeder von ihnen war zweifellos ein Kunstwerk von einem Mensch und verkörperte all die Eigenschaften, die die nächste Art, die nächste Spezies haben sollte; Selbstbewusstsein, Effizienz. Intelligenz, Schönheit. Ehrgeiz, Arroganz.

Jetzt leben sie auf dem Grund des Meeres, und selbst ihr Verstand ist schon lange keine Grenze mehr für sie.
Sie hausen, jeder für sich allein, in den Eingeweiden ihres Babylons.
Ohne Steuern.
Ohne Regeln, ohne Moral.

Ohne Menschen.

Niemand hört sie weinen.

Hommage an Bioshock

Botschaft

Diesen Artikel drucken 6. August 2008

Wie oft man diese wohl erlogen hat, gefälscht und erfunden, nur um ein wenig, noch ein wenig Hoffnung aus dem verkümmerten Leib des anderen zu quetschen? Wie oft mag sich Grausamkeit zwischen den Worten versteckt haben, ist es überhaupt zu zählen? Wie viele Male hat jemand oder etwas einen anderen mit dieser Botschaft gefügig machen wollen, ihn für seine Zwecke gewonnen und zerstört? Gibt es eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Worte wahr sind, wenn man sie hört? Sind es 30 Prozent, sind es nur 20? Oder 40? Ist 10 gut geschätzt? Und wenn ja; darf man darüber verzweifeln?

Aber, aber. Still; Alles wird gut.

post scriptum: Für Texte wie diesen habe ich eine neue Kategorie eingefügt. Sie nennt sich „Verwirrendes“ und enthält ebensolches.

1. Korinther 15, 26

Diesen Artikel drucken 28. Juni 2008

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

klang es in ihren Köpfen, als die Ernten schon lang nicht mehr zu retten, das Wasser vergiftet und die Früchte ihrer Optionsscheine verdorben waren, als Raketen auf ihre eigenen Kinder niederprasselten.

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

sangen sie, deren Augen schon lange so fest zugedrückt waren, dass sie kaum das Aufleuchten der Detonationen und Börsenticker sehen konnten.

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

die Hirne voll mit Webeslogans, Werbejingles, Werbegedanken, die Bäuche voll mit Fleisch, Wut und Langeweile, zum Zerbersten gefüllt mit Scheiße und nimmer satt, dumm wie Insekten, kalt wie Söldner, mächtig wie Götter –

Der letzte Feind, der beseitigt wird, ist der Tod.
Der Tod.

Discontra III

Diesen Artikel drucken 20. Mai 2008

Keine Zeilen, nur Schritte mit nichts als der Leere der eigenen Seele dazwischen, darüber Worte wie das überreizte Rauschen eines tauben Wasserfalls.
Keine menschliche Stimme spricht sie aus, keine Wärme und kein Happy End dahinter, aber auch keine Raserei und kein Exzess, nur Worte, nicht mehr als Bedeutungen ohne Beziehung, ohne Ursprung, all das, Emotion, Intention, Relation, herausgeschnitten oder – genauer – gefiltert, überlagert. Leerer als die Zeit zwischen den Schlägen ist nur der Raum, der nur sich selbst anbietet – (er)finde deine eigene Geschichte oder stirb, ich habe keine für dich, ich bin dein und nicht mehr als das.
Und wirklich, da ist niemand, niemand außer dir selbst, das denkst du noch, drehst sich dabei schwerelos im leeren Raum.
So bist du also Astronaut geworden, schwebst weit ab um den Planeten, auf dem du einst lebtest. Warst du auch damals schon allein?