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Ein Text, eine Geschichte.

89 Bilder

Diesen Artikel drucken 5. Juni 2007

Ein kleiner Baum hatte das Inferno überstanden, stellte er lakonisch fest und betrachtete ihn durchdringend. Viel war nicht von ihm geblieben, von den meisten seiner Äste war nur noch Asche übrig, und selbst an der dem Hang abgewandten Seite hatten seine Arme eine kohlefarbene Schicht bekommen.
Er ging einige Schritte auf ihn zu, ließ sich dabei Zeit, atmete die ozonhaltige, schale Luft langsam ein und aus. Gut möglich, dass der Baum genau an der Grenze von Zone 2 gestanden hatte, zumindest stand er genau an dem Hang, der sie seiner Erinnerung nach begrenzen sollte. Seine Kamera surrte einige Male leise, als er einige Fotos machte.
Er berührte den Stamm des Baumes sanft, und einige Zentimeter Rinde lösten sich unter seinen Fingern ab, wurden vom Wind davon getragen. Erstaunlich, dieser Baum, kein anderer hier oben hatte es überstanden. Ein ganzer Wald war hier einmal gewesen, so hatte er es auf den Bildern gesehen, und ausgerechnet dieser hatte überlebt.

Er drehte sich um, nachdem er noch einige Aufnahmen des Kraterrandes gemacht hatte. Es würde natürlich wieder ein Unfall gewesen sein, was auch sonst. Nicht alle Leute in der Heimat würden das glauben, auch das war nur natürlich, aber selten wagte jemand, dies offen zu sagen, und wenn es doch jemand tat, dann sicher nicht für lange. Aber das waren nicht seine Belange; er machte nur diese Aufnahmen und schrieb die Artikel, wie er angewiesen wurde. Natürlich waren es nie Unfälle, obschon dies denkbar wäre, denn die Kraftwerke der meisten Städte funktionierten wohl in ähnlicher Weise wie die Waffen, die man hier verwendete; wie sie genau funktionierten, wussten nur wenige Menschen, auch er war darüber nie informiert worden. Er setzte die Kamera ab, legte den Trageriemen wieder um seinen Hals, blickte dem Abgrund entgegen.
Weit im Norden, irgendwo in der Zone Null, konnte man noch Rauch sehen, das Gestein dort würde über Wochen glühen. Seiner Beobachtung, die er selbstverständlich für sich behielt, schien den Einschlägen oft vulkanische Aktivität zu folgen, aber er war kein Experte auf diesem Gebiet. Man sagte ihm nicht viel, und das war gut so; je weniger er wusste, desto weniger konnte er zu einer Gefahr werden. Ihn scherte zwar nicht, was hier geschehen war, aber allzu wurden Mitglieder des Journalistenkorps oder der Armee auf einen bloßen Verdacht hin weggebracht.
Nun, viele von ihnen mochten sicher Geheimnisverräter sein, aber er war keiner. Ihm war natürlich klar, was hier geschehen war, selbst wenn es ihm niemand offen sagte und er die schweren Schiffe über der Oberfläche nie gesehen hatte. Aber es ging ihn nicht an, und er kannte keinen der Menschen, die hier vor kurzer Zeit noch gelebt hatten. In anderen Zeiten hatte es ähnliche Ereignisse gegeben, als Massenmorde oder Vernichtungskriege hatte man sie bezeichnet; nun, da war nur eine gewisse Ähnlichkeit, denn es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen historischen Fakten und dem, was hier geschehen war, so dachte er zumindest.
Denn eigentlich starb hier niemand, kein einziger Siedler. Es war viel einfacher, er hatte es gesehen;
Die Granaten schlugen lautlos auf, nachdem sie eine Hyperbel-Bahn vom Himmel herab beschrieben hatten, detonierten – meist – in den Stadtzentren, und dann war da nur ein helles Leuchten, das einen leicht für immer blenden konnte.
Und wenn man den Blick wieder hob, war da nichts mehr. Gebäude, Straßen, Menschen, Beweise, alles wurde in nur einem Augenblick davongeweht wie Nebel vom Wind. Es blieben nur diese schwelenden Krater, die er von Zeit zu Zeit fotografierte, um danach von den Unfällen zu berichten.
Nein, eigentlich starb hier niemand, in einem Moment lebten diese Menschen ihr Leben, im nächsten waren sie und alles, was an sie erinnerte, fort, verschlungen von weißem Feuer.

Er erinnerte sich noch gut an die erste Kriegswelle, oder den ersten Befreiungsfeldzug, wie man es heute nennen musste. Damals hatte es noch echtes Sterben gegeben, jahrelang, er war damals noch neu beim Korps gewesen und war oft auf den stinkenden, verstrahlten Schlachtfeldern gewesen, wenn auch nur ganz hinten. Doch dann hatten sie begonnen, die neuen Granaten zu verwenden, und seitdem hatte das Sterben aufgehört.
Genau wie noch in heutiger Zeit hatte man ihn damals immer häufiger in sein Büro in der Hauptstadt geschickt, um dort alleine die Artikel fertigzustellen. So war es schon lange; anfangs war das Kriegsgebiet noch so nah gewesen, dass er, hätte er aus dem Fenster gesehen, Nachbarstädte mit einem stummen Blitz hätte vergehen sehen können, während er an Berichten über die neuen Golfanlagen auf Kuba schrieb. Doch das hatte sich mit den neuen Waffen schnell geändert, und der Krieg war schließlich auf unbedeutende Welten wie diese hier gekommen, ohne dass er genauen Grund dafür gekannt hätte.

Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, dass er kaum registriert hätte, wenn die beiden Soldaten der Eskorte vor ihm nicht fast zeitgleich einen ebenso disziplinierten wie dumpfen Befehl ausgestossen hätten. Es blieb keine Zeit, die Situation einzuschätzen, die Lage zu überblicken und rational zu entscheiden, was zu tun war, während die beiden ihre Waffen hoben; doch die Konditionierung seiner Ausbildung funktionierte und griff ein wie ein unsichtbarer Marionettenspieler. In einer kaum wahrzunehmenden Geschwindigkeit drehte sich der Fotograf über die linke Schulter weg, um hinter sich blicken zu können, während er sich flach fallen ließ. Eine schützende Hand griff dabei scheinbar unbewusst nach der Kamera, seine Finger fanden den Auslöser blind.

Dann lag er im Staub, alles war vorbei, alles, und einer seiner Bewacher half ihm mit dem emotionslosen Gesicht eines Frontsoldaten wieder auf.

Was davor geschehen war, das hatte, so konnte er sich später immer wieder und wieder versichern, kaum mehr als eine halbe Sekunde gedauert, und so hatte sein Gehirn, das mit dem Anwenden seiner Ausbildung beschäftigt gewesen war, kaum mehr registriert als Schmemen und Schüsse. Aber auch das war nicht wichtig; er konnte die Szene später auch ohne Erinnerung begreifen, war dazu gezwungen, verdammt.
Ein Junge, kaum älter als acht oder neun, vielleicht auch zehn, hatte sich unterhalb des verbrannten Baumes versteckt, in einer Spalte im Hang, oder vielleicht auch in einem Baumstumpf, er fand es nie heraus. Der Junge musste heraufgeklettert sein, als er sich bereits vom Abhang entfernt hatte, und so hatten er und die Eskorte ihn erst bemerkt, als er über einen Stein gestolpert war, so war es zumindest zu vermuten.

Er bot ein gräßliches Bild; die rechte Seite seines Körpers schien verbrannt oder viel mehr geschmolzen zu sein, denn man konnte noch Reste seiner hellen Kleidung erkennen, die scheinbar mit der verkohlten Haut verklebt war. Auch sein Kopf schien verzerrt, die Haare fehlten, und der Mund besaß eine blaßrote und eine fast teerschwarze Seite, die seltsam herabhing und zusammen mit dem blinden rechten Auge den Eindruck eines furchterregend grinsenden Zwinkerns schuf.
Das Kind war einfach stehengeblieben, als man es bemerkt hatte, ganz naiv. Vielleicht hatte es Hilfe erwartet, vielleicht war der Junge auch schon gänzlich von Sinnen gewesen, in jedem Fall war er einfach so stehengeblieben, etwas schwankend, und hatte die Männer angeblickt, die ihm gegenüber standen.

Die Schüsse trafen ihn in die Brust, zweimal, ein dritter traf die ohnehin zerstörte Schulter. Der Aufprall war so schwer, dass der Junge einige Meter nach hinten geworfen wurde, auf den Boden schlug und den tiefen Abhang hinabrutschte; sein Mund öffnete sich dabei. Vielleicht hatte er geschrien, der Journalist wusste es nicht, würde es nie wissen, auch wenn er Tage damit verbringen würde, darüber nachzudenken.
All das hatte der Fotograf gesehen, in dieser halben Sekunde, aber natürlich konnte er sich an kaum etwas davon genau erinnern, es war zu schnell geschehen. Es war ein wenig wie ein Albtraum, den man vergessen hatte; nur der Grundriss blieb übrig, wenn man ihn nicht nach dem Aufwachen aufschrieb, und so wünschte er sich oft, es gäbe nur diesen Grundriss in seinen Erinnerungen, aber so war es nun einmal nicht.
Er hatte diesen Albtraum aufgeschrieben und somit bewahrt, für alle Zeiten; wie er erst auf dem Rückweg in die Hauptstadt bemerke, hatte er im Sturz 89 Bilder gemacht, 89 Aufnahmen, die die gesamte Szene und all das Geschehene genau eingefangen hatten.
Er hätte sie löschen können, ohne sie anzusehen, denn ihm war nach einem kurzen Blick auf die Anzeige klar gewesen, wann er sie gemacht hatte. Dann er hatte sie doch durchgesehen, und danach dachte er nie wieder ernstlich daran, sie zu löschen.

Einige Nächte nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt verbrachte er nur damit, die 89 Bilder anzusehen, jedes Detail aufzusaugen, um mit dem Jungen abschließen zu können. Aber so sehr er es auch wünschte, der Albtraum blieb in den Fotos eingefroren.
Einige weitere Nächte lang dachte er darüber nach, sie zu veröffentlichen, um sich von diesem Gewicht, diesem Gesicht zu befreien. Doch auch diese Nächte ließen ihn nicht handeln; die Konsequenzen waren ebenso klar wie erschreckend, man würde ihn hängen und die Bilder vernichten, und so siegte sein Überlebenswille.
Doch auch das milderte das Gewicht der Bilder nicht, und so versanken seine Nächte bald in Alkohol, bis er eines Morgens mit dem eigenen Revolver in der Hand erwachte. Er gab ihn weg und trank nie wieder.
Schließlich verbrachte er seine Nächte wieder an seinem Schreibtisch und schrieb seine Berichte, wie man sie ihm auftrug. Er schlief nur noch wenig und wenn, dann nur am Tage. Die Bilder blieben in seinem Schreibtisch verschlossen, zweifach gesichert auf einem Speichermedium, daneben einige sorgsam verborgene Papierausdrucke, wie man sie heute nur noch selten sah. Er betrachtete sie jeden Tag; über die Krater schrieb er nie wieder.

Vernichtung

Diesen Artikel drucken 12. Mai 2007

Zunächst schwelt es nur leise, manchmal für eine sehr lange Zeit, aber früher oder später treten die Flammen hell an die Oberfläche. Die Rinde wird schwarz vom Russ, man sieht, wie sie sich langsam verzieht und windet, mit durchdringendem Knirschen verformt. Wer das Schauspiel näher verfolgt, dem fällt der Gestank auf, der davon zusammen mit dem grauen Rauch aufsteigt, ein Geruch wie von Schwefel oder Industriereinigern, er ist zu schwer, als dass man das genau benennen könnte – oder gar wollte. Die Augen beginnen zu tränen, wenn man es genau beobachtet, und so entgehen einem hoffentlich die Details, die kleinen, verkohlten Splitter, die sich aus dem Material lösen etwa, die da leise flehend vom Feuer aufgesorgen werden, oder das gehässige Aufflackern, wenn sich zwei der winzigen Brandherde vereinigen.
Und dann, wenn man es schon beinahe nicht mehr erträgt, weil man die verkraterte Kruste und den Gestank, die Flammen und das leise Züngeln nicht mehr sehen kann, dann erst bricht die Hülle mit einem quälend theatralischen Krachen und lässt das Innerste weiß hervortreten; Für einen Augenblick erweckt das den Anschein einer Häutung, das Äußere reißt einfach auf, und darunter sieht man nur makelloses Weiß, wie das von edlem Holz. Die kläglichen, verdorbenen Reste der Rinde glimmen noch eine kurze Zeit, dann verschwinden sie einfach, restlos verbrannt. Der Geruch in der Luft wird dünner, bis er kaum noch wahrzunehmen ist, der Rauch verflüchtigt sich und dann herrscht eine fast friedliche Stille.
Man ist erleichtert über dieses zerstörerische Ende, fast erfreut, denn was man zuerst für das ans Licht gezerrte Innere hielt, ist wieder eine Haut, eine Hülle, eine makellose diesmal. Vielleicht reicht einem dies schon aus, um mit dem seltsamen Spiel abzuschließen, und man wendet sich ab; eine Wandlung, wenn auch eine vernichtende, mag man denken und sich anderen Dingen zuwenden. Doch manchem wird das nicht genügen, mancher wird stattdessen mit der Hand über das Weiß der Oberfläche fahren wollen – und die Hitze bemerken.
Nein, das war noch nicht das Ende, im Inneren glüht auch schon diese Hülle, diese Hülse, und wer bislang nicht bereut hat, diese Szenerie näher zu untersuchen, der wird es jetzt tun, denn jetzt muss man auch den nächsten Schritt der Zerstörung erdulden. Der Blick bleibt gefangen, wenn auch diese in Flammen aufgeht, mit leisem Knistern zu Nichts wird. Was dann darunter zum Vorschein kommt, dass ist – man hat es befürchtet – wieder eine Haut, wieder eine weiße, makellose Rinde, aber wieder ist sie heiß und fiebrig, kaum dass sie an die Oberfläche getreten ist. Trotz der scheinbaren Wiederholung kann man sich nicht daran gewöhnen, der Rauch ist jedes Mal aufs Neue beißend, das Knistern zerrt jedes Mal aufs Neue an den Ohren, jedes Zerreißen bleibt theatralisch, bleibt Apokalypse und Wiedergeburt. Die Tränen treten dem Betrachter auch in den unregelmäßigen, ruhigen Phasen in die Augen, und wer noch kann, der läuft davon, lässt das hinter sich und flieht. In das Mitleid derer, die schon ganz gefangen sind, mischt sich ein verbotener, ein stechender Gedanke, der Wunsch nach dem Ende, der Wunsch, dass unter dieser Rinde nun das Innerste hevortreten möge, damit dieses gequälte Etwas endlich sterben, vergehen darf – und damit der Zuschauer endlich abschließen kann mit diesem Schauspiel, seinerseits nicht mehr gequält zusehen muss, wie Haut um Haut verglüht. Man mag diesen Gedanken verdrängen, mag sich schuldig fühlen, ihn gedacht zu haben, aber ist er einmal da, so ist er nicht mehr abzuschütteln. Jahrzehnte müsste man zusehen, um zu erkennen, wie mildtätig dieser Wunsch tatsächlich ist; denn erst dann wäre auch die letzte Hülse heruntergebrannt. Erst dann würde man betrachten können, was im Innersten dieser Kreatur ist: Nichts, nur Asche. Man würde einsehen, dass dieses Innere das Erste war, das verbrannt ist, noch bevor sich die Hautschichten darum auch nur erwärmt hatten. Und könnte erkennen, dass der schuldige Gedanke nicht mehr als der Wunsch nach Gnade war, der Gnade der Vernichtung.

„Die Hölle ist kein Ort, sie ist ein Gedanke – und deshalb nie weiter als ein Wort entfernt.“

Gesichter

Diesen Artikel drucken 28. April 2007

Manche Gesichter folgen uns durch unzählige Nächte, dem kalten Puls eines naiven Jagdalgorithmus folgend, der keine Verhandlungen kennt, kein Aufgeben oder Aufschieben, keinen Schlaf und keine Ermattung, der nur seiner Beute nachspürt wie ein Automat, gleich einer Schleife ohne Abbruchbedingung.
Meist ist es ein Unbekannter, dessen Konturen eine oberflächliche Ählichkeit besitzen – wie blicken hin, und für einen Augenblick ist da ein flüchtiges Erkennen, eines dieser Gesichter blitzt kurz hervor, ganz so wie eine Intuition plötzlich aus einem ganz gewöhnlichen Sinneseindruck herausspringt und ihm eine zusätzliche Tiefe, eine neue Dimension gibt, die er vorher nicht besaß. Manche lachen, andere blicken uns vielleicht nur still an, was auch immer ihr Ausdruck ist, es bleibt immer der gleiche, er bleibt festgelegt.
Wir können uns verstecken – natürlich können wir uns verstecken, aber auch das hilft uns nicht, das Gefühl, nur Beute zu sein, bleibt. Manche verstecken sich hinter ihrer Arbeit, andere flüchten sich in ihre Vergnügungen, wie sie das nennen, aber all das führt zu nichts, die Jagd bleibt die Jagd, und ob in einer tanzenden, schwitzenden Masse, in Passanten auf unseren Spaziergängen oder gar unserem eigenen Spiegelbild – früher oder später erblicken wir darin den Gegner, die Erinnerung an etwas Fremdgewordenes oder etwas, dass wir nie besaßen, und dann haben sie uns gefunden, diese Gesichter.
Wir erzählen anderen nur selten davon, es bleibt eine intime, eine persönliche Frage, wen diese Gesichter zeigen, die kaum jemand stellt und niemand beantworten mag. Aber natürlich gibt es auch hier Klischees. Für die Jungen wird es oftmals eine verschollene Jugendliebe sein, oder ein verunglückter Freund. Die Alten dagegen werden vielleicht längst betrauerte Geliebte sehen, oder nur sich selbst, jünger. Doch sie müssen nicht tot oder vergangen sein, manche sind uns auch ganz real noch vertraut, und dass sind die Schlimmsten, weil sie keine Illusion lassen, keine Klitterung unserer – und ihrer – Geschichte, weil sie immer noch mehr sind als nur der blinde Automatismus der Erinnerung.
Auch wenn wir nicht wissen, welcher Gesichter ein Anderer sieht, so merken wir es selbst dem Fremden manchmal an, wenn er die Seinen sieht; es sind diese Momente, in denen der Blick plötzlich fern wird und dann bricht, in denen man die Augen ohne Grund abwendet und verstummt. Die, in denen man plötzlich die Hand eines Anderen ergreift und leise seufzt, ohne es erklären zu wollen.
Irritationen der Sinne scheinen sie anzuziehen, und so ist es seltsam, dass wir diese von Zeit zu Zeit gar suchen, doch vielleicht ist das ganz natürlich; sie definieren uns schließlich auch, machen uns zu Menschen, ganz so, wie unsere Fehler uns ebenso ein wenig definieren. Und vielleicht genießen wir manchmal sogar diesen leisen Schmerz des Nicht-Abzuschüttelnden, denn immerhin sind wir durch sie auf eine tragische Weise auch unter Unbekannten niemals einsam.
Vollkommen egal, wohin wir auch gehen, unsere Gesichter folgen uns auch dorthin; die Reflexion der Sonne in einer Autotür holt sie zu uns, bei einem Sommerspaziergang. Oder das blinzelnde Stroboskopleuchten in einem dunklen Saal voller Menschen, oder der lange Blick in den Spiegel. Wir sehen unserem Verfolger in die Augen, für einen Sekundenbruchteil, erstarren. Und hören in unseren Köpfen die alte Botschaft, vielleicht hört jeder eine andere.
Ihr Sinn aber bleibt immer gleich oder zumindest ähnlich. Es ist das korrumpierte Lispeln der Unschuld, dass da Hab dich flüstert und Auf Wiedersehen kichert, nicht ohne die Bedeutung des letzten Wortes deutlich zu machen.

Liebe ©

Diesen Artikel drucken 26. März 2007

Am 11. Januar 2097 geschah in einem Ort in Westeuropa, der sonst kaum Beachtung fand, etwas außerordentlich Wichtiges, zumindest stellte der Pressesprecher des Konzerns dies vor dem Gerichtsgebäude so dar. Ob es das wirklich war, darüber stritten sich Bürger und Medien noch Monate später und danach verschwand die Problematik schließlich – wie bei öffentlichen Diskussionen dieser Größenordnung üblich – von der Agenda, als im Juni des selben Jahres eine Bombe den Londoner Bahnhof zerriss, womit die Frage nach der Relevanz endgültig offen blieb.
An diesem 11. Januar aber, da starrte die ganze Welt wie gebannt auf ein – europäisches – Gericht in der Nähe von Brüssel. Über 1400 Journalisten und Fotografen aus aller Welt hatten sich eingefunden, und in dem kleinen Ort herrschte ein heilloses Durcheinander, das die Polizei erst in den Griff bekam, als bereits ein Reporter von einem Tontechniker überfahren worden war (was, im Spiegel der Geschichte betrachtet, in gewisser Weise gerecht schien, denn eben dieser Mann hatte zwei Jahre zuvor in einer Nachrichtensendung den vierten Irakkrieg erfunden und damit unwillentlich ausgelöst).
Als sich also an dem besagten Tag alle etwas beruhigt hatten und sich neben den 1400 Medienvertretern auch etwa 800 Demonstranten (hauptsächlich Freikirchler und, davon versetzt, die Art von Menschen, die man überall finden konnte, wo handfester Ärger vermutet wurde) ordentlich postiert hatten, geschah – erst einmal nichts.
Es war keineswegs so, dass sich die Entscheidung verzögert hätte; das Urteil war in Wirklichkeit schon verlesen worden, als es draußen noch freie Parkplätze gab. Aber der Vorstand des Konzerns hatte beschlossen, es noch etwas hinauszuzögern. Sie waren es auch gewesen, die für den Ausschluß der Öffentlichkeit aus dem Gerichtsgebäude gesorgt hatten. Man wollte Überlegenheit demonstrieren – und das funktionierte. Es klappte sogar so gut, dass einige der streitsuchenden Demonstranten schon abgereist waren, bevor der Sprecher überhaupt vor die Tür getreten war, um seine Strophe aufzusagen. Selbst die Journalisten murrten und stöhnten schon in der fahlen Wintersonne, als es dann endlich doch geschah.
Ein Mann in einem grauen, nichtssagenden Anzug trat lächelnd durch die Türen des Gerichts, blinzelte in die Sonne. Es war einer dieser glatten, neutral wirkenden Typen, deren Alter man nie richtig schätzen konnte. Er blieb noch kurz stehen, schaute noch einmal in die Sonne, dann trat er zu dem Halbkreis von Mikrofonen. Man konnte Kameras surren hören, sonst war es ganz still geworden. Selbst die betrunkenen Demonstranten weiter hinten waren schlagartig ruhig.
Das schien dem Mann in dem grauen – und sicher teuren – Anzug zu gefallen, denn er lächelte noch ein wenig breiter.
Dann öffnete er den Mund und teilte den über 2000 Menschen auf dem Platz strahlend mit, dass seit etwa einer halben Stunde alle Rechte am Begriff der romantischen Liebe mitsamt aller damit verbundenen Inhalte, Symbole und Referenzen auf die VELOoN-Unternehmensgruppe übergegangen seien.
Davon ausgeschlossen seien allerdings alle Aspekte der Sexualität, fügte er hinzu, es klang etwas bedrückter, als er es geplant hatte (dabei hatte der Vorstand des VELOoN-Konzerns diesen Kompromiss durchaus kalkuliert; sie hatten diesen Vorschlag sogar selbst gemacht), und so fügte er noch fröhlich hinzu, dies sei ein wichtiger Tag für VELOoN, ein wichtiger Tag für die Welt. Noch schwieg die Menge, als könne sie es noch nicht glauben. Das rettete dem eloquenten Mann im Anzug vermutlich das Leben, denn als die Tür des Gerichtsgebäudes hinter ihm wieder zuschlug, war das wie ein Startschuß; auf dem Platz brach die Hölle los.
Nun, zumindest war das der Eindruck, den die anwesenden Journalisten hinterher – natürlich – vermittelten. Tatsächlich gab es einige Dutzend Verletzte, und ein unglückseliger Chauffeur (der aber gar nicht, wie vermutet, bei VELOoN angestellt war) wurde von dem Mob einige Kilometer weit gejagt, bevor man von ihm abließ. Dennoch gingen die meisten der Unruhestifter enttäuscht nach Hause. Das Problem war vermutlich, dass die zahlreichen Streithähne zwar willens waren, den Platz in ein Schlachtfeld zu verwandeln, die prägnante und kurze Ansprache des VELOoN-Sprechers sie aber verwirrt hatte. Auch die Journalisten wussten nicht genau, was jetzt geschehen würde; niemand hatte eine rechte Vorstellung, und die meisten fragten sich zudem auch noch, wie um alles in der Welt das geschehen war.

Dabei war das eine recht einfach zu beantwortende Frage, wenn man den Prozess etwas länger verfolgt hatte, was aber natürlich selbst die kompetenteren Medienvertreter unterlassen hatten – der neuentbrannte Irakkrieg hatte eine höhere Quote versprochen (und war es nicht immer so? Recherchen brachten sicher Information, aber Krieg, Krieg brachte nun mal Quote – und die zählte).
Alles hatte damit begonnen, das VELOoN, ein Mischkonzern, der von Bananen bis hin zu Panzern irgendwann einmal alles verkauft hatte oder noch verkaufte, die Rechte an etwa 10.000 – und damit nahezu allen – Hollywood-Streifen aufkaufte. Man kaufte sie recht günstig aus der Konkursmasse eines der letzten Filmstudios in den USA. Zunächst nahm man das Lizenzpaket nur als günstige Gelegenheit wahr, doch ein findiger – und bald beförderter – Abteilungsleiter kam auf die Idee, sich doch die Rechte an der Liebe zu sichern. Schließlich, so könne man argumentieren, sei die Liebe, oder die westliche Auffassung davon, doch ganz klar erst von Hollywood zu dem gemacht worden, was sie ist. Um es plakativ zu formulieren; wenn die heutigen Begriffe erst von Vom Winde verweht und Scarlett erschaffen worden seien, dann habe VELOoN ganz selbstverständlich auch die Rechte an der Liebe.
Die Manager-Riege nahm diesen Vorschlag zunächst nicht ganz ernst, beauftragte den Mann aber, eine Klageschrift vorzubereiten, um es einmal zu versuchen. Natürlich ging dieser erste Versuch vollkommen schief; juristisch war er unzureichend formuliert und viel zu allgemein gehalten. Letztlich war die Klage abgelehnt worden, weil das Gericht monierte, es sei nicht ausreichend differenziert worden, auf was denn nun Ansprüche bestünden.
Selbstverständlich wurde der Mann, der seine Idee so stümperhaft umgesetzt hatte, sofort entlassen; aber darüber hinaus war der Vorstand, der mehr zufällig davon erfuhr, überaus überrascht, dass der Antrag überhaupt derart ernst behandelt wurde. Und so reifte ein neuer Plan; man wollte es noch einmal versuchen. Aber diesmal zog man eine ganze Armee von Anwälten zusammen, dachte nach, taktierte. Stellte schließlich eine Klageschrift zusammen und reichte sie ein.
Diesmal wurde der Antrag nicht abgewiesen, und es kam zu einer Verhandlung vor dem neu eingerichteten Gerichtshof für Urheberrechte, der sein Ende an diesem 11. Januar fand. Doch davor standen einige zähe Woche unzähliger und endloser Anhörungen, Diskussionen und Streitereien; wie es das neue Copyright-Gesetz vorsah, stand gegen die Anwälte der VELOoN ein so genannter Bürgeranwalt, dessen Aufgabe es war, dem Richter klarzumachen, dass die Forderungen von VELOoN juristisch unhaltbar waren; der Bürgeranwalt in diesem Fall war durchaus ein guter Jurist, aber VELOoN hatte sich gut vorbereitet.
Um abzugrenzen, auf was man eigentlich Anspruch erhob, hatte man zweierlei getan; zum einen hatte man zusammen mit den besten Psychologen, Soziologen und Philosophen die genaueste und ausführlichste Definition der westlichen Auffassung von der romantischen Liebe geschrieben, die es jemals gegeben hatte (es muss sicher nicht erwähnt werden, dass für die zu Grunde liegenden Gutachten auch einige Millionen Euro relevant gewesen sein mochten); allein dieses Machwerk umfasste 1278 Seiten ohne Anhänge. Weiterhin hatten spezialisierte Kanzleien einen Katalog mit Forderungen aufgestellt. Im wesentlichen war darin aufgeführt, welche Inhalte und Symbole derart an den fraglichen Begriff gekoppelt waren, dass VELOoN darauf Anspruch erheben konnte. So waren etwa Valentinsgrüße aufgeführt; Rosen dagegen nicht, ausschließlich rote Rosen waren genannt. Es war eine endlose Liste, darunter jeweils eine Begründung.
Derart präpariert zog man vor Gericht; als der Bürgeranwalt den Wust an Papier sah, den die Anwälte mit sich brachten, bat er sofort etwas schockiert um eine Vertagung.
Als das Verfahren wieder aufgenommen wurde, legten die Anwälte von VELOoN zunächst ihre Kernthese dar. Mit großem Aufwand bauten sie im Saal eine der teuren, alten Vorführanlagen auf und zeigten allein in den ersten drei Tagen zehn Filme und über 100 Ausschnitte. Darunter waren Klassiker der 50er und 60er Jahre, aber auch uralte Stummfilme. Etwa zwei Dutzend größtenteils bekannte Wissenschaftler wurden als Gutachter gehört; sie alle bestätigten, dass VELOoN selbstverständlich richtig handelte, wenn es die Liebe als Markenbegriff schützen wollte.
Dann war der Bürgeranwalt an seiner Reihe, und obwohl VELOoN die meisten kompetenten Gutachter auf dem Kontinent bestochen hatte, fanden sich doch einige wenige, die seine Argumentation stützten; die Liebe sei nicht als Markenbegriff verwendbar, da weder die VELOoN noch die alten Filme ihre Urheber seien. Sie sei schon so alt wie die Menschheit und damit Allgemeingut, dass kein privates Unternehmen für sich beanspruchen könne. Um dies zu unterstreichen fand ebenfalls eine Präsentation statt, die aber nicht halb so eindrucksvoll wie die der Kläger war. Dennoch schmückten Bilder aus fast allen Zeitaltern die Wände des Gerichtssaals; Abbildungen aus dem antiken Griechenland, Rom, Ägypten. Persien und dem Orient, China, der Renaissance, und so weiter und so fort. Es wurden Werke von Goethe und Shakespeare zitiert, auch von Gibran und Rilke. Am Ende die Prozesstages war alle sehr erschöpft von all den – zugebenermaßen etwas stumpf präsentierten – Fakten, doch der Bürgeranwalt war recht zufrieden mit sich und schloss mit einer donnernden Zusammenfassung, die den Tag schärfer als zuvor resümmierte.
Doch die Anwälte der Gegenseite waren noch besser vorbereitet, als er erwartet hatte. Kaum hatte er sich wieder gesetzt, rief die Gegenseite einen hagere, aber sehr sympathische Frau nach vorne, die sich als Medienwissenschaftlerin und Historikerin auswies. Sie hatte sich kaum gesetzt, da begann sie auch schon zu reden; natürlich sei das Argument der Gegenseite richtig, und natürlich sei auch die romantische Liebe älter als alle Hollywood-Filme (in der Tat bezweifelte sie dies in Wirklichkeit, aber man hatte ihr eingetrichtert, dass das nicht so wichtig sei) – nur sei aber die westliche, verbreitete Form oder Interpretation davon eben nun mal in seiner Zusammensetzung und in seiner Definition erst durch diese Filme geschaffen worden. Deshalb erhebe VELOoN ja auch nur Anspruch auf diesen Teil; das sei wie mit den – selbstverständlich geschützten – Cola-Rezepten der beiden großen Getränkehersteller; natürlich hatten sie die Cola nicht erfunden, und deshalb war dieser Begriff auch nicht zu patentieren. Aber ihr Rezept hatte das Produkt, dass sie verkauften, erst definiert; und diese Definition, das ‚Rezept‘, das die Merkmale des Produkts festlegte, das war durchaus zu schützen. Nicht anders verhalte es sich auch hier, das Rezept, die Definition der westlichen Deutung der Liebe, die heute aktuell sei (im Gegensatz zu den Auffassungen von Goethe oder Schiller), wäre erst durch Hollywood erzeugt worden, und damit sei sie als ‚Rezept‘ zu schützen.
Der Bürgeranwalt musste laut lachen, als sie ihre Aussage mit dieser Analogie beendete, aber als der Richter ihn dafür rügte und schließlich sogar verwarnte, als er einwand, dies sei lächerlich, wurde ihm schnell klar; diesen Prozess würde er doch noch verlieren.
Es wurde nie ganz klar, ob auch der Richter manipuliert worden war oder ob er die Argumentation tatsächlich so überzeugend fand; klar wurde später nur, dass das Urteil juristisch durchaus als korrekt anzusehen war.
In jedem Fall war der Prozess damit prinzipiell gewonnen für VELOoN, was gebührend gefeiert wurde; allerdings vergingen noch einige Wochen, in denen man sich über fast jeden Punkt in der Forderungsliste stritt. Nur über die roten Rosen stritt man sich amüsanterweise nie; niemand wusste, warum, aber diese eine Sache wurde nie in Frage gestellt. Andere dagegen wurden stundenlang diskutiert, so etwa die Valentinsgrüße (der Bürgeranwalt, den eine Art Vergeltungsdrang ob seiner Niederlage befallen hatte, argumentierte, dass ein Valentinsgruß auch lediglich freundschaftliche Gefühle ausdrücken könne – was letztlich für zweifelhaft befunden wurde), doch im Großen und Ganzen gab das Gericht schließlich allen Forderungen statt: gegen Ende des Verfahrens bot man dem Bürgeranwalt an, auf die Rechte an Sexualität generell zu verzichten, und dieser nahm den Kompromiss resigniert hin.

Und so dauerte es letztlich bis zu diesem Morgen am 11. Januar 2097, bis die Entscheidung fiel.
Danach wurde, schon wieder, ausgiebig gefeiert, wenn auch nur bei VELOoN. Fast sofort machte man sich an die Arbeit. In Windeseile hatte man eine ganze Abteilung nur für Abmahnungen eingerichtet, und so begann man, mit stoischer Ruhe Hunderttausende Unternehmen abzumahnen, zu verklagen und Lizenzgebühren einzufordern. Man mahnte Blumenverkäufer ab, Juweliere. Die Hersteller von Grußkarten, Doppelbetten, Hochzeitskleidern, 3D-Schnulzen, Familienserien und Taschenwärmern in Herzform.
In der Folge kam es zu einigen Turbulenzen auf dem Börsenmarkt, doch niemand beschwerte sich; die meisten Makler hatten ohnehin VELOoN-Aktion gekauft, und die schossen zu dieser Zeit durch die metaphorische Decke. Von den verklagten Unternehmen kam nur wenig Widerstand; die meisten Rechtsabteilungen befanden das Urteil als wasserdicht – und daher zahlte man lieber. Nur ein einziger Fall wurde publik, in dem ein kleiner Kiosk sich zur Wehr gesetzt hatte; Man war durch den Verkauf von essbaren (roten) Rosen ins Fadenkreuz geraten. Es endete, medial begleitet, wie immer in Tränen; Abweisung des Einspruchs, Pleite, Scheidung, Selbstmord.
Dabei hielt sich VELOoN, was die Öffentlichkeit anging, so bedeckt wir nur möglich. Bei Interviews ließ man immer nur verlauten, dass der normale Bürger keine Nachteile haben würde, und dass VELOoN natürlich kein Interesse habe, ins Privatleben der Menschen einzudringen. Aber natürlich war auch das Teil einer Strategie. In der Tat wartete man nur noch auf ein Ereignis, das die Menschen ablenkte. Dieses fand sich dann auch, etwa 14 Monate später, als sich ohnehin schon wieder Vergessen über den Prozess gesenkt hatte; man hatte auf einen Krieg oder einen Anschlag gewartet, aber im März 2098 bekam man beides.
Und am 15. des selben Monats bekamen über 100 Millionen Haushalte (zunächst in Westeuropa), die in diversen Datenbanken und Dateien als Ehen oder eheähnliche Gemeinschaften eingetragen waren, eine Zahlungsaufforderung.

Die andere Welt/Depression

Diesen Artikel drucken 14. März 2007

Manchmal, da kann man sie fast sehen, fast berühren, diese andere Welt, doch meist bleibt sie schemenhaft. Aus den Augenwinkeln nur nehmen wir sie dann wahr. Und doch bleibt Sie ein Sinnes-Spiltter, die flüchtige Wahrnehmung eines überreizten Nervensystems, sagen wir uns gerne, obwohl wir es besser wissen, besser wissen müssten.

Natürlich haben wir sie schon lange beobachtet, immer schon, manchmal verstohlen zu ihr hinüber gesehen, und vermutlich hat sie das selbe getan.

Dort war Musik nur das dumpfe Rauschen von anonymen Maschinen, immer gerade so diffus, dass es – nur fast – eine Bedeutung verbergen konnte; jahrelang konnte man diesem Rauschen zuhören, seine Botschaften blieben immer Täuschung, die Zufälligkeit von Statik, die doch immer entschlüsselt werden wollte und dennoch nur rastloses Plappern blieb. Der Raum hatte etwas Endgültiges, Hoffnungsloses dort, nirgendwo die Unendlichkeit eines Ozeans oder Sternenhimmels, nur noch die stählerne Sarkophaghaftigkeit der Bühne eines absurden Theaterstücks. Licht war ein grelles Lachen, das keinen Schatten mehr ließ, ohne irgendeine Farbe zum Erstrahlen zu bringen, ein gebliches Lächeln voller unsteter Risse zwischen den faulen Zähnen. Menschen waren dort nur verzerrte Fratzen und Hass, und nichts entstellte dort drüben mehr als ein Lachen, sei es noch so rein und glockenhell. In dieser Gegenwelt gab es keine Menschen mehr, die zu Räubern, Mördern und Schlimmerem geworden waren; nur noch Mörder, die manchmal zu Menschen wurden. Was hier gut war, das schien dort mehr ein Scherz, eine zynische Wendung. Ideen und Gefühle alterten dort schneller als alles andere, sie bekamen Risse und erschienen oft nur noch wie alte, kitschige Filme auf verdorbenem Zelluloid, die niemand mehr ernstnehmen konnte. Jede schöne Illusion unserer Welt wurde dort zur Desillusion, zum in sich verdrillten Konter eines bösartigen Schlägers, der uns in den Untiefen unserer Psyche auflauerte, und keine Worte begleiteten noch seine Schläge, nur das dumpfe Hallen seltsam euphorischer Ausweglosigkeit.

Nehmen wir sie wahr, so nimmt sie auch uns wahr, ihre Passivität ist ein falsches Spiel, genau wie unser Erschrecken ein Spiel ist. Wir gehören zu ihr, wie sie zu uns gehört.
Sie ist da, diese Gegenwelt, vielleicht versteckt in den Falten der Zeit, vielleicht auch nur in uns, aber sie existiert, sie ist da – und wartet.
Sie ist überall und zugleich im Nirgendwo verschwunden. Sie ist nur ein zusammengepresster kleiner Punkt in unseren Hirnen und gleichzeitig in allem, was uns umgibt. Und unser ganzes Leben lang suchen und ersehnen wir das Wort – die Gleichung – die Formel, die all das Chaos in uns endlich entfesseln kann. Damit wir wissen, dass wir uns nicht täuschen, keiner Halluzination unterliegen, nur um -ganz- in dieser anderen Welt zu erwachen und sie wenigstens einmal wach und konzentriert durchdringen zu können, nur damit wir einmal diesen Teil von uns wirklich begreifen können. Im Anfang war das Wort – heißt es. Und so sollte es auch am Ende stehen, nicht wahr?

Lauf

Diesen Artikel drucken 25. Februar 2007

Die Tür schnappt auf, du hörst sie leise ächzen, siehst sie aber nicht, siehst du nur deine Hände nach ihr greifen, und dann läufst du auch schon, dein Kopf befiehlt deinen Beinen nicht mehr, muss es auch nicht mehr. Die Autotür hörst du noch fern hinter dir zuschlagen, drehst dich aber nicht mehr um, starrst auf deine nackten Füße, siehst, wie sie sich rhythmisch entfernen und wieder näherkommen, immer wieder, schon bist du über den Asphalt hinaus. Der strohige Untergrund fühlt sich angenehmer an als der rissige Asphalt, denkst du einen Moment, deine Füße schießen weiter ihrem Ziel entgegen, du siehst ihnen zu. Wie Automaten weichen sie Steinen und unsicher wirkenden Stellen aus, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Deine Füße stolpern mal nach rechts, mal nach links und aus dem Lauf wird ein unförmiger Tanz, der an deinem Rückgrat zerrt, doch das stört dich nicht, du siehst weiter auf deine Zehen.

Und für einen Moment werden sie ganz klein, deine Füße, wie die eines Kindes, und du schmeckst etwas Vertrautes in der Luft, das Salz hing schon zuvor dicht über dir, aber erst jetzt kannst du es wirklich riechen, wirklich schmecken, still lächelst du. Dann verfehlt dein linker Fuß einen Schritt, landet in einer versteckten Distel, und mit einem unterdrückten Schrei wirst du nach rechts geworfen, ein Arm schießt hervor, hält das Gleichgewicht. Deine Füße beschließen, das Tempo wieder aufzunehmen, etwas Nasses klebt am linken, aber das ist dir egal, du bist fast da, spürst schon den warmen Sand unter den Füßen. Deine Beine beschleunigen auf dem planen Untergrund noch einmal, ignorieren die kleinen Kiesel jetzt, die deine Fußsohlen unangenehm streifen, ignorieren auch das Brennen deiner Lungen.

Dann, du hast es schon erwartet, berühren deine Zehen plötzlich nur noch Luft, du spürst den auffrischenden Wind hinter dem Abhang, und für einen absurd langen Augenblick glaubst du, fliegen zu können, einen Moment lang schwebst du irgendwie zwischen Himmel und Wasser, doch dann prallst du auf, deine Beine geben elastisch nach, lassen dich auf die Seite rollen, hart schlägst du auf die Schulter. Deine Arme ziehen dich wieder auf die Füße, du stolperst noch fünf Schritte weiter, fällst wieder hin, siehst aufs Meer hinaus. Und kommst an.

Der Alte am Strand

Diesen Artikel drucken 17. Februar 2007

Nienhagen/Rostock, Strand Der alte Mann ging den Strand entlang, wie immer, was hatte er auch sonst noch zu tun.
Das war ein Klischee, er wusste das, aber es störte ihn nicht, im Gegenteil. Sogar Klischees waren in seiner Zeit etwas Wertvolles.
Seine Kleidung war kaum abgewetzt, wenn auch schlicht und von einem leichten Grauschleier bedeckt, bei diesem Licht; einen Beobachter aus früheren Tagen hätte das wohl irritiert, doch die synthetischen Fasern der Wohlfahrt ließen keinen Verschleiß mehr zu, wurden weder schmutzig noch alt. Und so schien es, als ob es die zu weite Hose war, die den dürren alten Körper des Mannes trug und nicht umgekehrt; auch das wusste er, aber er scherte sich nicht darum, denn es schien ihm passend; in gewisser Weise stimmte das sicher auch.
Wurde er müde vom Laufen, dann setzte er sich auf einen Stein in der Nähe des Wassers und ruhte eine Weile aus, während er auf das grau-blaue Meer starrte und einen Proteinriegel der Wohlfahrt zu sich nahm, ohne den penetrant-künstlichen Geschmack sichtbar zu registrieren. Mehr hatte er nicht zu tun; mehr gab es nicht. Mehr als dieser Strand war von der Welt nicht mehr übrig geblieben.
Manchmal dachte er wahrscheinlich auch diesen Gedanken, aber dann hätte er wohl gelacht oder zumindest gelächelt, denn auch das schien ihm klischeehaft.
Außerdem stimmte es nicht; ‚das‘ Meer, ‚der‘ Strand, diese Kategorien hatten nicht einmal in seiner Kindheit wirklich existiert.
Was er heute so bezeichnete, dass war ein kiesiger Sandstreifen voller toter Muschelskelette; ab und an musste er aufpassen, nicht in irgendeine Flüssigkeit zu treten, die in einer verätzten Mulde vor sich hin trocknete, und wenn er einmal eine übersah, begannen seine Schuhe schimpfend zu dampfen.
Das Meer war dagegen wieder besser geworden; offensichtlich hatten die Menschen einen Weg gefunden, es zu reinigen, aber darüber wusste er nichts Genaues, nur dass das Grau im Wasser in den letzten beiden Jahren abgenommen hatte. Manchmal fand er jetzt sogar einen toten Fisch, wenn er so den Strand abging. Sie sahen alle gleich aus, hatten sogar alle die gleiche Maserung; er hatte ein Bild von einem gezeichnet, um sie vergleichen zu können. Wahrscheinlich stammten sie aus einem Labor, vermutete er.
Davon abgesehen war es schön an seinem Strand; so schön, dass ab und zu sogar Ausflügler kamen, wie man sie früher genannt hatte. Sie liefen dann auf dem Kies umher, einige Stunden zumindest, manche badeten sogar in hauchdünnen Anzügen. Der alte Mann hatte nichts gegen sie, manchmal sprach er einige Worte mit ihnen; er war oft wochenlang allein unterwegs und glaubte, das ein wenig Austausch nicht schaden konnte. Doch diese Begegnungen blieben ihm selten im Gedächtnis. Einmal hatte er ein Pärchen getroffen, dass ihm von den großen Restaurationsprojekten im Norden erzählt hatte. Die Küste würde viel schöner werden, hatten sie gesagt, viel schöner sogar als sie früher war. Das würde sie nicht weniger künstlich wirken lassen, hatte er zufrieden gedacht, es aber nicht ausgesprochen; es war ihm im Prinzip gleich, und vielleicht würden die ganz Jungen einen neuen, verbesserten Strand auch ganz authentisch finden – falls er sie überhaupt noch interessieren würde. Nie fragte ihn jemand, wo er herkäme, aber auch das war ihm ganz lieb. Er hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können; eine Heimatstadt gab es schon lange nicht mehr, eigentlich für niemanden, es gab nur noch die Städte, durch die man einmal gereist war, und es hätte ihn und die Touristen entschieden zu lange aufgehalten, dass zu erklären.
Und doch, der Stadt seiner Geburt zollte er immer noch einen gewissen Respekt, wenn auch indirekt. Seine Musikauswahl beschränkte sich ausschließlich auf schwere, alte, elektronische Tracks, schlecht synthetisiert von dem Wohlfahrtsplayer.
Zum einen lieferte ihm dass einen beruhigenden Kontrast zu den Momenten, in denen die Sonne fast klar durch die gelben Wolken fiel und beinahe eine Idylle schuf. Aber auch erinnerte ihn diese Musik an seine Geburtsstadt oder besser, was er dafür hielt; der Ort war im Laufe der Jahre mit anderen Orten zu der riesigen Textur aus Lagerhallen, Industriekomplexen und neon-gelb leuchtenden Roboterfabriken verschmolzen, die man heute nur noch selten Westeuropa nannte. Aber eigentlich dachte er auch nicht viel an diesen Ort, der sich auf so seltsame Art und Weise aufgelöst hatte. Überhaupt dachte er nicht viel; Einige Stunden des Tages schlief er, einige ging er, ein paar Minuten verschwendete er an die Proteinriegel. Den Rest der Zeit starrte er auf seine Füße und die Wellen. Wenn es dunkel wurde, schlief er wieder, das warme Klima und die Wohlfahrtskleidung machten es ihm bequem.
Das einzig Unfunktionale seiner wenigen Habseligkeiten war ein Foto, dass er stets in der linken Hand hielt, zu einer gelangweilten, drucklosen Faust geballt. Aber er sah nur selten darauf, ihm genügte das Wissen, es bei sich zu tragen. Es war aus einem alten Material, dass man inzwischen vermutlich lange verboten hatte, denn es alterte und ließ sich vermutlich kaum recyclen. Er war ein wirklich alter Mann, aber selbst er wusste nicht, wie man das Material nannte; ein Fremder hatte ihn einmal danach gefragt und vorgeschlagen, es zu einer modernen Holografie restaurieren zu lassen, denn das Bild war an den Rändern schon ganz eingerissen und teils unkenntlich. Die Sonne hatte die Farben blass werden lassen, und von der abgebildeten Person war nur noch ein blau-grauer Umriss zu erkennen. Die kostenlose Holografie aber hatte er abgelehnt, nicht weil er nicht verstand, sondern weil ihm das alternde Bild gefiel.
Der Fremde hatte erwidert, dass man ja nicht einmal mehr die Augenfarbe seiner Frau erkennen könne. Blau hatte der alte Mann geantwortet, ohne zu zögern, dann hatte er hinzugesetzt, sie sei nicht seine Frau. Dann war er einfach gegangen.
Und es stimmte wohl, er erinnerte sich genau, auch wenn das Foto nach dieser langen Zeit nur noch zwei blasse graue Pupillen zeigte, sie waren blau gewesen, blau. Nicht das Blau des Himmels seiner Kindheit, dass ihm immer scharf und klar erschienen war. Auch nicht das Blau des großen Ozeans, weder die tiefe, schwere Farbe der alten Aufnahmen noch der warnende Graustich der Gegenwart. Es war das helle, ganz und gar vorsichtig strahlende Blau-Grün einer fernen Bucht, bevor Menschen sie betreten hatten. Ein Blau, in dem kleine Wellen auf- und abrollten, miteinander spielten, einander im Spaß jagten, umeinander tanzten. Kein Blau, dass man leicht fand, weder hier noch irgendwo.
Selbst das Foto hatte sie irgendwann vergessen, diese Farbe, und so blieb nur noch der Alte, der von ihr wusste, wenn auch nicht viel mehr.
Einmal, nur ein einziges Mal hatte einer der seltenen Besucher gefragt, wen das Foto ursprünglich gezeigt hatte. Da war so etwas wie Verlegenheit über sein faltiges, freundliches Gesicht gehuscht, eine seltene Emotion.
Auch das hatte ihm die Zeit genommen, er erinnerte sich nicht mehr; vielleicht war er ihr nur flüchtig begegnet, vor Jahrzehnten, vielleicht hatte er sie auch gut gekannt, eine lange Zeit mit ihr verbracht, er wusste es nicht genau.
Das hätte er erklären können, aber auch das hätte ihn wohl zu lange aufgehalten, und so hatte er es nicht erwähnt, nur einige Sekunden gezögert, die Antwort überdacht.
Ein anderes Leben, hatte er dann gesagt, eine andere Welt, dann war der unsichere Ausdruck in seinem Gesicht wieder gewichen. Die Frau hatte ihm noch einen der ekelhaften Riegel geschenkt, er hatte sich höflich bedankt und war weitergegangen. Seine Augen hatten sich wieder starr an die Wellen geheftet. Und die ferne Verwandtschaft zu der Farbe in seinen Erinnerungen gesucht.

Eine Maschine

Diesen Artikel drucken 20. Januar 2007

Spezifikationen:

Chassis aus hartem Hydroxylapatit und Kollagen, Außenhülle komplett ohne Nähte gefertigt, wasserabweisend, abwaschbar, reißfest; leichte und flexible Panzerung gegen Umwelteinflüsse wie Kälte, Hitze oder Druck; integrierte chemische Abwehr von Fremdkörpern und Eindringlingen dank fuzzy logic. Autonome Reparatur- und Wartungseinheten, die Risse in der Hülle isolieren und schließen.
Die Transport-Infrastruktur; ein Netz von flexiblen, dünnen Kanälen und Röhren, das spezialisierte Untereinheiten verbindet; darin millionenfach gelöst selbstständige Verteidigungseinheiten. Automatische Erkennung und Beseitigung von Systemfehlern, Chemikalien und Invasoren innerhalb der einzelnen Subsysteme.

Energieversorgung: lokal/chemisch. Interaktion mit der Umwelt über vier periphere Multiwerkzeuge; alle Scharniere reibungsfrei gelagert und selbstschmierend. Präzise dosierbare Kraftübertragung über wartungsfreie Seilzüge. In nahezu jeder Umgebung einsetzbar; Gebirge, Wüste, Wasser etc.; Integrierte Umweltsensoren.
Zentralaggregat integriert, durchschnittliche maximal fehlerfreie Laufzeit > 50 Jahre; selbstwartend, selbstkalibrierend, selbstschmierend. Mit Beschränkung auf leichte Einsatzgebiete kann die Lebensdauer des Aggregats bis auf über 100 Jahre gesteigert werden; Leistung > 40 Watt.

Interne Steuerung über elektrischen Datenbus und Chemikalien; Datendurchsatz > 1 GB/s. Entsprechende Dekoder dezentral in allen wichtigen Subsystemen bis hinunter auf zelluläre Ebene; daher hohe Redundanz bei Teilausfällen.
Zentrale Steuereinheit fest verdrahtet; erhöhter Schutz vor Stößen, chemischen Einflüssen und thermischen Effekten durch verstärkte Panzerung. Betriebssystem inklusive Basis-Softwarepaket und Treiber für Sensorik vorinstalliert; (De-)kodier-, Sortier-, Filter- und Mustererkennungsalgorithmen, Datenbank- und Informationsverarbeitungsfunktionalität sowie logischer Coprozessor built in ab Werk; netzwerkfähig. Optisches, akustisches und taktiles Interface.
Innerhalb der einmalig (in einer 15-25 jährigen Konfigurationsphase) zu setzenden Umgebungsvariablen nahezu beliebig oft neu programmierbar; zerlegt, analysiert und integriert Informationen auf Wunsch selbsttätig. Speichervolumen > 1 Petabyte.
Lernfähig innerhalb der durch die Programmierung gesetzten Grenzen; kann sein Programm selbsttätig an Umwelt anpassen.
Failsafe-Betriebsmodus; bei kritischen Systemschäden werden höhere Anwendungen zu Gunsten der kritischen Anwendungen heruntergefahren.
Auf- und abwärts kompatibel mit Geräten gleichen Typs (Kompatibilität kann nicht in jedem Fall garantiert werden).
Keine Seriennummern; jede ein Unikat.

Betriebsmittel (primär): molekularer Sauerstoff, Wasser, Kohlenhydrate, Aminosäuren.
Betriebsmittel (sekundär): Eisen, Selen, Chrom, Vanadium, Natriumclorid, Ascorbinsäure, Calcium, u.a. (vollständige Auflistung liegt bei)
Native Betriebstemperatur: +37° C, selbstregelnd (integrierter Regelkreis), eingeschränkt funktionstüchtig von 35° C bis ca. 41° C.
Empfohlene Umweltbedingungen: Druck 1013 hPa, Temperatur +19° bis +25° C (aufrüstbar durch externe Isolierung bis -50°/+60°), Atmosphäre aus 70% Stickstoff und 30% Sauerstoff.

„Am Ende wird man einsehen müssen; Wir sind nur Fleisch, Ketten und Knochen.“

Reise

Diesen Artikel drucken 12. Dezember 2006

Ich stehe am Bahnhof, ganz allein. Eine große Eins leuchtet leise surrend über mir, ganz fremd und kühl. Ein Zug rauscht vorbei, das Rattern der Räder übertönt die Leuchttafel, während ich auf meine Uhr blicke, den unruhigen Zeigern einige Sekunden schenke. 34, 35, 36. Wieder drei Sekunden. Wieder vier Schläge.

Ist es wirklich der Zug, der hier vorbeirast? Bin nicht ich es?

Eine Frage der Perspektive, möchte ich antworten, nur eine Frage der Perspektive. Aber das stimmt nicht, ich weiß. Eine Maschine aus Stahl und Rädern schenkt keinerlei Perspektive irgendeine Aufmerksamkeit; sie rollt nur voran, voran, voran. Die Maschine sieht sicher viele Dinge auf ihren Wegen, ich stelle sie mir vor, während der aufgewirbelte Wind an meiner Kleidung zerrt. Berge im Morgenlicht. Die sanften, bewaldeten Täler der Umgebung. Die Lichter, die wir nachts in unseren Siedlungen entzünden.
Für sie aber bedeutet das alles nichts; es macht keinen Unterschied. Sie rollt voran, ihr Ort ändert sich, das ist alles.
Menschen dagegen sind sich ihrer Reise bewusst. Ich bin nicht nur an einem Ort; ich blicke zu den Orten, an denen ich sein werde, ich sehe zurück auf die, an denen ich einmal war, soweit mich Erinnerung und Vorstellung tragen.

Und vielleicht ist das der Unterschied; der Zug besitzt nur die Gegenwart, und so steht er eigentlich still. Nur der Verschleiß erzählt von seiner Vergangenheit. Ich dagegen reise, denn ich besitze eine Vorstellung von einem Pfad. Eine verblassende, eine unvollständige, eine vielleicht ständig neu konstruierte, aber immerhin eine Vorstellung. Eine, von der niemand sagen kann, sie sei falsch oder richtig; sie ist nur eine Konstruktion, fern von diesen Kategorien. Jeder Mensch ist auf seiner Reise, jeder besitzt seine Konstruktion. In gewisser Weise ist das unwirklicher als der Weg dieses Zuges; grausamer vielleicht. Seinen ‚Artgenossen‘ muss er ebenso wenig Aufmerksamkeit zollen wie den Orten, die er erreicht; es bedeutet nichts. Wer sich nicht erinnert, kennt auch niemanden und nichts.
Wir begegnen uns nur ebenso flüchtig auf unseren langen Pfaden. Berührungen bleiben kurz und unstet. Man teilt seinen Weg mit dem einen oder dem anderen, ein Stück weit, und dann trennen sich die Wege wieder, manchmal ganz begründet, manchmal auch einfach nur zufällig. Eine Weiche stellt sich um, der andere folgt seinem eigenen Pfad, fort ist er. Mit der Zeit verblassen diese Wegbegleiter, machen Platz für neue, die alten wirft man ab, ohne es zu wollen.
Gefühle aus früheren Tagen werden fremd, dann Stimmen, sogar Gesichter, schließlich bleibt nur ein diffuser Rest.

Auch die stärksten Erinnerungen helfen darüber nicht hinweg, es bleibt immer der Zweifel: Habe ich dich wirklich berührt, warst du das? War ich denn da? Warst du denn da? Ist das wirklich geschehen? Eine Gewissheit gibt es nie, nicht, so lange unsere Füße uns tragen, nicht, so lange unsere Leben uns davonzerren. Und so suchen wir vielleicht oft nur nach dieser unerreichbaren Gewissheit.
Ich schaue dem Zug noch einige Sekunden nach. Die roten Schlußleuchten verschwinden in der Dunkelheit, schon ist er fort, gefangen in seiner Gegenwart. Ich blicke wieder auf die Uhr, zähle einige Sekunden ab. Ich stelle mir eine wohlbekannte Frage, in gewisser Weise routiniert; Sollte ich ihn beneiden?

Und dennoch zieht mich mein Weg weiter
Und Dich von mir weg
Du vergraebst, was war
Unter Deinem toten Haar
Ich frag mich jeden Tag, wirst Du mir jemals vergeben
Du bist bei mir – uns trennt das Leben – Thomas D.

In jeder klaren Nacht

Diesen Artikel drucken 12. November 2006

Und dann lächeln sie dich an, die Sterne, mit geblichen, lückenhaften Zähnen, mehr ein schales Grinsen. Der kalte Wind scheint dir wie ihr Atem, ein wenig grausam und ohne Mitgefühl.
Sie und du, ihr seid aus demselben Grund hier.
Entscheidungen sind es, die dich hierher und sie dorthin geführt haben, Entscheidungen.
Entscheidungen?
Du denkst noch einmal darüber nach und erwiderst dieses Grinsen am Himmel, nein, keine Entscheidungen.
Entscheidungen erfordern Alternativen, Alternativen fordern Auswege, und Auswege gibt es nie.
Kein Teil von dir hat gewählt, hier zu sein und nicht dort, kein kleinstes bisschen dessen, was du Ich nennst.
Und kein Bruchstück dieser fernen Sterne hat gewählt, dort zu sein und nicht hier; Atome kennen keinen Willen, kennen nur die totalen Regeln der Natur.
Seinen Weg zu wählen bleibt eine Illusion, ein Trugbild, das nicht vor diesem kalten Wind und dem Blick zum Himmel schützen konnte.
Deshalb bleibt das Warum leer, bleibt bloßer Zufall. Da ist keine Verbindung zwischen euch, nur blinde Ähnlichkeit; du bist eine Struktur, durch die Materie fließt, bis sie schließlich von der Zeit eingeholt wird. Auch sie sind solche Strukturen, auch sie warten nur auf ihre Zeit. Ihr Grinsen erzählt von ihrer Einsamkeit, von der großen Leere zwischen den Sternen. Dein Grinsen erzählt von deiner Einsamkeit, von der Leere zwischen den Gedanken.
Doch niemand von euch kann oder will trösten, ihr könnt und wollt euch nicht einfach in dem Arm nehmen. Ihr seid Fremde, zufällig dem gleichen Weg ohne Ziel unterworfen, und weder du noch sie wollen mehr Schwäche zeigen als eben dieses falsche Grinsen.
Du wünscht dir vielleicht eine sternenlose Nacht, kalt und leer wie die Straße, auf der du stehst, damit du nicht nach oben schauen musst. Damit das Grinsen verschwindet, damit du die einzig vergrämte Seele in der Welt sein kannst.
Du bist sicher; in der Ferne denken sie genauso.
Aber der Zufall hat es anders gewollt; du schaust hoch – sie schauen herab.
Die gleiche Frage quält euch, die nach dem Warum, dem Warum ich, dem Warum ich allein. Niemandem könnt ihr sie stellen, denn neben euch ist da nur das Nichts zwischen Sternen und Gedanken.
Du und die Sterne, ihr erkennt in jeder klaren Nacht aufs Neue;
Nur Koinzidenz lässt dich hier sein.
Nur Koinzidenz lässt sie in der Ferne leuchten.
Und so bleibt nur eins zu sagen;
Sie bleiben allein dort oben, du bleibst allein hier unten.
Sie grinsen schal herab –
Und du erwiderst diesen Blick, bevor du weitergehst.

„They cannot scare with their empty spaces
Between stars – on stars where no human race is.
I have it in me so much nearer home
To scare myself with my own desert places.“ – Robert Frost, Desert Places.