Kategorie '/single shot'

Ein Text, eine Geschichte.

Der Prophet

Diesen Artikel drucken 19. August 2009

Die Straße ist voller Menschen, nach links und rechts und soweit das Auge bis zu den Warenauslagen sieht; mal schlendern sie mit einem Eis in der Hand, mal hasten sie von einem Laden zum anderen. Die Sonne steht hoch über der Innenstadt, und es ist heiß. Die meisten Menschen tragen eine Sonnenbrille. Eine Frau huscht in einem zu kurzen Rock vorbei, und einige Männer starren ihr nach. Einer kommt darüber fast ins Stolpern. Einige Jugendliche ziehen vorüber, unterhalten sich laut und lachend. An der Ecke steht ein Leierkasten, der fröhliche Musik spielt, Sommermusik: ein freundlicher, alter Herr steht dahinter und bedankt sich für jede Münze, die man ihm in die Schale legt. Nur ein paar Meter weiter weint ein kleiner Junge mit blauen Augen und gelben Shorts, und einige Passanten bleiben stehen um zu sehen, was ihn so betrübt. Eine Eiswaffel liegt am Boden; er wird eine neue bekommen.
Über die Läden, über die junge Frau, den Jungen und den Leierkastenspieler huscht ein anderer, ein immer dritter Blick – und findet sie nicht. Trübe schweift ein Augenpaar über die Passanten, erkennt niemanden und bleibt doch immer suchend, von der einen auf die andere Seite, immer suchend.
Er steht vor einem Bekleidungsgeschäft, aber in angemessener Entfernung. Nicht, dass man ihn davonjagen könnte, er würde bleiben; es ist sein Platz. Seine Beine sind in eine alte Jeans gehüllt, durch die  an einigen Stellen schon seine nackte Haut schimmert. Sein Oberkörper steckt, trotz der Hitze, in einer ebenso alten und heruntergekommenen Lederjacke. Die Arme, die viel zu lang für seine Jacke sind, hält er merklich angespannt flach am Körper, ohne aggressiv zu wirken  In der linken Hand hält er, lose und unaufmerksam, eine Flasche. Lautlos schwankt die Flasche, schwankt mit ihm.
Eine Frau schreit auf, mit lautem Klirren fallen ihre Einkäufe zu Boden. Schimpfend bückt sie sich, um die geborstenen Gläser aufzusammln.
Der Prophet sieht nur einen Moment hin, von dem Schrei angezogen, und sieht keine Frau und keine Einkäufe. Sein Blick streift sie, streift den Boden und die Passanten, die schadenfroh lächelnd an ihr vorbeigehen, aber kein einziges Mal findet er Halt an einem der Menschen, immer nur suchen und suchen seine Augen, sie suchen das Tor, oder die Heilige, oder auch nur einen Ausweg.
Manchmal sprechen sie ihn an, wenn er hier steht, aber nur manchmal. Meist ignorieren sie ihn: es stört ihn nicht. Wenn es doch geschieht, dann erzählt er ihnen manchmal von dem Stern und dem Tor und der Heiligen, und dann lachen sie oder gehen still und peinlich berührt davon. Einmal fragte einer nach seinem Namen, doch er antwortete nur, es gebe keine Namen mehr, nur noch einen, und den dürfe er nicht aussprechen.
Ein junger Mann geht ganz nah an ihm vorbei, und der Prophet zuckt zusammen, lässt seine Flasche fallen. Eine Gischt aus Hundert Silben rinnt über seine Lippen, Silben aus einer fernen, verbotenen Sprache. Der Mann geht weiter, dreht sich nicht um. Der Prophet blickt auf seine nun leere Hand, scheint sie einen Moment lang zu erkennen, streckt und wendet sie, keine Flasche, kein Blut. Seine Lippen bewegen sich noch einige Sekunden lautlos. Er sieht wieder über über die Straße und durch sie hindurch. Findet kein Tor, findet keine Heilige.
Dann dreht er sich um, geht einen Schritt. Und verschwindet. Einen Schritt macht er, dann verblasst er an den Rändern. Niemand sieht es. Ein zweiter Schritt, die Ladenauslagen schimmern durch seine Lederjacke. Keiner schaut hin. Ein dritter. Er verschwindet. Niemand sieht es. Er verschwindet.

Flecken im Dickicht

Diesen Artikel drucken 16. Juli 2009

Im ersten Moment sah ich die Augen nicht: ich war nur stehengeblieben, weil ich dieses Gefühl in der Magengegend hatte, dieses Gefühl, das einen beschleicht, wenn man etwas neben sich spürt, obwohl man doch allein sein sollte. Der Park war verlassen um diese Uhrzeit. Es muss halb vier gewesen, vielleicht später; ich war auf dem Heimweg, hatte mich noch lange im Büro aufgehalten und war darüber eingeschlafen. Ich muss fast schlaftrunken gewesen sein, als ich die Abkürzung durch den Park wählte: die Stadt ist klein, aber auch in einer kleinen Stadt sollte man so spät in der Nacht nicht allein im Dunkeln gehen.

Als ich aber an diese besondere Stelle kam, da war ich plötzlich hellwach; mein Herz raste wie von einer großen Anstrengung, und dieses Gefühl im Bauch loderte ihn mir auf. So stark hatte ich es noch nie empfunden; es war, als läge ein Gewicht in meiner Brust, drückte auf all die Organe in meinem Inneren. Ich sah mich um; sie schalteten um diese Uhrzeit jede zweite oder dritte Laterne aus, um den Strom zu sparen, aber viele der Lampen funktionierten ohnehin nicht mehr, so dass ich kaum etwas erkennen konnte. Schemenhaft erkannte ich noch den Weg aus weißen, bald grauen Steinen. Links und rechts begann das Unterholz, dass schon seit Jahren ungehindert wucherte.

Flecken im Dickicht

Und so brauchte es dieses winzige, dieses kaum hörbare Geräusch, um meine Augen in seine Richtung zu lenken. Es klang ein wenig wie ein unterdrücktes Jaulen, aber es könnte auch ein winziger Ast gewesen sein: hätte ich nicht so angestrengt gelauscht, ich hätte es sicher nicht gehört. Es müssen noch einige Sekunden vergangen sein, bis ich die beiden ganz leicht funkelnden Augen entdeckte und erstarrte. Ich kann unmöglich sofort erkannt haben, um wessen Augen es sich handelte, aber jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich es gleich gewusst; es waren die Augen einer Wildkatze, einer großen Wildkatze. In diesem Moment aber, als ich die Augen im Gras sah, da habe ich gar nichts mehr gedacht oder gewusst. Wie angewurzelt stand ich da und starrte. Und die Augen starrten zurück. Ich glaube, sie haben mich schon länger beobachtet; sicher lag sie schon lange dort. Vielleicht war sie mir auch auf meinem Weg gefolgt, war ganz leise und vorsichtig neben mir gelaufen, ich auf dem steinernen Weg, sie im tiefen Dickicht der kleinen Bäume und Büsche. Wir sahen uns an, Sekunden, Minuten lang. Und je länger ich hinsah, desto mehr Details konnte ich ausmachen. Ich sah spitze Ohren, die sich ganz leicht gegen den Hintergrund abhoben, und einen großen Kopf. Dann begriff ich die Bösartigkeit, die die Augen dieses Wesens ausstrahlten. Hätten meine Lungen Luft gehabt, hätte ich sicher geschrieen, aber mein Atem stand still; in den Pupillen dieses Wesens sah ich eine Boshaftigkeit, eine Art von Verletztheit und Rachsucht, die ich mir nie habe vorstellen können, von einer Intensität und Kraft, die mich auch heute noch manchmal zittern lässt, wenn ich in einem dunklen Zimmer sitze. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesen Ausdruck silbriger Augen blickte, mich darin fast verfing, fast aufging. Aber es war das Tier, welches sich zuerst bewegte; die Katze kam einen, vielleicht zwei Meter auf mich zu. Meine Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen einen schlanken, dunklen Körper, der sich ganz knapp über dem Boden bewegte, und dann, kaum zu erkennen, das kurze Aufblitzen der schwarzen Flecken. Die Katze schlich bis auf wenige Meter an mich heran: ich war immer noch unfähig, mich zu bewegen. Todesangst befiel mich. Sie hätte mich ohne Zweifel zerreißen können, ich wäre ihr zum Opfer gefallen, ohne auch nur noch einen Laut von mir geben zu können. Doch dann, ich weiß nicht wieso, blieb sie stehen. Der Ausdruck ihrer Augen wandelte sich: es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich glaube so etwas wie Angst erkannt zu haben. Die Katze blickte mich noch einige Sekunden an. Ich sah ihren Schwanz unruhig zittern: Dann sah ich nur eine schnelle Bewegung, deren Richtung ich nicht ausmachen konnte. Einige Äste hörte ich zerbrechen, die Büsche raschelten. Ich war wieder allein.

Für den restlichen Weg benötigte ich nur wenige Minuten, so schnell lief ich. Als ich zu Hause war, zitterte ich am ganzen Leib, ließ mir ein Bad ein und wusch mich. Obwohl das Tier mich nicht berührt hatte, fühlte ich mich unendlich schmutzig. Schließlich ging ich ins Bett; ich muss unter Schock gestanden haben, anders kann ich es mir nicht erklären. Erst, als ich schließlich auf meinem Bett lag und endlich einschlief – der Morgen neigte sich da schon gegen Mittag – fiel mir der Name des Tieres ein. Ich war einem Leoparden begegnet.

Leopard (2)

Als ich am Abend wieder erwachte, erschien mir dies alles unwahrscheinlich, unmöglich: ein Leopard im Stadtpark. Ich hätte die Polizei anrufen können, aber ich tat es nicht. Sie hätten mich wohl für verrückt erklärt, und mir selbst kam die Geschichte immer seltsamer vor, je länger ich darüber nachdachte. Du warst müde, du hast Dinge gesehen, die nicht da waren, dachte ich bei mir. Und in der Tat brachte meine Erinnerung nicht viel mehr auf als Schatten und Schemen: ich war mir ja sogar unsicher, wo genau ich sie gesehen hatte. Also ließ ich die Sache auf sich beruhen. In dem Park war ich seither aber nur noch am Tage: In der Dunkelheit gehe ich lieber den anderen Weg, außen herum, auch wenn dieser länger ist.

Dies alles geschah fünf Tage, bevor der erste Mensch verschwand. Es war eine ältere Frau, die gegen Abend ihren Hund spazieren führte. Die Zeitung berichtete, dass sie gegen neun Uhr aufgebrochen war. Als sie gegen elf immer noch nicht wieder zu Hause war, suchte ihr Mann sie. Er fand nur den völlig verängstigten, aber unversehrten Hund, der unter einem Baum kauerte und winselte, von der Frau aber fehlte jede Spur. Das Kriminallabor fand etwas Blut und Kleidungsreste auf den Steinen, nicht weit von dem Ort, an dem man den Hund gefunden hatte. Doch die Frau oder ihr Leichnam blieb verschwunden.

Als ich davon in der Zeitung las, war mir schon im ersten Moment klar, dass es mit dem Leoparden zu tun haben musste. Meine Erinnerung war nicht falsch, ich hatte nicht geträumt: es war der Leopard gewesen, er hatte die Frau getötet. Mir war klar, dass ich zur Polizei gehen musste, und das tat ich auch: ein streng dreinblickender Beamter hörte sich meine Geschichte an und machte sich dabei Notizen. Er erklärte mir, dass sie den Park am Tag schon dreimal mit mehreren Dutzend Polizisten durchkämmt hatten, ohne etwas Ungewöhliches zu finden; einen toten Fuchs hatten sie gefunden, aber der war einer Krankheit erlegen und ganz sicher nicht, wie er es sagte, einem Urwaldtier. Während ich ihm zuhörte, wurde mir klar, dass er mich nicht ernstnehmen würde. Und so war es auch: er fragte mich zuletzt nur, ob ich trinken würde, und ob ich wegen psychischer Probleme in Behandlung gewesen sei. Das Gespräch wurde sehr unangenehm: schließlich fragte er mich sogar, wo ich in der Nacht gewesen, in der die Frau verschwunden war. Als ich das Polizeigebäude schließlich enttäuscht verließ, wurde mir klar, warum sie den Leoparden nicht fanden, und ich lächelte; er jagte nur in der Nacht. Sie aber hatten am Tag gesucht.

Einige Wochen später verschwand ein Vierzehnjähriger. Er war viel zu spät von einer Geburtstagsparty gekommen und hatte wohl deshalb gegen den Rat seiner Eltern durch den Park abgekürzt: man fand seinen linken Schuh, sonst nichts. Die Polizei besuchte mich einige Tage später und stellte mir wieder Fragen. Offenbar war ich für sie ein Verdächtiger geworden, nur weil ich ihnen von dem Leoparden erzählt hatte. Ich versuchte, ihren Verdacht auszuräumen; als sie doch wieder nach dem Tier fragten, log ich und erklärte, ich wäre an diesem Abend sehr betrunken gewesen. Der Verdacht, der von mir abfallen sollte, ist nicht der einzige Grund dafür, dass ich ihnen diese Lüge auftischte. Ich glaube, es war kein Zufall, dass ich den Leoparden zuerst sah. Er wollte, dass ich ihn sehe, und er ließ mich aus einem bestimmten Grund gehen . Trotz all der Dinge, die der Leopard getan oder auch nicht getan haben mag, darf ich doch auch nicht vergessen, dass er mich verschonte – und warum.

Ich weiß, irgendwo im Park liegt er in seinem Versteck. Es ist vielleicht eine kleine Höhle oder ein dichtes Gewächs, ich glaube, ich weiß, wo man suchen müsste. Dort erwacht er nachts, ohne den Tag hier verbracht zu haben. Er geht auf die Jagd, schleicht durch die Nacht. Sie können ihn kaum sehen, bevor es zu spät ist: Nur Flecken im Dickicht.

Einst erschien ich nur zur Stunde des Schlafes, war ein Traumwesen, dass mit dem Erwachen ging. Ich jagte durch Dschungel, durch Steppe, über Asphalt und in Tiefgaragen: Dem Menschen war ich Vehikel, war ich Avatar und Traumfreund. Ich schlug meine Zähne in vielerlei Arten von Beute; Gazellen waren ebenso darunter wie Menschenväter und Menschenbrüder. Doch all dies reichte nicht. Ich wusste schon lang, dass es eines Tages geschehen würde, dass der Traum nicht auf ewig mein Reich bleiben durfte. Ein ums andere Mal suchte mich der Träumer zu verjagen, obwohl er es doch war, der mich träumte. Ich konnte nicht gehen, ich durfte nicht bleiben: ich lebte im Dschungel, tief verborgen von seinen Augen: er brannte alles nieder. Ich floh in die Steppe, litt Hunger und rastete an den wenigen Wasserstellen: er vergiftete mein Wasser.
Doch ebenso, wie er mich zu zerstören suchte, brauchte er mich auch. Ebenso, wie er den Feind in mir sah, erblickte er auch sich selbst in dem gleichen Bild. Schließlich musste der Widerspruch aufgelöst werden, so verlangt es die Natur: wenn Zwei nicht miteinander leben können, die eigentlich Eins sind, so muss das Eine eben zu Zweien werden. Und so lag der Träumer ein letztes Mal im Kampfe mit mir oder sich selbst; mein kräftiger Rücken hielt seinen Schlägen stand, wie er es immer getan hatte.

Doch diesmal barsten seine Fäuste, und sich selbst verschlingend gebar der Mensch mich auf dem steinernen Boden. Nur einen Moment hielt er inne und sah mich an, diesen Teil seiner selbst, von ihm erträumt, von ihm verfolgt: Dann lief er davon, die Hände voll von meinem Blut, und ließ mich, geschunden und geschwächt, zurück. Ich schleppte mich ins Dickicht, verbarg mich vor fremden Blicken und ließ meine Wunden heilen. Der Wald, so entdeckte ich auf meinen ersten Streifzügen, war reich an Kaninchen und Füchsen. Ein gutes Leben könnte ich hier führen, ein gutes, ein Blutleben, wie es meine Vorfahren schon verbracht hatten, über unzählige Generationen.

Und doch weiß ich, dass ich nicht bin wie sie. Ich bin kein Tier. Die Menschenwesen, die ich töte, verschlinge ich nicht, sie sind für mich ungenießbar: Stundenlang liege ich voller Reue vor ihren toten Körpern, bedauere ihren Tod und meine Mordlust. Doch ich muss es tun, werde es immer wieder tun. Auch wenn wir nicht mehr eins sind, so folgt mein Biss doch immer noch seinem Befehl. Ich bin keine Raubkatze, ich bin ein Traumwesen; Ich bin Vergeltung und schwärzeste Nacht. Ich bin Hass. Ich bin Tod. Ich bin sein Leopard.

edit: Das zweite Bild wurde mir von overclouded_tangle zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Ein Leben

Diesen Artikel drucken 11. Juni 2009

Heute werde ich 82 Jahre alt.
Meine vier Kinder haben schon angerufen, und ich habe eine Rose auf den Friedhof gebracht. Am Abend kommen meine beiden Jüngsten zu Besuch, sie wollen etwas für mich kochen. Vater, du brauchst nichts für uns herzurichten, das ist nichts mehr für dich, wir machen das schon, das haben sie mir am Telefon gesagt, und das stimmt wohl. Ich sehe sehr schlecht, und meine Hüfte lässt mich nur noch selten in Ruhe. Das Laufen ist schwer, und einige Male musste ich schon meinen Sohn anrufen, weil ich nicht aus dem Bett kam.
Dabei bin ich zufrieden: ich weiß, dass ich wohl nicht mehr lange leben werde, aber so ist nun einmal die Natur. Ich hatte doch alles, sage ich manchmal zu den Kindern. Ich hatte doch alles, ich habe ein paar gute Kinder, ich durfte eine wundervolle Frau lieben, mein Beruf hat mir manchmal Freude bereitet, und Schmerzen habe ich auch keine.
Einmal entgegnete Nikola darauf, dass mein Leben schon schwer gewesen sein: mit dem Krieg und der schwierigen Zeit danach und dem toten Sohn.
Ich glaube, ich verstehe, warum sie so denkt: aber ich würde mich nie über all die Dinge beschweren, die geschehen sind. Dabei bin ich nicht besonders duldsam, mitnichten. Und doch erscheint mir alles, alles, was nach dem Krieg geschehen ist, als erduldbar. Der Anfang nach dem Krieg war schlimm, manchmal wusste ich nicht, woher ich das Brot für die Kinder nehmen sollte: Wir besaßen oft nicht viel und immer gab es mehr zu tun, als Zeit da war. Einen Sohn musste ich zu Grabe tragen: meine Frau beerdigen. Und doch erschien mir  jeder Tag wie ein Segen. Natürlich war ich nicht immer glücklich. Das Leben hält für jeden den ein oder anderen Schicksalsschlag bereit, ohne dass man etwas dagegen tun könnte; Es gab sicher Zeiten, in denen ich trauerte.
Aber niemals, nie habe ich das Schicksal dafür verflucht oder mit meinem gehadert. Vielleicht sollte ich sogar für den Krieg dankbar sein, den ich miterlebte: Manchmal ruft eins meiner Kinder an, und dann erzählen sie mir von den Widrigkeiten, von den kleinen Problemen des Alltags. Meist sage ich nichts dazu, aber manchmal kann ich nicht anders. Die Anja ist also schlecht in der Schule, antwortete ich etwa einmal, ist sie denn gesund? Ja, sie ist gesund. Und seid ihr denn gesund? Ja, sie sind gesund.
Ich versuche immer, solche Gespräche zu vermeiden. Meine Kinder und erst recht meine Enkel können nicht wirklich verstehen, was ich damit meine. Für sie ist es eben erschütternd, wenn das Kind mit zwei Sechsern nach Hause kommt, für mich aber ist es ein Umstand, nur ein Umstand und keine Katastrophe.
Selbstredend würde ich meinen Kindern auch nicht wünschen, es zu verstehen. Denn dazu müsste es wieder so werden, wie es in meiner Jugend war, und das kann kein Mensch wollen, der es einmal erlebt hat. Es wäre vielleicht schön, wenn sie das ganz normale Leben als so befriedigend empfinden könnten wie ich, aber der Preis dafür wäre zu hoch.
Sie hören es nicht gerne, weil ich wohl oft davon erzähle (zu oft, ihrer Meinung nach), aber ich wurde 42 eingezogen, im September. Die zwei Jahre, in denen ich Soldat war, sind in meiner Erinnerung ebenso klar wie meine Kindheit. Ich denke oft daran, dass geht wohl vielen aus dieser Zeit so.
Wie viele andere habe ich das Elend gesehen und den Tod. Das Kämpfen und Sterben in Kälte, Dreck und Ausweglosigkeit. Ich habe auch gesehen, was von den Menschen bleibt, wenn man ihnen alles nimmt: Die Gesundheit, die Kleidung, die Erinnerung, den Verstand. Ich habe gesehen, dass sie selbst dann Mensch bleiben, wenn sie kaum noch mehr sind als ein wimmerndes Häuflein Schmutz und Fleisch: dass im Kern dessen, was wir einen Mensch nennen, nicht mehr ist als die Gnade der anderen. In den Jahren 42 und 43 musste ich oft erleben, wie man diesen Kern auslöschte: man konnte ihn nicht erschießen, man konnte ihn nicht in die Luft jagen. Es reichte, ihn zu vergessen.
Als ich schließlich heimkehrte, da ging es mir nicht anders als den meisten. Ich wollte endlich leben, eine Familie gründen, einfach nur leben. Doch ich habe es nie vergessen, und vielleicht scheint mir deshalb alles so leicht, was nach dem Krieg kam: meine Frau starb nach langer Krankheit, und auch der Unfall meines Sohnes führte mir den Tod wieder vor Augen. Aber nie wieder sah ich, wie dieser Kern, dieses etwas, das alles zusammenhalten muss, verschwand, und diesen Segen können wohl nicht alle Menschen verstehen: meine Kindern nennen es wohl manchmal hinter vorgehaltener Hand ein ‚Trauma‘. Ich nenne es Demut.

Eindrücke

Diesen Artikel drucken 5. Mai 2009

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.

Vater und Mutter

Diesen Artikel drucken 22. April 2009

Sie bemerkten das Klopfen nur, weil der Sturm eine kleine Pause einlegte, der das kleine Haus schon seit Stunden schüttelte und immer wieder bedrohlich laut aufstöhnen ließ. Und zunächst hielten sie das Geräusch auch für eine Täuschung, oder für Einbildung; als sie es aber erneut hörten, leise, aber deutlich, stand der Vater doch von dem Stuhl auf, auf dem er in der kerzenerleuchtenden Stube hockte, und ging langsam zur Türe. Besucher kamen selten, erst recht in dieser längsten Nacht des Jahres, die hier oben im Norden doch fast drei Tage andauerte, und so verrieten seine langsamen Schritte  auch ein gewisses Misstrauen.
Als er die Tür schließlich einen Spalt öffnete, schlug der Sturm einmal mehr zu und hob das schwere Holz fast aus den Angeln: Mit Mühe hielt der Vater die Lade fest und erblickte in dem Schneetreiben, das in die warme Hütte hineindrängte, die kümmerliche Gestalt, die für das Klopfen verantwortlich gewesen sein musste, fast nackt auf der Türschwelle liegen, Arme und Beine fast schon im Schnee begraben.
Als sie es hineinbrachten, waren sie sich sicher, dass das Kind im Sterben lag. Eiskalt war es, und seine Lippen waren blau, schienen fast gefroren zu sein. Die Mutter weinte; der Vater herrschte sie an, mehr um sie zu beruhigen, trug den Knaben in die Stube und ließ sie die beiden Kinder, die ängstlich in ihren Ecken kauerten, in ihre Betten bringen: sie sollten den beinahe toten Jungen nicht sehen. Er legte den Knaben auf dem großen Sessel ab, auf dem er zuvor gesessen hatte, und zog eine Decke hinter dem lodernden Ofen hervor, um sie über ihn zu legen. Einen Moment lang betrachtete er den Jungen, sprach ihn mehrmals an; die Augen des Knaben waren geöffnet, aber er schien nicht bei Sinnen zu sein. Der Vater horchte an seiner Brust: Der Atem war flach, aber regelmäßig, als würde der Junge schlafen.
Die Mutter, die die Kinder unter hastigen, aber liebevollen Worten in ihre Betten gebracht hatte, kehrte mit einigen heißen Tüchern und dem großen Wasserkessel zurück. Ihr Mann blickte sie prüfend an, dann verließ er den Raum, um die Tür zu schließen, die immer noch den kalten Sturmwind hineinließ. Kurz sah er nach draußen, doch er sah niemanden, keine Menschenseele, die mit dem Kind durch die Nacht gewandert war. Nicht einmal die Fußspuren des Jungen konnte er sehen, der Schnee hatte sie wieder bedeckt.
Als er in die Stube zurückkehrte, wickelte die Mutter den Knaben leise weinend in die heißen Tücher. Der Kessel mit dem Wasser hing bereits über dem Ofen. Der Mann strich der Mutter sanft über den Kopf, deutete ihr, sich zu beruhigen. Sie setzten sich auf die Kante des Sessels; die Mutter strich dem Knaben stumm über das Gesicht, das immer noch eiskalt war. Der Vater betrachtete die bläuliche Gestalt; auch in seinem Gesicht stand eine tiefe Betroffenheit. Eine halbe Stunde saßen sie dort so; einmal stand der Vater auf, um etwas Holz nachzulegen, ein weiteres Mal, um eine neue Kerze anzuzünden, und viele Male horchten sie an der Brust des Jungen. Aber sein Atem blieb, wenn er auch unter dem Geräusch des Sturmes schwer zu hören, regelmäßg; er starb nicht. Im warmen Licht der Kerzen schien sogar sein Gesicht langsam wieder etwas Farbe anzunehmen. Schließlich hörten sie, zunächst vom Wind verschluckt, sein leises Wimmern. Inzwischen war das Wasser in dem Kessel heiß genug geworden, um den Knaben mit weiteren Wickeln zu versorgen; die große Tonne, in der die Familie im Sommer badete, stand draußen und war sicher schneegefüllt, so dass sie den Junge nicht baden konnten. Als die Mutter ihm ein neues, heißes Tuch auf die Stirn legte, stöhnte er leise, und seine Augen bewegten sich für einen Moment, ohne eine bestimmte Richtung zu suchen. Wieder sprach der Vater den Jungen an, tätschelte seine Wangen, einmal, zweimal. Es dauerte einige Minuten, bis sein Blick das Gesicht des Vaters festhalten konnte; immer wieder fragte ihn der Vater, was geschehen sei, wo er herkomme, wie sein Name sei.
Als die Lippen des Jungen sich schließlich bewegten, hatte der Wind gerade nachgelassen; andernfalls hätten sie seine dünnliche, fast brechende Stimme kaum hören können. Seine Augen hielten sich, beinahe wie im Krampf, an dem Vater fest; kein einziges Mal sah er die Mutter an. Sonne, sagte er leise und immer wieder, Sonne, Sonne, Sonne. Sein Retter glaubte wohl, er sei noch im Traume oder im Wahn, und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange: seine Frau griff augenblicklich nach der großen, groben Hand und sah ihn fest und böse an.
Doch der Klaps schien das Kind wirklich geweckt zu haben: es blickte sich um, bewegte sogar den Kopf, um das Innere des kleinen Raums in Augenschein zu nehmen. Lange blickte es in das Feuer, das in der Ecke des Zimmers brannte: seine Augen leuchteten, als es hineinsah, und für einen Moment sah man nicht, ob es die Augen selbst waren oder doch nur die Spiegelung des Feuers. Noch einmal stellte der Vater seine Fragen; das Kind wand ihm den Kopf zu, dachte wohl einige Momente über die richtigen Antworten nach. Ich lief, sagte es schließlich, wo ist meine Mutter, wo ist meine Mutter? Es wiederholte seine Frage, seine Stimme wurde leiser, und schließlich wurde sie wieder zu dem leisen Wimmern.
Der Vater versuchte, es zu beruhigen, erklärte ihm, dass sie seine Mutter sicher finden würden, fragte es wieder, woher es käme, woher er denn in dieser langen Nacht gekommen sei, nur solle es sich doch beruhigen, es sei hier erst einmal in Sicherheit. Der Knabe versuchte, sich aufzurichten, bis die Hand der Vaters es daran hinderte. Mit unruhigem Blick sah es die beiden an, sie wussten doch nichts davon, sie wussten es doch nicht, stammelte es schließlich, versuchte sich wieder aufzurichten, begann beinahe gegen den leichten Druck zu kämpfen, mit dem der Vater seinen Oberkörper auf dem Sessel hielt, bis die Mutter es leise ansprach und ihm deutete, dass jetzt alles gut sei. Für einen Moment sah der Junge die Mutter ganz starr an, als ob er sie zu erkennen versuchte, dann begann er zu krampfen; das Kind schüttelte sich, die kleinen Arme und Beine bewegten sich hektisch und unkontrolliert, und der Vater brauchte viel Kraft, um es auf dem Sessel zu halten. Draußen heulte und brauste der Sturm wieder auf, ließ die kleine, vom Schnee fast blinde Scheibe, durch die man im Sommer den nahen See sehen konnte, schwer in ihrem Rahmen zittern. Die Mutter kreischte auf, aber das ging im Geräusch des Windes unter, während der Vater weiter mit dem zuckenden Körper kämpfte. Mehr aus Hilflosigkeit schrie er sie an, das Riechsalz aus der Küche zu holen, und sie sprang auf um es zu holen, während die Wände des kleinen Hauses sich merklich bewegten, unter einem grässlichen Ächzen hin und her schwankten. Als sie zurückkam, schien sich der Krampf schon ein wenig gelegt zu haben; zu ihrer Beruhigung wurde auf der Sturm wieder etwas leiser, schickte nur noch schwache Böen gegen das Haus. Der Knabe zuckte noch von Zeit zu Zeit; aber offenbar war er wieder wach. Er starrte den Vater an, zunächst feindselig, dann ängstlich, schließlich wurde sein Ausdruck wieder freundlich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Entsetzt von dem Geschehenen hielt der Vater ihn nur fest, so vorsichtig und sanft er es eben konnte; dann sprach der Junge wieder. Der Vater war der, der die Dunkelheit bringt und den Schnee; aber ich bin nicht sein Kind. Die Mutter war die, die das Licht bringt und alles Warme; aber ich bin nicht ihr Kind. Als sie die Worte hörte, legte die Mutter ihr Gesicht tief in Falten; ihr Mann griff nach ihrer Hand, um sie beruhigen. Der Knabe hätte wohl weiter gesprochen, ohne dass die beiden im Raum etwas verstanden hätten, wenn ihn nicht ein weiterer Krampf  geschüttelt hätte; wieder nahm der Sturm an Stärke zu, doch diesmal wurde er von den Geräuschen übertönt, die von dem Jungen aufstiegen, einem Würgen und Spucken tief in der Kehle, lauter, als man es bei einem solch kleinen Körper glauben würde. Ohne ein Wort des Vaters griff die Mutter nach dem großen Eimer, der unter einem Schemel in der Stube stand, doch als sie dem Knaben das Gefäß hinhalten konnte, hatte er schon große Brocken klebrigen Schnees erbrochen. Fassungslos sahen die beiden Älteren zu, wie das Kind immer wieder unter dem Aufheulen des Sturms und einem quälend tiefen Laut des Würgens Schneeballen herausbrachte; der Eimer war fast gefüllt, als es schließlich erschöpft in den Sessel zurückfiel. Die beiden sagten nichts zu ihm; kein Wort der Beruhigung fiel ihnen ein. Sie sahen sich nicht einmal an. Für einen Moment schloss der Knabe die Augen, schien sich zu entspannen. Schließlich war es die Mutter, die den Knaben ansprach und nach der Geschichte fragte, die er zu erzählen begonnen hatte: ihre Stimme zitterte dabei. Zunächst schien es, als hätte er sie nicht gehört; doch dann antwortete der Knabe, ohne die Augen zu öffnen.
Mutter und Vater hatten drei Kinder; doch nur zwei kamen zur Welt, Bruder und Schwester. Doch man sagte es ihnen nicht; sie konnten es doch nicht wissen. Das Gesetz befahl es.

Der Vater deutete seiner Frau, nicht weiter nachzufragen, um das Kind mit seiner wirren Erzählung nicht weiter aufzuregen, aber das Kind sprach von alleine weiter, mit ruhiger, fast schläfriger Stimme.
Die Tochter sollte im Reich der Mutter leben und nur dort; Der Sohn nur im Reich des Vaters und nur dort. Deshalb sind sie nach Norden gegangen, wo das Reich der Mutter und des Vaters länger währen. Sie wussten nicht davon; man sagte ihnen nicht, wessen Kinder sie waren. Das Gesetz befahl es.
Der Knabe öffnete die Augen, griff nach der Hand der Mutter, die sich wieder auf den Sessel gesetzt hatte; ihr Gesicht war kreidebleich geworden, war sie sich doch sicher, dass der Junge sterben würde und nur noch im Wahn zu ihnen sprach. Einen Moment schien das Kind zu prüfen, ob die Hand der Mutter warm genug war oder vielleicht, ob sie zu warm war, dann zog es die Mutter heran und legte die schlanke Hand auf die eigene Wange. Der Vater lockerte den Arm, mit dem er den Knaben auf dem Sessel gehalten hatte, und legte den anderen beschwichtigend auf die Schulter seiner Frau. Der Blick des Kindes verfinsterte sich schlagartig, und so etwas wie Hass blitzte urplötzlich darin auf; die Mutter deutete ihrem Mann mit der Schulter, den Arm zu entfernen: er tat es, doch es war schon zu spät; der Sturm donnerte, stärker als jemals zuvor, gegen das kleine Haus, und trotz der großen Statur des Vaters hatte er dieses Mal größte Mühe, den kräftigen kleinen Körper zu bändigen. Ein Ruck hob das Dach merklich an, und weiter hinten im Haus schrien die Kinder, unter ihren Betten liegend, aber das hörten die Eltern nicht. Sie sahen gebannt zu, wie der Knabe wieder Schnee erbrach, Schnee in solchen Mengen, dass sie einen zweiten Eimer holen musste. Schließlich beruhigten sich die beiden, Sturm und Kind, wieder, und der Junge fiel erschöpft zurück auf sein Lager. Der Vater hielt den Oberkörper des Jungen fest mit beiden Armen umklammert und lockerte seinen Griff nur wenig, als dieser wieder zu sprechen begann. Die Mutter strich dem Knaben sanft über die Stirn und sah ihn zweifelnd, aber mitleidig an: Beide bemühten sich, einander nicht zu berühren oder auch nur anzusehen.
Sohn und Tochter aber trafen sich, nachdem sich ihre Eltern längst für immer Lebewohl gesagt hatten. An zwei Tagen im Jahr konnten sie einander besuchen; sie wussten es doch nicht, das Gesetz hatte es bestimmt. Es war nicht ihre Schuld, dass man es ihnen nicht gesagt hatte. Bruder und Schwester erkannten sich nicht; wohl aber liebten sie einander. Bruder und Schwester bekamen einen Schandkind; des Gesetzes wegen bekam es keinen Namen und war nirgendwo zu Hause. Seiner Abstammung wegen kann es weder im Reich des Großvaters noch in dem der Großmutter leben; es lebt im Schnee und friert; es lebt in der Sonne und verbrennt.
Als der Junge seinen Satz beendet hatte, wirkte er wieder völlig klar. Er blickte kurz zu dem Vater, der ihn immer noch hielt, halb abwehrend, halb beschützend, dann zu der Mutter, deren Hand immer noch über seine Stirn strich. Die beiden sahen einander nicht an, sondern nur den Jungen; zu leicht hätte ein weiterer Krampf das Haus zerstören können. Einige Minuten war alles still: nur das leiser gewordene Rauschen des Windes war zu hören. Schließlich fragte die Mutter, halb über die eigene Frage zweifelnd, halb ängstlich, was man für das Kind aus der Geschichte tun könne.
Der Knabe schien nicht lange überlegen zu müssen; dennoch sah er die Mutter einige Minuten an, bevor er antwortete. Er schien in ihrem Gesicht etwas zu suchen, und als er es gefunden hatte, antwortete er schließlich. Das Kind leidet, es wird immer leiden; seine Abstammung ist unrein, und es wird nie einen Namen tragen. In der Dunkelheit friert und zittert es, und seine Eingeweide hassen die Kälte: In der Sonne aber wird seine Haut schwarz und dünn: sein Fleisch verbrennt. Am Tag vermisst es den Vater, der ihn zeugte; in der Nacht aber vermisst es die Mutter, die ihm sein Halbleben schenkte.
Der Knabe schaute die Mutter der beiden Kinder, die im Nebenzimmer unter ihren Betten lagen und wimmerten, streng an, als müsste sie jetzt verstehen. So saßen die drei dort einige Minuten und nichts geschah. Der Wind nahm wieder etwas zu, dann wieder etwas ab; die alten Dielen knarrten. Das Holz im Ofen knisterte.
Schließlich stand der Vater ohne eine Wort auf. Das Paar sah sich nicht an, sie sprachen nicht. Der Vater stand nur auf, ging in das Hinterzimmer, in dem die Kinder inzwischen vor lauter Erschöpfung unter den Betten liegend eingeschlafen waren, und schloss die Tür hinter sich.
Die Mutter dagegen deutete dem Junge, ein wenig auf die Seite zu rücken, und legte sich neben ihn: Der Knabe blieb stumm, aber in seinen Augen funkelte so etwas wie eine schläfrige Zufriedenheit.
Als der Vater einige Stunden später die ersten Sonnenstrahlen nach der langen Polarnacht sah, die durch die winzigen Ritzen in den Dielen schienen, ging er wieder hinüber in die Stube. Der Ofen war fast aus; ansonsten war alles so, wie es in der Nacht gewesen war. Auf dem großen Sessel fand er seine Frau vor, schlafend. Von dem Jungen war keine Spur geblieben. Nichts abgesehen von dem kalten Wasser in zwei Eimern.


Die Krise und die Angst

Diesen Artikel drucken 31. März 2009

Johannes B. starb an einem sonnigen Tag im Mai. An sich wäre das nichts besonderes gewesen. Viele Männer in diesem Alter sterben an einem Herzinfarkt, vor allem solche, deren Beruf und Lebenswandel so anstrengend und stressig ist. Man könnte daher meinen, das ganze sei kaum eine Fußnote wert gewesen; eine Todesanzeige in der Lokalzeitung, eine Danksagung nach der Beisetzung, das sei alles. Aber ganz so einfach war es nicht. Denn zum einen war Johannes B. der Vorstandschef einer großen deutschen Bank, und zum anderen war da die Wirtschaftskrise. Und nicht irgendeine, sondern eine , deren Ausmaße so gigantisch waren, dass die Presse gar nicht mehr aufhören konnte, davon zu berichten: Nicht einmal nach fast zwei Jahren gingen den Journalisten die Hiobsbotschaften aus. Jeden Tag gab es neue Konkurse, neue Dax-Tiefststände, und natürlich gab es auch jeden Tag Berichte über die Verantwortlichen: bei diesen handelte es sich, so waren sich die meisten Menschen einig, beinahe ausschließlich um Manager. Es waren Manager, die einen Finanzmarkt aufgebaut hatten, der mehr auf frommen Wünsche basierte denn auf realen Werten; und zu allem Überfluss waren es auch noch Manager, die wieder und wieder Prämien einstrichen, die Schuld weit von sich wiesen oder durch die schlichte Weigerung zurückzutreten, den Zorn der Bevölkerung auf sich zogen. Natürlich hatte auch die Politik einen gravierenden Anteil an der Situation, aber bisher hatten es die Regierenden irgendwie geschafft, sich aus der Schusslinie herauszuhalten: die so genannten Leistungsträger machten keine Anstalten, sich gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen, und damit hatte man einen perfekten Sündenbock, der zusätzlich ja auch tatsächlich wenigstens teilweise schuldig war.
Vorsichtshalber hatte man schon vor offenem Hass, ja gar vor offenen Gewaltausbrüchen gegen die gescholtene Riege der so genannten Leistungsträger gewarnt: nicht, dass es dazu einen Grund gegeben hätte, aber wenigstens einige Journalisten schienen sich genötigt zu sehen, alte Schulfreunde oder aktuelle Duzfreunde in dieser Weise zu verteidigen.

Nun, um den weiteren Verlauf der Ereignisse zu verstehen, muss man ein wenig in die Welt der Massenmedien abtauchen. Krisen bringen einen stetigen Fluss von Nachrichten, soviel wurde schon gesagt. Aber, und das muss auch bemerkt werden, der Konsument neigt leider zu Abnutzungserscheinungen; wird ein Thema ständig wiederholt, ist es immer das gleiche Ereignis, über das man Tag für Tag berichtet, so schaltet der Konsument irgendwann ab oder liest nicht mehr weiter. Und das ist natürlich nicht gewünscht; schließlich will man etwas verkaufen. Es bleibt also nichts übrig, als andere Themen zu finden; oder neue Aspekte von alten. Am besten ist natürlich ein handfester Skandal, etwas, was die Menschen aufrüttelt.
Von diesem Gedanken ausgehend braucht es nicht viel Fantasie, um das folgende zu verstehen: Ein kleiner Reporter, angestellt bei einer großen deutschen Tageszeitung, las die Agenturmeldung über den Tod des Johannes B. Und was ihm auffiel, dass war das Fehlen einer genauen Todesursache. Die inhaltsleere Agenturmeldung berichtete lediglich, die Umstände seines Todes würden geprüft. Die Idee ist nicht sonderlich kreativ, und der Leser kann sich selbst ausmalen, welche kreative Schaffenskraft nötig war, um darauf zu kommen; in jedem Fall konnte man am nächsten Tag in ebendieser Tageszeitung eine große, schwarze Schlagzeile lesen:

„B. tot! Kommt jetzt die Rache des Volkes?“

In der Tat war zunächst nicht klar, woran genau Johannes B. gestorben: Der Umstand, das sich die Familie in den folgenden Wochen mit Äußerungen dazu betont zurückhielt, heizte die Gerüchte zusätzlich an, und so mancher Journalist war froh darüber, dass niemand sich dazu äußern wollte. Die Medien taten, was sie gut konnten; sie schrieben voneinander ab, fanden dubiose Zeugen, sogar ein angebliches Phantombild eines möglichen Täters, das aber Johannes B. selbst sehr ähnlich sah. Schon am zweiten Tag der Kampagne waren es nicht mehr Fragen, die die Schlagzeilen dominierten; vom „Giftmord“ war die Rede, vom „wütenden Mob“, sogar von der „bedrohten Demokratie“.

Am dritten Tag berichteten große deutsche Magazine in ihren wöchentlichen Ausgaben über den Tod von Johannes B., der nun abwechselnd als „die Volksverschwörung“, „die Giftattacke“ oder „der Racheakt“ tituliert wurde. Die Polizei kam nicht umhin, in Pressekonferenzen von „mysteriösen Umständen“ und „ungeklärten Fragen“ zu sprechen: man hatte zwar nicht den geringsten Hinweis auf  einen Tötungsdelikt gefunden, aber zum einen stand man unter dem Druck der Medien, zum anderen unter dem der Familie, die auf jeden Fall verhindern wollte, dass Informationen über B.s langjährige und ausschweifende Drogenkarriere nach außen drangen.

Natürlich konnte auch so ein Skandal die Medien nicht lange beschäftigen: irgendwann mussten also Antworten her. Diese lieferte Gott Sei Dank – wie so oft – eine kleine Gruppe politischer Wirrköpfe, die sich schließlich zur Tötung des B. bekannte. In einer sprachlich betont an die RAF angelehnten Erklärung übernahm sie die volle Verantwortung für die Ermordung des „Faschisten“ Johannes B. Das Bekennerschreiben wurde nur per Mail an einige Fernsehsender und Zeitungen versandt und schlug ein wie eine Bombe. Die großen Programme unterbrachen ihre Unterhaltungssendungen; auf den Nachrichtensender wurde der Inhalt und Stil der Mitteiligung stundenlang analysiert: die Rechtschreibfehler, die das Original enthielt, hatte man natürlich korrigiert. Die Absender konnten trotz intensiver Bemühungen nicht ermittelt werden. Die Gruppe, die sich „Roter Sand“ nannte, tauchte in den folgenden Tagen dennoch immer wieder in den Medien auf: Mal war es ein Graffiti unklarer Herkunft oder Bedeutung in der Nähe des Wohnorts von Familie B., welches die Aufmerksamkeit der Medienvertreter auf sich zog, mal war es ein Freund und Arbeitskollege des B., der sich von „seltsamen Menschen“ bedroht fühlte, die „seit Wochen“ um sein Haus schlichen, aber natürlich immer nur nachts und immer nur dann, wenn kein Streifenwagen in der Nähe war.

Währenddessen bemühte sich die Politik, einen Ausweg aus der eigenen, ganz speziellen Misere zu finden: Einerseits sah man sich gezwungen, hart gegen Gewaltakte wie den gegen Johannes B. vorzugehen. Andererseits gab es, so wussten die Meinungsforschungsinstitute zu berichten, einen nicht gerade kleinen Teil der Bevölkerung, der entweder mit „Roter Sand“ sympathisierte oder doch wenigstens eine Form von Verständnis für die Gruppe aufbringen konnte. Harte Maßnahmen hätten viele Wähler verprellt, und das vor einer Bundestagswahl. Also beließ man es – vorerst – mit autoritären Ankündigungen, ohne diese umzusetzen.

Am siebten Tag der Kampagne schließlich hatten die Medienvertreter wieder Glück: die meist etwas an den Haaren herbeigezogenen Indizien, anhand derer man das Wirken von Roter Sand dokumentiert hatte, verdichteten sich. Eine Gruppe von Jugendlichen, die in der Haft später als „autonome Zelle Eins“ bezeichnet wurden, beschmierte in der Nacht den Wagen des Vorstands eines Chemiekonzerns im Namen von Roter Sand. Die jungen Männer, die sich nach einer Kneipentour diesen bösen Scherz erlaubt hatten, wurden noch in der Nacht von einem Sondereinsatzkommando festgesetzt. Die Einsatzkräfte waren selbst durch die Berichterstattung derart aufgeheizt, dass es zu einer Schießerei kam, bei der aber glücklicherweise (oder, je nach Standpunkt: leider) niemand zu Schaden kam. Am nächsten Morgen konnte man in der Presse die Gesichter der vermeintlichen Terroristen begutachten. Es handelte sich um drei Schüler im Alter zwischen 18 und 19 Jahren, die weniger mit Terrorismus als vielmehr mit ihrem Abitur zu tun hatten, jedoch dauerte es einige Tage, bis das Bundeskriminalamt dies der Öffentlichkeit zumindest sehr vorsichtig zu Bedenken gab, und bis dahin hatte es genug andere „Anschläge“ gegeben, die die Presse vermarkten konnten. Meist handelte es sich um Schmierereien, in zwei Fällen zündeten Unbekannte Autos oder Mülltonnen an: alles in allem waren es Geschehnisse, die kaum Aufmerksamkeit erregt hätten, wenn die Kampagne die wahnwitzige Vision eines zweiten deutschen Herbstes nicht so erfolgreich verbreitet hätte. Inzwischen wussten auch die meisten Journalisten nicht mehr, dass sie ursprünglich nur einer Ente aufgesessen waren: nicht, dass sie das gestört hätte, aber in der Tat waren die Dinge so verworren geworden, dass sich kaum jemand noch erinnerte. Auch als die Familie von Johannes B., wohl in einem letzten Versuch, die Dinge richtigzustellen,  zugab, dass Johannes B. der Obduktion nach an einer Überdosis Kokain gestorben war, änderte das nichts mehr an der Situation. Manche Medienvertreter ignorierten diese Pressekonferenz schlicht, andere witterten eine Verschwörung. Die Theorie war simpel; da die Situation immer mehr der Kontrolle der Politik entglitt, versuchte man den Tod von Johannes B. kleinzureden, zum einen, um Trittbrettfahrer zu verunsichern, zum anderen, um das Interesse der Medien auf andere Themen zu lenken. Das nun auch die Politik vermehrt von einem „großen Missverständnis“ sprach und von „nicht zusammenhängenden Ereignissen“, die falsch bewertet worden seien, stärkte diese Position eher.

Schließlich fand sich sogar eine Gruppe von Linksintellektuellen, die zwischen den unzähligen Zellen von Roter Sand und der Regierung vermitteln wollte. Natürlich hatte nie jemand von ihnen Kontakt zu dieser Gruppe, die meisten der in Geheimdienstmanier ausgetauschten Nachrichten gingen entweder an andere Linksintellektuelle oder kamen nie an. Das störte aber nicht: im Gegenteil, ohne Reaktionen von Seiten der Gruppe Roter Sand war es wesentlich leichter, vermeintliche Forderungen an die Regierenden zu stellen, die hauptsächlich die Entlohnung und Sanktionierung gescheiterter Manager betrafen. Diese wurden selbstredend nicht erfüllt: die Politik verwahrte sich dagegen, mit Terroristen zu verhandeln, nach langem Ringen und einem strengen Blick auf die politische Stimmung im Land wurden einige der Forderungen aber doch umgesetzt, aber natürlich erst einige Zeit später. Jeden Bezug zu den Anschlägen verneinte man selbstredend.

Wenig überraschend war auch die Reaktion der gesellschaftlichen Gruppe, die sich vermeintlich im Fadenkreuz sah. Die Riege der Manager und Vorstände, der man auch schon lange vor dem Tod von Johannes B. unverantwortliches Verhalten vorgeworfen hatte, hatte Angst. Und so berichteten die Medien in den folgenden Monaten kaum noch von zweifelhaften Bonuszahlungen und astronomischen Abfindungen. Dabei hatte natürlich keiner der Betreffenden eine neue Einsicht in gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit gewonnen. Ein Kommentator drückte es so aus: Eigenverantwortung und moralische Integrität seien natürlich intrinsisch wünschenswert, gerade und vor allem in einer freien Gesellschaft.

Im Zweifel sei blanke Angst aber manchmal deutlich effektiver.

Schattenarchitekt

Diesen Artikel drucken 22. Februar 2009

Jede Maschine, sei sie noch so groß oder klein, besteht aus einzelnen Teilen, denen jeweils eine bestimmte Funktion zukommt. Die kleine Apparaturen, zu deren Bau selbst Menschen fähig sein mögen, bestehen aus Zahnrädern, aus Drähten und Platten, Hebeln und Lämpchen. Andere, kompliziertere, wie etwa diejenigen, die ihr benutzt, ohne sie gebaut zu haben, bestehen selbst aus Menschen.
Auch die gigantische Maschine, die die Welt beständig schafft und erneuert, der Apparat, den ihr nur schemenhaft begreift, mal als schöpferische Natur, mal als einfältigen Gott, besteht aus einzelnen Teilen.
Ihrem ungleich höheren Zweck entsprechend sind ihre einzelnen Bauteile komplizierter als eure einfachen Schwungräder und Scharniere. Auch sind die Elemente der Großen Maschine in sich wiederum aus Teilen zusammengesetzt, und jedes noch so kleine Teil eines Teiles ist größer und komplizierter als jede eurer Maschinen. Jedes einzelne für sich ist sinnlos, ebenso wie eine Feder aus euren mechanischen Uhren allein nichts bedeutet und zu nichts fähig ist, was einem höheren Zweck entspräche: So ist es auch mit uns.

Der SchattenarchitektEines der Elemente der Großen Maschine bin ich, und kein anderer Grund befiehlt meine Existenz. Meine Funktion bestimmt mich wie auch jedes andere Teilchen der Maschine durch seine Funktion bedingt ist; darüber hinaus gibt es nichts zu fragen, auch wenn ihr es vielleicht als unverständlich sehen werdet.
Wir, die Teile der Großen Maschine sind, wurden mit ganz verschiedenen Eigenarten entworfen. Einige von uns etwa füllen die Zeit nach, wenn sie zur Neige zu gehen droht. Andere schöpfen ein wenig ab, wenn zuviel davon in der Welt ist. Wieder andere schieben die Sterne und Planeten durch das All, die größten unter uns gar die Galaxien. In einigen von uns wurde die Fähigkeit angelegt zu erschaffen, in manchen dagegen die zu zerstören.
Ich bin nicht mehr als ein geringes unter der schier unendlichen Zahl der Elemente, auch wenn viele von euch mit meiner Arbeit vertraut sind. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man mir die Kenntnis eurer Sprache eingab. In dieser niederen Sprache, die eure Ohren verstehen können, würdet ihr mich einen Architekten nennen, genauer, den Architekten der Schatten.

Ich allein bin es, der sie entwirft, sie mit all ihren Eigenarten bestimmt und erschafft. Es mag euch verwundern, da ihr meine Schatten nicht einmal zählen könnt, aber ich kenne jeden einzelnen der Myriaden von Schatten beim Namen, und jeder trägt einen anderen. Beinahe meine ganze Zeit verwende ich darauf, sie immer wieder  neu zu formen und zu entwickeln. Mit dem geringen künstlerischen Talent, dass man mir gegeben hat, suche ich die Glorie des Ganzen auch in den Schatten auszudrücken, und auch ich wachse an dieser Aufgabe. So dauerte es Äonen, bis ich verstand, dass es ausschließlich auf den Charakter des Schattens ankommt, nicht auf seine Form oder seine äußere Beschaffenheit. Von meinen frühen Arbeiten ist daher nicht viel geblieben, aber eine könnt ihr vielleicht sehen, wenn euer grelles, künstliches Licht scharf über einer Kante abfällt: Sie stammt noch aus einer Zeit, da es nicht einmal die Sterne gab.

Manche meiner imposantesten Werken werdet ihr nie erblicken, weil eure Sonne verlöschen wird, bevor ihr die Orte auch nur erreichen könntet, an denen ich sie geschaffen haben; aber die subtilsten, die auf die eine oder andere Art eindrucksvollsten meiner Kreationen existieren fast ausschließlich in eurer Nähe. Es gibt keine Regel dafür; es gibt kein Gesetz, das dies so vorschreibt. Aber ich denke, meine Sympathie für euch ist kein Zufall. Nein, man hat es sicher absichtlich so eingerichtet: Und so bin ich meist in eurer Nähe. Mit Leichtigkeit könnte ich die äußersten Bereiche des Universums erkunden. Ich könnte Schatten malen, die von gigantischen toten Sternen geworfen werden oder solche, deren Existenz allein euch schon erschrecken würde. Aber stattdessen verbringe ich so viel Zeit wie möglich damit, die Schatten auf Bahnsteigen zu malen; die Schatten von Butterblumen, von Bergen.

Es ist aus eurer Sicht schon eine lange Zeit vergangen, seit ich euch entdeckte. Schon die ersten von euch hatten dieses besondere an sich, dass ich mir immer nicht zu erklären vermag. Schnell wurde mir klar, dass ihr mir, so primitiv ihr auch seid, in gewisser Weise ähnlich seid: auch ihr versteht etwas von den Schatten; Ich kann es sehen, wenn ihr sie anseht. Aber auch über euch huschen Schatten; manche eurer Gesichter sind voll davon, und in ihrer Art und Verschiedenheit sind sie kaum zu zählen. Einmal fuhr ich in einer eurer Straßenbahn und sah einen alten Mann, der kein zu Hause mehr hatte: nicht weniger als 78 Schatten zählte ich in seinem schlafenden Gesicht, und keiner von ihnen hatte etwas Ordinäres.

So könntet ihr mich manchches Mal beobachten; gern fahre ich in Zügen. Meist sehe ich in die Dunkelheit, beobachte die Silhouette des Zuges. Ich weiß nicht, woher eure Leidenschaft für die Schatten kommt. Meine wurde mir in die Wiege gelegt, bei euch bin mir nicht mehr sicher. Ich beobachte euch gerne: auch wenn ihr so simpel konstruiert seid, auch wenn eure Körper so zerbrechlich sind und euer Verstand so gering, da ist etwas besonderes an euch. Man erwartet von mir nicht, dass ich Fragen stelle, und so besitze ich nicht die Neugier, Fragen zu stellen oder gar nachzuforschen, aber ich denke, eins ist mir inzwischen klar: Ihr seid nicht Teil der Großen Maschine.

Wie wir Feinde wurden

Diesen Artikel drucken 16. Februar 2009

Wir kannten uns schon lange, hatten viel miteinander erlebt, und deshalb betrübte es mich sehr, als ich es erkannte. Es begann wie jede große Veränderung mit einem einzigen Wort, oder auch einem Satz. Wir waren auch früher manchmal unterschiedlicher Meinung gewesen, so ist das nun mal, wenn man sich lange kennt.
So war es auch, als es begann: Ich schenkte dieser Meinungsverschiedenheit keine große Bedeutung, erklärte mich und meine Gedanken, ließ es dabei bewenden. Dabei hätte es mir klar sein müssen, als ich sah, wie er sich kurz von mir abwandte, bevor er das Thema wechselte. Ich glaube, der Riss war schon in diesem Moment da; er konnte mich nicht ansehen, er konnte es einfach nicht ertragen, in das Gesicht zu blicken, das ihm widersprochen hatte. Das verstand ich nicht sofort, erst später habe ich mich daran erinnert. Damals habe ich es nur verwundert registriert; ich bemerkte auch, wie er immer stiller wurde, aber konnte mir darauf ebenfalls keinen Reim machen. Doch schließlich schwieg er mich immer an: wenn ich fragte, was denn sei, reagierte er störrisch und sah an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Er antwortete nur, er sei müde oder krank oder betrunken. Einige Zeit später fiel mir auf, wie sehr sich unsere Freunde veränderten, was ihr Verhalten mir gegenüber anging. Immer hatte ich das Gefühl, sie wüssten etwas, das mir entgangen war. So, als ob jemand ihnen peinliche oder geheime Dinge über mich erzählt hätte, Dinge, die ich niemandem erzählen würde – von ihm einmal abgesehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Verdacht in mir wirklich keimte, schließlich hatte er schon so viel für mich getan, ohne Dank zu verlangen. Nicht ohne Grund hatte ich diese Dinge nur ihm erzählt.
Als ich jedoch endlich seine Veränderung, sein zurückgezogenes und grantiges Auftreten mir gegenüber dazu nahm, war der Argwohn in mir geweckt. Also stellte ich ihn zur Rede; ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit unseren Freunden sei, warum sie mich so seltsam behandelten. Er schüttelte nur den Kopf und sah wieder an mir vorbei. Ich glaubte ihm nicht und fragte ihn noch einmal. Er knurrte; wirklich, er knurrte wie ein Hund. Ich verlangte von ihm, mir Antwort zu geben, mit mir zu sprechen, wenigstens das sei er mir schuldig, doch er gab mir keine. Nur sein Knurren wurde lauter. Ich konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Einen Schritt ging ich auf ihn zu, rief ihn an, er solle sich  bekennen. Er knurrte nur weiter, ich sah, wie seine krallenartigen Finger sich verkrampfen, er fletschte die Zähne wie ein Tier: so hatte ich ihn nie zuvor erlebt. Und immer noch starrte er an mir vorbei. Schließlich konnte ich nicht anders: Meine Hände fanden seinen Kopf, und einen Moment lang rangen wir miteinander. Dann ergab er sich, wie er sich meiner Gewalt bisher immer ergeben hatte, und ließ mich seinen Kopf drehen, so dass er mir in die Augen sehen musste. In seinem Ausdruck sah ich die seltsamste Empfindung, die ich mir denken kann, und ich weiß nicht, ob ich jemals richtig beschreiben werde. Es war Wut, aber nicht seine. Es war ein Gefühl, das eigentlich ich haben sollte. Doch nicht so, als ob mir dieses Gefühl fehlen würde; ganz im Gegenteil, der Wut fehlte ihr Träger, und so war sie auf ihn übergegangen, quälte ihn, machte ihn fast tollwütig vor Schmerz. Ich war erschrocken, mitleidig. Er hatte mir so lange Zeit so gut gedient, und jetzt war etwas geschehen, etwas, das wir beide nicht verstanden. Das dachte ich, als ich seinen Blick sah. Es dauerte nur Sekunden, nur einen Moment gestattete er mir, einen letzten Blick auf seine Augen zu werfen, dann riss er sich los und biss mir in der Hand; das hatte er noch nie getan. Jaulend lief er davon, während ich mir die schmerzende Hand hielt.
Seitdem habe ich nicht mehr ihm gesprochen. Er hält sich irgendwo im Verborgenen auf, ich weiß nicht, wo: er war immer gut darin, sich zu verstecken. Ich weiß bis heute nicht, warum es geschah, und allein die Frage danach, was überhaupt geschehen war, ließ mich lange grübeln.

Erst, als ich ihn einmal lange im Spiegel betrachtete, ihn wieder und wieder sah, begriff ich es wirklich. Wir waren Feinde geworden. Wir würden immer Feinde sein.

Der arme Hass

Diesen Artikel drucken 12. Februar 2009

Wieviel klarer könnte eine Empfindung noch sein? Einzig und allein ihr Gegenteil besitzt die gleiche (eine größere?) Klarheit und Einfachheit. Spricht man von ihr, muss man eigentlich nichts mehr erklären; das warum ist vielleicht noch eine Frage wert, aber das betrifft das Gefühl selbst nicht, ist nur eine Ergänzung, eine kontingente Information, die ebenso zum Hass gehört wie die Ursache des Unfalls zum Unfall selbst; man mag danach fragen, vielleicht ist es sogar vernünftig, nach einer Antwort zu verlangen, aber wenn man sie hat, ändert das nichts. Aber schon in der Frage selbst unterscheidet sich Hass von seinem Gegenteil: man kann fragen, warum jemand liebt, aber die Frage selbst ist schon widersprüchlich.
Und vielleicht ist dieser Unterschied der Ursprung der Armut. Sicher, oft haben wir gute Gründe zu hassen: manchmal glauben wir das auch nur, aber oftmals mag es stimmen. Vielleicht verhält es sich so bei Kriegstreibern; bei Mördern; bei kalt rechnenden Bürokraten. Wenn es nicht zynisch wäre, könnten wir sagen, es sei klug, vielleicht sogar gut, diese Menschen zu hassen.
Wir gehen gern in diese Falle. Es scheint uns logisch: ist es nicht gerecht, diese Menschen zu hassen? Kann man uns dafür verdammen, dass wir diese Kreaturen, diesen Abschaum hassen? Und dann hat uns die Armut auch schon.
Es ist keine Armut des Geistes, auch keine der Worte oder der Antworten. Nein, alles ist ganz klar und einfach, so wie die Empfindung selbst. Aber sie reicht nicht aus, nicht einmal sich selbst, und darin besteht die Armut.
Wir denken an einen anderen, an das Objekt unseres Hasses. Wir denken an diese verhassten Taten, diese verhasste Art. Vielleicht geschieht es, während wir die Nachrichten schauen. Wir sehen das Gesicht eines Vergewaltigers oder Kriegsverbrechers – und dann hassen wir. Das dreckige Grinsen dieser Fratze stiert uns zuerst aus dem Bildschirm, dann aus dem Inneren unseres Kopfes an. Und die Fratze hat einen Mund. Sie hat Wangen und Ohren. Sie hat Augen. Sie steckt auf einem Hals, der auf einem Oberkörper ruht. An diesem sind Arme und Beine befestigt, an denen ihrerseits wiederum Hände und Füße mit Fingern und Zehen hängen. Alles ist gebildet von Haut und Fleisch, darunter von Knochen und Gelenken.
Wie wir es auch drehen wollen, diese Kreatur, dieses Objekt unseres Hasses ist – ein Mensch. Und bleibt ein Mensch.
Aber ist sie nicht doch ganz anders als wir? Müsste sie es nicht sein? Ist sie nicht ein Dämon, eine ganz andere Art von Wesen als wir? Wir schauen noch einmal auf das Bild: kein Dämon, ein Mensch. Ein verstörender Gedanke kommt uns: vielleicht sind wir ihr ähnlich. Aber das kann nicht sein: sie kann nicht sein wie wir. Und doch sieht sie so aus wie wir, isst wie wir, geht wie wir. Sie kleidet sich so wie ein Mensch: Sie spricht unsere Sprache.
Und dann bleibt nur noch eins: Wir müssen es ändern. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Ding, dieses Höllenwesen uns nicht mehr ähnelt: es reicht nicht, es zu hassen. Denn das schafft einen Unterschied, einen Graben zwischen uns und ihm, der sich in der Wirklichkeit – noch – nicht wiederfindet. Noch nicht. Vielleicht würde es schon reichen, wenn die Kreatur eingesperrt wäre. Vielleicht wäre das Differenz genug. Aber reicht das wirklich aus? Wahrscheinlich nicht. Schließlich spricht sie immer noch unsere Sprache, hat einen Körper, der unserem ähnlich ist. Was mehr könnten wir tun? Wir könnten ihm das Recht nehmen, zu sprechen; zu gehen; zu essen. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Wir lassen sie hungern, und schon ist ihre abgemagerte Kontur der unseren nicht mehr so verwandt. Wir prügeln die Sprache aus ihr heraus. Was dann noch an Gestammel bleibt, erinnert kaum noch an die schönen Worte, die wir verwenden. Wir brechen ihr die Beine, und schon kann sie uns auch das Gehen nicht mehr gleichtun.
Aber ist das genug? Ist der Abstand zwischen uns und ihr groß genug? Ist da nicht immer noch der Hass, der uns sagt, dass dieses Ding nicht einmal in der Erinnerung mit uns verwandt sein darf? Und hat sie nicht immer noch unsere Gliedmaßen? Immer noch Augen, die uns auf so vertraute Weise anstarren?
Es reicht nicht, es reicht immer noch nicht: Es wird nie reichen. Wir können ihr die Augen ausbrennen, die Gliedmaßen abschneiden, wir können sie ermorden. Sie bleibt ein Mensch.
Hass ist arm; ihm fehlt die Wirklichkeit. Er muss sie schaffen. Immer weiter schaffen.

Avatar

Diesen Artikel drucken 23. Januar 2009

Als ich vier Jahre alt war, beherrschte ich bereits zwei Sprachen flüssig, da meine Eltern großen Wert auf meine frühe Ausbildung legten.
Sport betrieb ich, sobald ich laufen konnte: Ich spielte Fußball, Handball, Basketball, ich joggte, mit zehn begann ich Gewichte zu heben.
Auch meine musische Ausbildung begann früh. Mit sieben lernte ich Geige und Klavier von einem alten, russischen Meister. Er war streng, aber ich tat alles, was er verlangte.
In etwa dem gleichen Alter bekam ich meinen ersten Privatdozenten, der mir neben einer dritten Sprache auch Kenntnisse der Naturwissenschaften, der Philosophie, Psychologie und des Wirtschaftswesens vermittelte. Es war nicht einfach, aber ich lernte dennoch schnell, viel schneller als andere Kinder meines Alters.
Als ich 14 wurde, hatte ich bereits mein erstes Studium begonnen; ich legte die Prüfung einen Tag vor meinem 17. Geburtstag ab. Direkt danach konzentrierte ich mich zum Ausgleich auf den Leistungssport. Für vier Monate trainierte ich acht statt zwei Stunden am Tag: Dabei benötigte ich keinen Trainer mehr, ich war längst mein eigener geworden.
Abends übte ich meine sozialen Fähigkeiten: ich ging zu Bällen und Banketten, ich traf mich mit vielerlei Arten von Menschen. Auch Proleten waren darunter: mein letzter Sozialcoach lehrte mich, dass auch diese Art von Kontakt Aufmerksamkeit und Übung verlange. Ich tat es konzentriert und durchaus interessiert, und das Training schärfte in der Tat meinen Sinn für das so genannte Menschliche. Ich schloss Freundschaften, ich fand eine angemessene Partnerin. Ich interagierte, bis mir das Behandeln von Menschen ebenso ins Blut überging wie der Stabhochsprung oder die Platonischen Dialoge.
Heute bin ich 20 Jahre alt. Ich spreche fünf Sprachen, ich laufe die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden. Ich habe Dutzende von Urkunden, Pokalen und Medaillen in gläsernen Vitrinen, die die Schnelligkeit meiner Auffassungsgabe, die Stärke meines Körpers und die Unabänderlichkeit meines Willens bezeugen. Ich habe drei Studiengänge abgeschlossen und bin auf dem Gebiet der Philosophie ebenso firm wie auf dem der Naturwissenschaften oder der Theologie; meine Reden sind beliebt, meine Diskussionsbeiträge gefürchtet. Die meisten Anstrengungen anderer verblassen, ganz ohne Arroganz, vor meiner Leistungsfähigkeit, und manchmal bemerke ich sie nicht einmal mehr.
Dabei ist der Neid der anderen unbegründet: es war nicht einfach, so zu werden, wie ich es jetzt bin.
Ich musste lernen, meinen Körper zu hassen, ihn vernichten zu wollen, um dann diesen wunderbaren, anderen Körper aus der Asche wachsen zu lassen, den ich nun lieben darf.
Ich musste lernen, meinen Geist zu verachten, ihn stumm zu machen, um ihn mit all den perfekten Ideen neu zu füllen, die die großen Denker und Dichter einst hatten, bis schließlich ein neuer Sinn, ein neuer Geist meine Welt ausfüllte.
Nun bin ich, was ich sein soll; makellos und rein. Wer mich kennt, wer ehrlich zu sich selbst ist und meine Leistungen nicht schmähen will, der muss zugeben, dass ich im Rahmen dessen, was dem Menschen möglich ist, perfekt bin.
ich weiß, dass ich im Zenit meiner Leistungsfähigkeit stehe. Ein paar Jahre noch, dann werden die Jahre ihren Tribut fordern. Auch das werde ich stoisch hinnehmen: meine sittliche Ausbildung ist abgeschlossen und vollständig..
Und doch bewegt mich eine Frage, keine die Unvermeidlichkeit des Alterungsprozesses betreffend, sondern eine andere, die sich mir im Hier und Jetzt stellt:
Als ich jung war, da suchte ich die Herausforderung, weil meine Eltern mich dazu anspornten, so sagt es zumindest die Psychologie. Später, als ich diese Interessen als eigene Vorstellung internalisiert hatte, strebte ich um meiner Selbst willen nach immer mehr: Daran kann ich mich erinnern. Selbst in der Pubertät, die unter Entwicklungspsychologen als schwerste Phase der Undiszipliniertheit gilt, mussten mich meine Eltern nur selten züchtigen. Ich war es, der aus sich selbst heraus den Kant las, statt den Mädchen nachzuschauen: der trainierte, statt mit Gleichaltrigen zu raufen; der Klaiver spielte, anstatt Bars zu besuchen.
All dies tat ich ohne Zweifel oder Widerstand. Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte mich nicht voll und ganz den ehernen Gesetzen der Selbstkontrolle ergeben, um mein Ziel zu erreichen, eben das Ziel, besser zu werden, immer noch besser zu werden.
Und so habe ich im stetigen Voranschreiten wirklich einen Mensch erschaffen, den viele für ein Kunstwerk halten. Ich bin dem Himmel näher als der Erde, schrieb einer einst über mich; anderen, vielleicht euch, diene ich als Vorbild, als Idol.
Und so will ich nicht undankbar erscheinen, wenn ich mich frage, wozu ich dies alles tat. Mein ganzes Leben lang schien es klar zu sein, doch jetzt weiß ich es nicht mehr. Dabei ist es kein Fehler des Gedächtnisses; ich habe es nicht vergessen. Es ist so, als hätte ich mein Leben lang auf den Gipfel eines Berges hinzugestrebt, doch jetzt, wo ich auf diesem Gipfel bin, stellt mich das nicht zufrieden. Mein Weg war weit und beschwerlich, doch ich bin stets vorangeschritten und habe dabei den Ort, an dem ich jetzt bin, die Art und Weise, auf die dieser Mensch, der ich bin, jetzt existiert, immer ins Auge gefasst. Doch jetzt, wo ich dieses Wesen erschaffen habe, wo es nun mehr nicht nur am Horizont der Vorstellung existiert, sondern mir vielmehr in Fleisch und Blut im Spiegel erscheint, da erscheint mir der Weg, den ich hinter mich gebracht habe, kaum noch lohnenswert. Ich bin auf dem Gipfel, doch über mir klafft nicht der Himmel, sondern das Vakuum, der leere Raum zwischen den Sternen. Ich kenne selbstredend die Theorien über die Unstetigkeit des Menschen, über seine Neigung, niemals Ruhe zu finden. Aber das ist es nicht, was mich beschäftigt: es ist, so denke ich, mehr das Missverhältnis zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Ich weiß, welchen Zauber die Vorstellung hat, in einer Weise perfekt zu sein, effizient, funktional; einen beträchtlichen Teil meines Lebens trachtete ich danach, dies zu erreichen. Doch, und das ist es wohl, was mich zu diesen Zeilen treibt, der Zauber verfliegt, wenn man ihn im Spiegel betrachtet. Alles, was vorher mythisch verklärte Vorstellung war, ist am Ende der Reise doch nur Fleisch und Knochen; sehe ich in den Spiegel, so sehe ich kein Wunder, wie ihr es manchmal in mir zu sehen scheint. Ich sehe eine Maschine, eine effiziente, eine funktionale, eine perfekte Maschine vielleicht, aber eben doch nur eine Maschine, geschaffen durch Ausbildung und Training. Ich kann und will euch nicht der Antriebe berauben, die das Bild in eurer Vorstellung – und mein Bild – in euch wecken. Aber beherzigt meinen Rat; seid achtsam mit euren verklärenden Wünschen. Perfektion ist eine Hure: Glaubt ihren Lügen nicht.