Ein Leben

geschrieben am 11. Juni 2009 um 22:18 Uhr

Heute werde ich 82 Jahre alt.
Meine vier Kinder haben schon angerufen, und ich habe eine Rose auf den Friedhof gebracht. Am Abend kommen meine beiden Jüngsten zu Besuch, sie wollen etwas für mich kochen. Vater, du brauchst nichts für uns herzurichten, das ist nichts mehr für dich, wir machen das schon, das haben sie mir am Telefon gesagt, und das stimmt wohl. Ich sehe sehr schlecht, und meine Hüfte lässt mich nur noch selten in Ruhe. Das Laufen ist schwer, und einige Male musste ich schon meinen Sohn anrufen, weil ich nicht aus dem Bett kam.
Dabei bin ich zufrieden: ich weiß, dass ich wohl nicht mehr lange leben werde, aber so ist nun einmal die Natur. Ich hatte doch alles, sage ich manchmal zu den Kindern. Ich hatte doch alles, ich habe ein paar gute Kinder, ich durfte eine wundervolle Frau lieben, mein Beruf hat mir manchmal Freude bereitet, und Schmerzen habe ich auch keine.
Einmal entgegnete Nikola darauf, dass mein Leben schon schwer gewesen sein: mit dem Krieg und der schwierigen Zeit danach und dem toten Sohn.
Ich glaube, ich verstehe, warum sie so denkt: aber ich würde mich nie über all die Dinge beschweren, die geschehen sind. Dabei bin ich nicht besonders duldsam, mitnichten. Und doch erscheint mir alles, alles, was nach dem Krieg geschehen ist, als erduldbar. Der Anfang nach dem Krieg war schlimm, manchmal wusste ich nicht, woher ich das Brot für die Kinder nehmen sollte: Wir besaßen oft nicht viel und immer gab es mehr zu tun, als Zeit da war. Einen Sohn musste ich zu Grabe tragen: meine Frau beerdigen. Und doch erschien mir  jeder Tag wie ein Segen. Natürlich war ich nicht immer glücklich. Das Leben hält für jeden den ein oder anderen Schicksalsschlag bereit, ohne dass man etwas dagegen tun könnte; Es gab sicher Zeiten, in denen ich trauerte.
Aber niemals, nie habe ich das Schicksal dafür verflucht oder mit meinem gehadert. Vielleicht sollte ich sogar für den Krieg dankbar sein, den ich miterlebte: Manchmal ruft eins meiner Kinder an, und dann erzählen sie mir von den Widrigkeiten, von den kleinen Problemen des Alltags. Meist sage ich nichts dazu, aber manchmal kann ich nicht anders. Die Anja ist also schlecht in der Schule, antwortete ich etwa einmal, ist sie denn gesund? Ja, sie ist gesund. Und seid ihr denn gesund? Ja, sie sind gesund.
Ich versuche immer, solche Gespräche zu vermeiden. Meine Kinder und erst recht meine Enkel können nicht wirklich verstehen, was ich damit meine. Für sie ist es eben erschütternd, wenn das Kind mit zwei Sechsern nach Hause kommt, für mich aber ist es ein Umstand, nur ein Umstand und keine Katastrophe.
Selbstredend würde ich meinen Kindern auch nicht wünschen, es zu verstehen. Denn dazu müsste es wieder so werden, wie es in meiner Jugend war, und das kann kein Mensch wollen, der es einmal erlebt hat. Es wäre vielleicht schön, wenn sie das ganz normale Leben als so befriedigend empfinden könnten wie ich, aber der Preis dafür wäre zu hoch.
Sie hören es nicht gerne, weil ich wohl oft davon erzähle (zu oft, ihrer Meinung nach), aber ich wurde 42 eingezogen, im September. Die zwei Jahre, in denen ich Soldat war, sind in meiner Erinnerung ebenso klar wie meine Kindheit. Ich denke oft daran, dass geht wohl vielen aus dieser Zeit so.
Wie viele andere habe ich das Elend gesehen und den Tod. Das Kämpfen und Sterben in Kälte, Dreck und Ausweglosigkeit. Ich habe auch gesehen, was von den Menschen bleibt, wenn man ihnen alles nimmt: Die Gesundheit, die Kleidung, die Erinnerung, den Verstand. Ich habe gesehen, dass sie selbst dann Mensch bleiben, wenn sie kaum noch mehr sind als ein wimmerndes Häuflein Schmutz und Fleisch: dass im Kern dessen, was wir einen Mensch nennen, nicht mehr ist als die Gnade der anderen. In den Jahren 42 und 43 musste ich oft erleben, wie man diesen Kern auslöschte: man konnte ihn nicht erschießen, man konnte ihn nicht in die Luft jagen. Es reichte, ihn zu vergessen.
Als ich schließlich heimkehrte, da ging es mir nicht anders als den meisten. Ich wollte endlich leben, eine Familie gründen, einfach nur leben. Doch ich habe es nie vergessen, und vielleicht scheint mir deshalb alles so leicht, was nach dem Krieg kam: meine Frau starb nach langer Krankheit, und auch der Unfall meines Sohnes führte mir den Tod wieder vor Augen. Aber nie wieder sah ich, wie dieser Kern, dieses etwas, das alles zusammenhalten muss, verschwand, und diesen Segen können wohl nicht alle Menschen verstehen: meine Kindern nennen es wohl manchmal hinter vorgehaltener Hand ein ‚Trauma‘. Ich nenne es Demut.

Slam in Göttingen

geschrieben am 31. Mai 2009 um 23:57 Uhr

Ich habe heute an einem Poetry Slam in Göttingen teilgenommen – das war ein spontaner Einfall, weshalb ich es hier auch nicht angekündigt hatte. Gelesen habe ich eine Variante von „Wie wir Feinde wurden„.

Eindrücke

geschrieben am 5. Mai 2009 um 02:38 Uhr

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.

Vater und Mutter

geschrieben am 22. April 2009 um 12:44 Uhr

Sie bemerkten das Klopfen nur, weil der Sturm eine kleine Pause einlegte, der das kleine Haus schon seit Stunden schüttelte und immer wieder bedrohlich laut aufstöhnen ließ. Und zunächst hielten sie das Geräusch auch für eine Täuschung, oder für Einbildung; als sie es aber erneut hörten, leise, aber deutlich, stand der Vater doch von dem Stuhl auf, auf dem er in der kerzenerleuchtenden Stube hockte, und ging langsam zur Türe. Besucher kamen selten, erst recht in dieser längsten Nacht des Jahres, die hier oben im Norden doch fast drei Tage andauerte, und so verrieten seine langsamen Schritte  auch ein gewisses Misstrauen.
Als er die Tür schließlich einen Spalt öffnete, schlug der Sturm einmal mehr zu und hob das schwere Holz fast aus den Angeln: Mit Mühe hielt der Vater die Lade fest und erblickte in dem Schneetreiben, das in die warme Hütte hineindrängte, die kümmerliche Gestalt, die für das Klopfen verantwortlich gewesen sein musste, fast nackt auf der Türschwelle liegen, Arme und Beine fast schon im Schnee begraben.
Als sie es hineinbrachten, waren sie sich sicher, dass das Kind im Sterben lag. Eiskalt war es, und seine Lippen waren blau, schienen fast gefroren zu sein. Die Mutter weinte; der Vater herrschte sie an, mehr um sie zu beruhigen, trug den Knaben in die Stube und ließ sie die beiden Kinder, die ängstlich in ihren Ecken kauerten, in ihre Betten bringen: sie sollten den beinahe toten Jungen nicht sehen. Er legte den Knaben auf dem großen Sessel ab, auf dem er zuvor gesessen hatte, und zog eine Decke hinter dem lodernden Ofen hervor, um sie über ihn zu legen. Einen Moment lang betrachtete er den Jungen, sprach ihn mehrmals an; die Augen des Knaben waren geöffnet, aber er schien nicht bei Sinnen zu sein. Der Vater horchte an seiner Brust: Der Atem war flach, aber regelmäßig, als würde der Junge schlafen.
Die Mutter, die die Kinder unter hastigen, aber liebevollen Worten in ihre Betten gebracht hatte, kehrte mit einigen heißen Tüchern und dem großen Wasserkessel zurück. Ihr Mann blickte sie prüfend an, dann verließ er den Raum, um die Tür zu schließen, die immer noch den kalten Sturmwind hineinließ. Kurz sah er nach draußen, doch er sah niemanden, keine Menschenseele, die mit dem Kind durch die Nacht gewandert war. Nicht einmal die Fußspuren des Jungen konnte er sehen, der Schnee hatte sie wieder bedeckt.
Als er in die Stube zurückkehrte, wickelte die Mutter den Knaben leise weinend in die heißen Tücher. Der Kessel mit dem Wasser hing bereits über dem Ofen. Der Mann strich der Mutter sanft über den Kopf, deutete ihr, sich zu beruhigen. Sie setzten sich auf die Kante des Sessels; die Mutter strich dem Knaben stumm über das Gesicht, das immer noch eiskalt war. Der Vater betrachtete die bläuliche Gestalt; auch in seinem Gesicht stand eine tiefe Betroffenheit. Eine halbe Stunde saßen sie dort so; einmal stand der Vater auf, um etwas Holz nachzulegen, ein weiteres Mal, um eine neue Kerze anzuzünden, und viele Male horchten sie an der Brust des Jungen. Aber sein Atem blieb, wenn er auch unter dem Geräusch des Sturmes schwer zu hören, regelmäßg; er starb nicht. Im warmen Licht der Kerzen schien sogar sein Gesicht langsam wieder etwas Farbe anzunehmen. Schließlich hörten sie, zunächst vom Wind verschluckt, sein leises Wimmern. Inzwischen war das Wasser in dem Kessel heiß genug geworden, um den Knaben mit weiteren Wickeln zu versorgen; die große Tonne, in der die Familie im Sommer badete, stand draußen und war sicher schneegefüllt, so dass sie den Junge nicht baden konnten. Als die Mutter ihm ein neues, heißes Tuch auf die Stirn legte, stöhnte er leise, und seine Augen bewegten sich für einen Moment, ohne eine bestimmte Richtung zu suchen. Wieder sprach der Vater den Jungen an, tätschelte seine Wangen, einmal, zweimal. Es dauerte einige Minuten, bis sein Blick das Gesicht des Vaters festhalten konnte; immer wieder fragte ihn der Vater, was geschehen sei, wo er herkomme, wie sein Name sei.
Als die Lippen des Jungen sich schließlich bewegten, hatte der Wind gerade nachgelassen; andernfalls hätten sie seine dünnliche, fast brechende Stimme kaum hören können. Seine Augen hielten sich, beinahe wie im Krampf, an dem Vater fest; kein einziges Mal sah er die Mutter an. Sonne, sagte er leise und immer wieder, Sonne, Sonne, Sonne. Sein Retter glaubte wohl, er sei noch im Traume oder im Wahn, und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange: seine Frau griff augenblicklich nach der großen, groben Hand und sah ihn fest und böse an.
Doch der Klaps schien das Kind wirklich geweckt zu haben: es blickte sich um, bewegte sogar den Kopf, um das Innere des kleinen Raums in Augenschein zu nehmen. Lange blickte es in das Feuer, das in der Ecke des Zimmers brannte: seine Augen leuchteten, als es hineinsah, und für einen Moment sah man nicht, ob es die Augen selbst waren oder doch nur die Spiegelung des Feuers. Noch einmal stellte der Vater seine Fragen; das Kind wand ihm den Kopf zu, dachte wohl einige Momente über die richtigen Antworten nach. Ich lief, sagte es schließlich, wo ist meine Mutter, wo ist meine Mutter? Es wiederholte seine Frage, seine Stimme wurde leiser, und schließlich wurde sie wieder zu dem leisen Wimmern.
Der Vater versuchte, es zu beruhigen, erklärte ihm, dass sie seine Mutter sicher finden würden, fragte es wieder, woher es käme, woher er denn in dieser langen Nacht gekommen sei, nur solle es sich doch beruhigen, es sei hier erst einmal in Sicherheit. Der Knabe versuchte, sich aufzurichten, bis die Hand der Vaters es daran hinderte. Mit unruhigem Blick sah es die beiden an, sie wussten doch nichts davon, sie wussten es doch nicht, stammelte es schließlich, versuchte sich wieder aufzurichten, begann beinahe gegen den leichten Druck zu kämpfen, mit dem der Vater seinen Oberkörper auf dem Sessel hielt, bis die Mutter es leise ansprach und ihm deutete, dass jetzt alles gut sei. Für einen Moment sah der Junge die Mutter ganz starr an, als ob er sie zu erkennen versuchte, dann begann er zu krampfen; das Kind schüttelte sich, die kleinen Arme und Beine bewegten sich hektisch und unkontrolliert, und der Vater brauchte viel Kraft, um es auf dem Sessel zu halten. Draußen heulte und brauste der Sturm wieder auf, ließ die kleine, vom Schnee fast blinde Scheibe, durch die man im Sommer den nahen See sehen konnte, schwer in ihrem Rahmen zittern. Die Mutter kreischte auf, aber das ging im Geräusch des Windes unter, während der Vater weiter mit dem zuckenden Körper kämpfte. Mehr aus Hilflosigkeit schrie er sie an, das Riechsalz aus der Küche zu holen, und sie sprang auf um es zu holen, während die Wände des kleinen Hauses sich merklich bewegten, unter einem grässlichen Ächzen hin und her schwankten. Als sie zurückkam, schien sich der Krampf schon ein wenig gelegt zu haben; zu ihrer Beruhigung wurde auf der Sturm wieder etwas leiser, schickte nur noch schwache Böen gegen das Haus. Der Knabe zuckte noch von Zeit zu Zeit; aber offenbar war er wieder wach. Er starrte den Vater an, zunächst feindselig, dann ängstlich, schließlich wurde sein Ausdruck wieder freundlich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Entsetzt von dem Geschehenen hielt der Vater ihn nur fest, so vorsichtig und sanft er es eben konnte; dann sprach der Junge wieder. Der Vater war der, der die Dunkelheit bringt und den Schnee; aber ich bin nicht sein Kind. Die Mutter war die, die das Licht bringt und alles Warme; aber ich bin nicht ihr Kind. Als sie die Worte hörte, legte die Mutter ihr Gesicht tief in Falten; ihr Mann griff nach ihrer Hand, um sie beruhigen. Der Knabe hätte wohl weiter gesprochen, ohne dass die beiden im Raum etwas verstanden hätten, wenn ihn nicht ein weiterer Krampf  geschüttelt hätte; wieder nahm der Sturm an Stärke zu, doch diesmal wurde er von den Geräuschen übertönt, die von dem Jungen aufstiegen, einem Würgen und Spucken tief in der Kehle, lauter, als man es bei einem solch kleinen Körper glauben würde. Ohne ein Wort des Vaters griff die Mutter nach dem großen Eimer, der unter einem Schemel in der Stube stand, doch als sie dem Knaben das Gefäß hinhalten konnte, hatte er schon große Brocken klebrigen Schnees erbrochen. Fassungslos sahen die beiden Älteren zu, wie das Kind immer wieder unter dem Aufheulen des Sturms und einem quälend tiefen Laut des Würgens Schneeballen herausbrachte; der Eimer war fast gefüllt, als es schließlich erschöpft in den Sessel zurückfiel. Die beiden sagten nichts zu ihm; kein Wort der Beruhigung fiel ihnen ein. Sie sahen sich nicht einmal an. Für einen Moment schloss der Knabe die Augen, schien sich zu entspannen. Schließlich war es die Mutter, die den Knaben ansprach und nach der Geschichte fragte, die er zu erzählen begonnen hatte: ihre Stimme zitterte dabei. Zunächst schien es, als hätte er sie nicht gehört; doch dann antwortete der Knabe, ohne die Augen zu öffnen.
Mutter und Vater hatten drei Kinder; doch nur zwei kamen zur Welt, Bruder und Schwester. Doch man sagte es ihnen nicht; sie konnten es doch nicht wissen. Das Gesetz befahl es.

Der Vater deutete seiner Frau, nicht weiter nachzufragen, um das Kind mit seiner wirren Erzählung nicht weiter aufzuregen, aber das Kind sprach von alleine weiter, mit ruhiger, fast schläfriger Stimme.
Die Tochter sollte im Reich der Mutter leben und nur dort; Der Sohn nur im Reich des Vaters und nur dort. Deshalb sind sie nach Norden gegangen, wo das Reich der Mutter und des Vaters länger währen. Sie wussten nicht davon; man sagte ihnen nicht, wessen Kinder sie waren. Das Gesetz befahl es.
Der Knabe öffnete die Augen, griff nach der Hand der Mutter, die sich wieder auf den Sessel gesetzt hatte; ihr Gesicht war kreidebleich geworden, war sie sich doch sicher, dass der Junge sterben würde und nur noch im Wahn zu ihnen sprach. Einen Moment schien das Kind zu prüfen, ob die Hand der Mutter warm genug war oder vielleicht, ob sie zu warm war, dann zog es die Mutter heran und legte die schlanke Hand auf die eigene Wange. Der Vater lockerte den Arm, mit dem er den Knaben auf dem Sessel gehalten hatte, und legte den anderen beschwichtigend auf die Schulter seiner Frau. Der Blick des Kindes verfinsterte sich schlagartig, und so etwas wie Hass blitzte urplötzlich darin auf; die Mutter deutete ihrem Mann mit der Schulter, den Arm zu entfernen: er tat es, doch es war schon zu spät; der Sturm donnerte, stärker als jemals zuvor, gegen das kleine Haus, und trotz der großen Statur des Vaters hatte er dieses Mal größte Mühe, den kräftigen kleinen Körper zu bändigen. Ein Ruck hob das Dach merklich an, und weiter hinten im Haus schrien die Kinder, unter ihren Betten liegend, aber das hörten die Eltern nicht. Sie sahen gebannt zu, wie der Knabe wieder Schnee erbrach, Schnee in solchen Mengen, dass sie einen zweiten Eimer holen musste. Schließlich beruhigten sich die beiden, Sturm und Kind, wieder, und der Junge fiel erschöpft zurück auf sein Lager. Der Vater hielt den Oberkörper des Jungen fest mit beiden Armen umklammert und lockerte seinen Griff nur wenig, als dieser wieder zu sprechen begann. Die Mutter strich dem Knaben sanft über die Stirn und sah ihn zweifelnd, aber mitleidig an: Beide bemühten sich, einander nicht zu berühren oder auch nur anzusehen.
Sohn und Tochter aber trafen sich, nachdem sich ihre Eltern längst für immer Lebewohl gesagt hatten. An zwei Tagen im Jahr konnten sie einander besuchen; sie wussten es doch nicht, das Gesetz hatte es bestimmt. Es war nicht ihre Schuld, dass man es ihnen nicht gesagt hatte. Bruder und Schwester erkannten sich nicht; wohl aber liebten sie einander. Bruder und Schwester bekamen einen Schandkind; des Gesetzes wegen bekam es keinen Namen und war nirgendwo zu Hause. Seiner Abstammung wegen kann es weder im Reich des Großvaters noch in dem der Großmutter leben; es lebt im Schnee und friert; es lebt in der Sonne und verbrennt.
Als der Junge seinen Satz beendet hatte, wirkte er wieder völlig klar. Er blickte kurz zu dem Vater, der ihn immer noch hielt, halb abwehrend, halb beschützend, dann zu der Mutter, deren Hand immer noch über seine Stirn strich. Die beiden sahen einander nicht an, sondern nur den Jungen; zu leicht hätte ein weiterer Krampf das Haus zerstören können. Einige Minuten war alles still: nur das leiser gewordene Rauschen des Windes war zu hören. Schließlich fragte die Mutter, halb über die eigene Frage zweifelnd, halb ängstlich, was man für das Kind aus der Geschichte tun könne.
Der Knabe schien nicht lange überlegen zu müssen; dennoch sah er die Mutter einige Minuten an, bevor er antwortete. Er schien in ihrem Gesicht etwas zu suchen, und als er es gefunden hatte, antwortete er schließlich. Das Kind leidet, es wird immer leiden; seine Abstammung ist unrein, und es wird nie einen Namen tragen. In der Dunkelheit friert und zittert es, und seine Eingeweide hassen die Kälte: In der Sonne aber wird seine Haut schwarz und dünn: sein Fleisch verbrennt. Am Tag vermisst es den Vater, der ihn zeugte; in der Nacht aber vermisst es die Mutter, die ihm sein Halbleben schenkte.
Der Knabe schaute die Mutter der beiden Kinder, die im Nebenzimmer unter ihren Betten lagen und wimmerten, streng an, als müsste sie jetzt verstehen. So saßen die drei dort einige Minuten und nichts geschah. Der Wind nahm wieder etwas zu, dann wieder etwas ab; die alten Dielen knarrten. Das Holz im Ofen knisterte.
Schließlich stand der Vater ohne eine Wort auf. Das Paar sah sich nicht an, sie sprachen nicht. Der Vater stand nur auf, ging in das Hinterzimmer, in dem die Kinder inzwischen vor lauter Erschöpfung unter den Betten liegend eingeschlafen waren, und schloss die Tür hinter sich.
Die Mutter dagegen deutete dem Junge, ein wenig auf die Seite zu rücken, und legte sich neben ihn: Der Knabe blieb stumm, aber in seinen Augen funkelte so etwas wie eine schläfrige Zufriedenheit.
Als der Vater einige Stunden später die ersten Sonnenstrahlen nach der langen Polarnacht sah, die durch die winzigen Ritzen in den Dielen schienen, ging er wieder hinüber in die Stube. Der Ofen war fast aus; ansonsten war alles so, wie es in der Nacht gewesen war. Auf dem großen Sessel fand er seine Frau vor, schlafend. Von dem Jungen war keine Spur geblieben. Nichts abgesehen von dem kalten Wasser in zwei Eimern.


Die Große Schande (5 – Finale)

geschrieben am 16. April 2009 um 10:00 Uhr

Zeitindex +15

Natürlich hörte ich mich um, befragte Arbeitskollegen und Freunde, auch meine Frau. Aber selbst sie sagte mir nicht, wie sie abstimmen würde. Ich las natürlich die streng geheimen Meinungsumfragen aus meinem Verwaltungsbezirk, aber auch die waren allenfalls vage. Es hieß darin, dass die meisten Menschen eine Antwort verweigerten, und die, die antworteten, waren gegen das Vergessen. Das überraschte mich nicht. Auch ich wusste lange nicht, wie ich abstimmen würde: Meine eigene Entscheidung fiel erst am Samstag Abend, als ich erfuhr, dass Dr. Peter Den hingerichtet worden war, wegen angeblicher Verschwörung. Meine Vermutungen und die Gerüchte, von denen ich gehört hatte, setzten sich zu einem Bild zusammen. Ich konnte mit niemandem darüber reden, aber der Tod dieses Menschen, den ich nie getroffen hatte, machte mir endlich bewusst, was geschehen würde. Es gibt keinen guten oder plausiblen Grund, weshalb ich an diesem Abend in das feindliche Lager wechselte. Ich hatte schon lange nicht mehr um Moral nachgedacht, erst recht nicht über den moralischen Wert der Wahrheit. Vielleicht ist die Art von innerem Aufruhr, die auch viele der memento-Kämpfer motivierte, auch bei mir immer schon vorhanden gewesen. Ich glaube nicht daran, dass ich gute, ethische Gründe hatte: eine Laune war es aber auch nicht. Es war eine Affinität zur Wahrheit, die mich trieb. Es ging mir nicht um die Toten, auch nicht um die Verbrechen. Der Grund, weshalb ich zu einem Mitglied von memento wurde, war nur ein Hang zur Aufrichtigkeit. Eine Art Geschmack, den die Wahrheit für mich plötzlich gewann, wo sie kurz vor ihrer Vernichtung stand.
Am Sonntag ging ich zu der Wahl. Fotografen waren da und fotografierten mich und meine Frau bei der Abgabe unserer Stimmen. Auf dem Wahlzettel kreuzte ich „Vergessen“ an und bestätigte damit, wie ein Beisatz erklärte, dass ich jegliche Maßnahmen akzeptieren und unterstützen würde, die die Regierungsstellen zur Auslöschung der Großen Schande für notwendig erachteten. Ich hatte natürlich davon erfahren, dass sowohl Namen als auch Abstimmungsverhalten aufgezeichnet wurden, damit man wusste, wer was gewählt hatte. Die Wahl war nicht nur eine Wahl, sie war bereits ein Selektionsverfahren.

Zeitindex +16

Die Große Schande (5) Das Ergebnis fiel eindeutig aus und war, soweit ich das beurteilen kann, nicht manipuliert worden. Ich weiß nicht, ob sie so etwas erwogen haben, ich denke eher nicht. Es war aber auch nicht nötig. 92,4 % der Bevölkerung stimmten für das Vergessen. Ich hatte damit gerechnet, dass der Erdbund noch einige Vorbereitungen treffen musste, aber offenbar hatte man fest mit dem Ergebnis gerechnet. Die Einsatzkräfte waren auf Abruf bereit. Um 2 Uhr morgens am 6. Dezember 2094 bekam ich einen Anruf aus dem Büro. Man überließ mir zwar die Kontrolle über die Infrastruktur,  machte mir allerdings klar, dass eine große Gruppe von Soldaten und Sonderkräften in meinem Verwaltungsbezirk mit dem Projekt begonnen hatte, und dass ich den Kommandeuren jede Unterstützung liefern sollte. Man stellte mir eine Liste zu, die einige Aufgaben benannte, die die Soldaten hatten. Darunter war etwa die Sicherstellung von allen medialen Inhalten mit Bezug auf die Große Schande, ebenso aller Dokumente mit Bezug auf den Zeitrahmen zwischen 88 bis 90. Ein anderer Punkt war das Ingewahrsamnehmen aller bekannten Mitglieder von memento und vergleichbarer Organisation, eben so das Ausfindigmachen aller Personen, die während der Zeit der Großen Schande aus welchen Gründen auch immer handlungsunfähig gewesen waren. Viele andere Zeilen in dem Dokumenten waren geschwärzt worden; selbst ich durfte nicht mehr wissen, worum es sich handelte. Mir war klar, dass man über kurz oder lang alle Menschen verhören würde, die gegen das Vergessen gestimmt hatten. Ein weitere Tätigkeit bestand in der Öffnung der vielen Massengräber, die es in meinem Verwaltungsbezirk und anderswo gab: die Leichen sollten abtransportiert werden, der Bestimmungsort war geschwärzt. Ich erfuhr ihn während meiner späteren Recherchen. Die meisten wurden im Meer versenkt, in einer Mischung aus Beton und Stahl. Nur einen Punkt auf der Liste verstand ich nicht: in Süditalien sollten riesige Mengen an Baumaterial akquiriert werden, um sie nach Norden zu bringen. Der Grund dafür wurde mir erst klar, als ich einen Satz neuer Schulbücher zugestellt bekam. Bisher hatte man in den Schulen das Thema ausgespart, und auch zu Hause wurde, soweit ich das anhand der entsprechenden Befragungsbögen ermessen konnte, nicht viel darüber gesprochen. Dieser Umstand rettete vermutlich Hunderttausenden von Kindern das Leben. Die neuen Schulbücher sprachen jedenfalls nicht von der Großen Schande, aber dafür von einem Meteoriteneinschlag von apokalyptischem Ausmaß. Der Meteorit war der neuen Geschichtsschreibung zu Folge, die ihr wahrscheinlich bisher für wahr hieltet, im Dezember 2088 in der Nähe von Zürich eingeschlagen und hatte Milliarden von Menschen getötet: Ihr Krater bildete dem Buch zu Folge das, was ihr Marquez-Rift nennt.
Als ich die Anweisungen zugestellt bekam, begann ich bereits mit meinen Recherchen. Ich tat alles, was von mir verlangt wurde. Ich versuchte nicht, Zeit zu schinden, sondern übergab alle Daten, die wir über memento hatten, auch fast alle Dokumente in Bezug auf die Große Schande und den gewünschten Zeitraum. Ich stimmte allen Maßnahmen zu, ich unterschrieb sogar Todesurteile, bis es zu viele wurden und man begann, sie maschinell zu erstellen. Das Volk hatte gesprochen, und mir war klar, dass es nicht mehr aufzuhalten war.

Zeitindex +17

Ich musste vorsichtig sein, und so kooperierte ich vollständig mit der Zentralregierung. Als Männer aus der Nachbarschaft vor der Tür standen, um mich, meine Frau und sogar meine Tochter über die Große Schande zu ‚befragen‘, hätte ich sie mit dem Hinweis auf meine Stellung abweisen können, aber ich tat es nicht. Während der Befragung gab ich sogar zu, dass ich meiner Tochter, die damals bereits 5 war, etwas von den wirklichen Ereignissen erzählt hatte. Das hätte ich nicht tun müssen, aber es bestand das Risiko, dass Widersprüche zwischen unseren Angaben einen Verdacht auf mich lenkten. Damit hatte ich die letzte Grenze überschritten; mein Verhalten mag herzlos wirken, aber früher oder später wäre es sowieso geschehen. Es reichte dem Erdbund nicht, die memento-Anhänger verschwinden zu lassen, normalerweise traf es auch die Familien. Ich hatte meine Wahl getroffen, und ohnehin, ich hatte schon einmal meine Familie im Stich gelassen. Ich tat es nun wieder, und ich empfand keine größere Reue als zuvor.
Die Sammlung von Daten erwies sich leider als schwieriger, als ich erwartet hatte. Dennoch habe ich einige genaue Angaben finden können, was die Position und Lage des ursprünglichen, des echten Kraterrandes angeht. Die kreisrunde Gestalt und die Ausdehnung wird meinen Bericht bestätigen; überprüft sie. Die Daten findet ihr am Ende des Berichts, ebenso wie genau Koordinaten der Massengräber in den Ozeanen. Ich konnte keine genauen Daten darüber finden, wie viele Menschen durch das Vergessen, durch den Erdbund zu Tode gebracht wurden. Selbst die direkte Frage danach hätte mich schon verdächtig gemacht: in meinem Verwaltungsbezirk sah ich etwa eine 200.000 geheime Todesurteile. Ich nehme an, man hat die Dokumente nach der Vollstreckung vernichtet. Auch ich werde bald zu diesen Verschwundenen gehören, wenn ich mir nicht das Leben nehme. Ich glaube, meine Frau hat bereits einen Verdacht, und vermutlich wird sie mich verraten, um unsere Tochter zu schützen. Ich kann es verstehen, auch wenn sie wissen müsste, dass sie damit auch ihr Schicksal besiegelt. Aber das bedeutet nichts; ich bin fertig mit meiner Arbeit.

Zeitindex +18

Dies ist der letzte Abschnitt meines Berichts: Die Sonde, von der ihr diese Datei erhalten habt, ist bereits fertig und liegt vor mir. Ich habe sie so konfiguriert, dass sie erst in genau 150 Jahren senden wird; falls sich ihre Lage nicht verändert, habt ihr sie in etwa 15 Metern Tiefe in einem Steinbruch bei Avaro, Sizilien gefunden. Ich habe sie selbst dort vergraben: Ich bin nicht wieder nach Italien zurückgekehrt. Die Gefahr, dass man meine Tätigkeit und die Position der Unterlagen aus mir herauspresst, ist zu groß. Es bleibt mir nicht mehr viel zu sagen: Heute ist der 12. März 2095, die Säuberung ist fast abgeschlossen. Die Menschen, die den Prozess schweigend erduldet haben, kehren langsam zu der seltsamen Art von Normalität zurück, die sie gewählt haben. Es macht ihnen nichts aus, an den seltsam leeren Häusern von Nachbarn und Verwandten vorbeizuschlendern. Nach allem, was ich erfahren konnte, funktioniert das Vergessen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dieses Projekt, diese Hoffnung auf Hoffnung zu zerstören, aber ich habe es getan.

Ihr kennt nun die Wahrheit. Lebt damit, wenn ihr könnt: Wir konnten es offenbar nicht.


Ende der Audiospur. Wechsle in den Datenbereich, Codierung binär:

[…]

Die Große Schande (4)

geschrieben am 9. April 2009 um 10:00 Uhr

Zeitindex +12

Im Sommer 94 sendeten fast alle Kanäle eine offene Diskussion über die Ereignisse der Großen Schande. Natürlich sah ich es mir an, ebenso meine Frau. Unsere Tochter hatten wir ins Bett gebracht. Wie alle anderen Dokumente aus dieser Zeit ist auch die Aufzeichnung dieser Sendung bereits zerstört, aber da es sich um eine Übertragung eines italienischen Senders handelte, konnte ich wenigstens einen Audiomitschnitt retten. Einer der Gäste, Dr. Peter Den,  sprach mit einer seltsamen Kühle über die Große Schande; Er war es, der mich verstehen ließ, was die Menschen umtrieb. Später erfuhr ich, dass er nicht an den Ausschreitungen beteiligt gewesen war. Er lag zu der Zeit, die wir Große Schande nannten, mit schweren Kopfverletzungen in einem Krankenhaus und überlebte auf wundersame Weise. Ich gebe seine Worte auszugsweise direkt wieder, die vollständige Datei findet ihr am Ende dieses Berichts:

„[…]Wir können nicht auf die Weise weitermachen, wie wir es bisher tun, Herr Ramlow. Wenn wir die unfassbaren Geschehnisse von 88 betrachten, müssen wir uns einfach eingestehen, dass jedes Konzept, jede Theorie von Menschlichkeit, die wir uns denken konnten, falsch ist. In einer Situation der Normalität, wie wir sie vor der Großen Schande hatten, funktionierten die Konstrukte, die wir uns aufgebaut haben. Aber wir müssen doch… verstehen sie, wir müssen doch einsehen, dass nichts davon wahr ist. Im Angesicht der Vernichtung haben all unsere Mechanismen, all unsere Vorstellungen versagt. Die Menschen haben sich nicht wie vernünftige Wesen verhalten, sie haben sich nicht einmal mehr wie Tiere verhalten. Sie waren unberechenbar, zerstörerisch und mordlüsternd. Und jetzt sitzen wir hier wieder in einem Fernsehstudio bei einem Glas Wein und unterhalten uns darüber, als ob das alles nicht geschehen sei. Die Menschen fühlen ganz genau, das etwas zerbrochen ist, das der Glaube der Menschheit an sich selbst erloschen ist. Die gleichen Männer und Frauen, die ihre Familien ohne jede Rücksicht auslöschten, einfach nur aus einem Impuls heraus, die ihre Nachbarn folterten und ermordeten, die sitzen nun wieder vor dem Fernseher, möglicherweise mit ihren neuen Partnern, ihren neuen Kindern. Können sie wirklich glauben, dass sie ihre Partner und Kinder lieben? Das ihre Nachbarn freundliche und zuvorkommende Wesen sind? Wie wollen wir den Begriff des zivilisierten Menschen, der Zivilisation an sich noch rechtfertigen? Wie wollen wir diese Schuld abtragen? Wir können es nicht. Sehen wir der Wahrheit ins Auge; die Große Schande hat alles, wirklich alles relativiert. Sie hat die Religion relativiert, die Moral, sie hat die Empathie als glatte Lüge herausgestellt. Wie soll denn der Mensch noch aufrichtig von der Liebe zu seinen Kindern sprechen, wenn er doch weiß, was damals geschehen ist und was jederzeit wieder geschehen könnte? [An dieser Stelle wurde er unterbrochen, ich lasse diesen Abschnitt der Aufzeichnung aus] Eine Lösung kenne ich natürlich nicht, Herr Ramlow. Aber ich denke, wir können nicht darauf setzen, dass sich das Problem mit dem Alter und letztlich dem Tod der Generation, die diese Verbrechen begangen hat, von alleine löst. Wir werden unseren Kindern erklären müssen, was geschehen ist. Und diese Kinder werden deshalb auch in unserer Welt aufwachsen, und deren Kinder ebenso. Wenn wir uns aufrichtig zu uns selbst sind, dann müssen wir das Projekt Mensch schlicht verloren geben. All die nützlichen und auf so wunderbare Weise ablenkenden Dinge, die wir seit 89 aufgebaut haben, ändern nichts daran: Der Mensch hat sich in seiner Gänze, in seinem ganzen Wesen als Monster erwiesen. Wir sind an dem Punkt, wo wir entweder ein neues Projekt beginnen oder das alte vernichten müssen. Etwas anderes bleibt uns nicht. Und ein neues Projekt kann ich mir nicht einmal denken.[…]“

Ich habe bewusst diesen Auszug gewählt; der Rest der Übertragung sah niemand mehr, weil ich per Telefon das Kommando gab, den Kanal abzuschalten. Nur Stunden, nachdem ich diesen Befehl gegeben hatte, eigentlich mehr aus einer Panik heraus als aufgrund von Kalkül oder begründeter Überlegung, wurde der italienische Zweig von memento gegründet.

Zeitindex +13

Memento begann als lose politische Gruppierung mit dem Ziel, Zensuraktionen wie die von mir angeordnete Beendigung der Übertragung zu stoppen. Von Anfang an waren sie eng mit der Church of Restauration verbunden. Ihre Ziele wandelten sich im Lauf der Zeit; bald prangerten sich nicht nur die Zensur an, sondern versuchten aktiv auch selbst die Erinnerung und die Beschäftigung mit der Großen Schande zu fördern. In Asien und Nordafrika war memento schon vor der von mir gestoppten Debatte aktiv; dort hatten die staatlichen Maßnahmen früher begonnen. Natürlich reagierte der gesamte Erdbund nervös, zumal memento sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Immer mehr Dokumentationen wurden verboten, immer mehr Ausstrahlungen verhindert. Memento druckte Flugblätter und Aufkleber, ihre Mitglieder verbreiteten Kopien von zensierten Fernsehsendungen, drehten eigene. Wir reagierten entsprechend, aber vorsichtig. Ich ließ Demonstrationen räumen, wenn sie zu einem Risiko wurden, und eine Abteilung der Verwaltung wurde von mir damit beauftragt, Flugblätter und ähnliche Druckerzeugnisse möglichst unauffällig einzuziehen. Ich muss sagen, ich wusste, das Den Recht hatte; er hatte genau das gesagt, was ich und viele andere nicht zu denken gewagt hatten. Die Große Schande würde nie vergehen, das mussten wir aufrichtig anerkennen, und die Menschen von memento erkannten das besser als viele andere. Dennoch entwickelte sich memento auch aus meiner Sicht immer mehr zu einer terroristischen Gruppe. Ihre illegalen Aktionen waren zwar harmlos, aber dennoch eben illegal. Heute denke ich, dass ich damals zu hart gegen sie vorging. Vielleicht hatten einige von ihnen schon eine Vorahnung von dem, was geschehen würde, und deshalb engagierten sie sich so: Ich dagegen wollte es vielleicht auf die eine oder andere Art nicht wahrhaben, auch wenn ich schon damals Gerüchte hörte. Ich wusste auch, dass es eine Art Konterguerilla gab, auch in Italien, die mit äußerster Brutalität die Aktivitäten von memento bekämpfte. Sie erklärten sich nie, sie übernahmen auch nie die Verantwortung für Anschläge auf Mitglieder von memento. Das Fernsehen sprach nicht von ihnen, aber ich wusste, dass es sie gab; ich wusste auch, dass der Erdbund sie unterstützte. Mir kam nicht einmal in den Sinn, es öffentlich zu machen.

Zeitindex +14

Im Oktober 98 las ich die Ankündigung für ein „offenes Gespräch über die Große Schande“, das live im Fernsehen gezeigt werden sollte. Ich war nicht darüber informiert worden, aber die höchsten Gremien des Erdbundes hatten entschieden, selbst eine solche Runde zusammenzustellen und das ganze auf allen Kanälen auszustrahlen. Auch Peter Den war eingeladen, was mich noch mehr verwunderte; ich wusste, dass er inzwischen memento angehörte. Später sagte man mir, dass 95% der Bevölkerung die Sendung verfolgten. Das war auch der Plan; möglichst alle sollten es sehen.
Ich konnte zumindest die zentralen Stelle der Debatte rekonstruieren; im wesentlichen drehte sie sich um die Frage danach, wie es weitergehen sollte, wie man mit der Großen Schande weiterleben sollte. Sie ließen Den reden, seinen Standpunkt darlegen, wie er schon in der Sendung im Juli getan hatte. Danach sprach ein Vertreter des Erdbundes:

„Herr Den, ich stimme ihnen vollkommen zu. Sie wissen genau wie ich, genau wie die Menschen dort draußen, dass die Große Schande das Ende bedeutet. Wir haben wirklich erfahren, dass Religion wertlos ist; das Vernunft eine Illusion ist. Wir haben alle gesehen, wozu wir fähig sind. Ich selbst weiß nicht einmal, wie viele Menschen ich damals getötet haben, und es nagt jeden Tag an mir. Und sie haben auch Recht, wenn sie uns vor die Wahl stellen; entweder, wir geben uns und den Menschen auf, oder wir beginnen ein ganz neues Projekt. Aber ein solches Projekt ist nicht in Sicht; es bleibt nur der Tod.
Und ich muss ihnen sagen, es überrascht mich nicht, dass sie so etwas feststellen und es Millionen von Menschen sagen können. Für sie ist das einfach; sie lagen, wie wir alle wissen, damals in einem Krankenhaus. Sie waren nicht beteiligt an der Großen Schande. Sie mögen glauben, sie laste in gewisser Hinsicht auch auf ihnen, weil auch sie ein Mensch sind, aber so einfach ist es nicht. Meine, unsere Perspektive ist eine andere. Und deshalb sehe ich als Mensch, als Täter, auch einen Ausweg, der ihnen vielleicht nicht in den Sinn kommen konnte. Ich weiß, sie halten die Tradition der Erinnerung hoch, sonst wären sie wohl kaum Mitglied in der terroristischen Vereinigung memento. Aber, so frage ich sie, was wäre, wenn wir wirklich vergessen könnten? Wenn wir dafür sorgen könnten, dass die Große Schande wenigstens für unsere Kinder nie geschehen ist?“

Ich weiß nicht genau, warum Den ihn nicht unterbrach oder das offensichtliche entgegnete; das dies nicht möglich sei, dass es zudem unaufrichtig wäre. Vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr im Studio, oder man hatte ihn massiv eingeschüchtert. Gegen Ende wandt sich der Vertreter des Erdbundes direkt an das Publikum, und was er sagte, überraschte auch mich, obwohl ich – wie gesagt – schon mehrfach Gerüchte gehört hatte:
„[…]Jedenfalls ist es möglich. Der Erdbund hat Hunderte von Experten zu Rate gezogen, und wir haben ein Ergebnis: Wir können dafür sorgen, das die Große Schande innerhalb von ein oder zwei Generationen komplett verschwindet. Es ist kein einfaches Unternehmen, aber es ist machbar. Natürlich können wir ihnen die Details nicht bekannt geben. Ihnen sollte aber klar sein, dass es viele Opfer kosten wird, und dass es auch ihnen etwas abverlangen wird. Wir können dieses Projekt nicht allein angehen; der Erdbund hat sich schon immer zur Demokratie bekannt. Deshalb findet am Sonntag in zwei Wochen eine weltweite Abstimmung statt. Es stehen nur zwei Optionen zur Wahl: Erinnerung oder Vergessen. Das ist alles. Wir geben diese Entscheidung in ihre Hände, sie haben meine Worte gehört, sie haben das schreckliche Bild von einer Zukunft gesehen, dass Herr Den ihnen gezeigt hat. Sehen sie ihre Kinder an: In was für einer Welt sollen sie aufwachsen? In was für einer Welt möchten sie mit ihren Enkeln spielen? Gehen sie in sich und stellen sie sich diese Fragen. Ich weiß, dass wir ihnen in gewisser Hinsicht ein unmoralisches Angebot machen – aber was sollte das für uns noch bedeuten? Die Terroristen von memento und anderen Organisationen möchten ihnen einreden, dass die Wahrheit, die Erinnerung wichtiger ist als das Leben, wichtiger als das Glück unserer Kinder, wichtiger als die gesunde Naivität der Menschheit. Viele von ihnen tragen wie Herr Den nicht die Schuld, die sie und ich fühlen, können nicht verstehen, was das bedeutet. Deshalb bitte ich sie, stellen sie sich diese Fragen. Fragen sie sich auch, was ihnen wichtiger erscheint: Fragen sie sich, liebe Zuschauer: Möchte ich leben oder wissen?“

Die Große Schande (3)

geschrieben am 2. April 2009 um 10:00 Uhr

Zeitindex +7

Es dauerte etwa vier oder vielleicht sechs Wochen, bis die Infrastruktur in Süditalien wieder in Betrieb genommen wurde. In anderen Gebieten der Welt mag es etwas schneller gegangen sein, aber für mindestens zwei Wochen waren wohl alle damit beschäftigt, einen fast dreiwöchigen Rausch auszuschlafen. Es ist unbekannt, wie viele Menschen sich während dieser Zeit noch das Leben nahmen und wie viele verhungerten oder verdursteten. Es scheint lediglich klar zu sein, dass ihre Zahl im Vergleich zu der der bereits Gestorbenen gering war. Meine Erinnerung setzt erst in Tropea wieder ein. Möglicherweise bin in den ganzen Weg dorthin gelaufen, ich weiß es nicht; es spielt für diesen Bericht auch nur eine untergeordnete Rolle. Als ich in Tropea zu mir kam, war die Armee dort bereits dabei, die Kontrolle zu übernehmen und wenigstens die Trinkwasserversorgung wiederherzustellen. Es waren nicht viele Soldaten, aber wir folgten ihren Befehlen. Im Verlauf des Dezembers konnten wir die Grundversorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln größtenteils wiederherstellen. Wir hoben auch Massengräber aus, verbrannten und verscharrten die Toten: Allein in Tropea müssen es weit über 2000 Gräber gewesen sein. Wir sprachen nicht über das, was geschehen war. Ich weiß nicht, wie es an anderen Orten war, aber die wenigen Menschen, mit denen ich darüber sprechen konnte, berichteten Ähnliches. Niemand stellte Fragen, weil niemand Antworten hören wollte.
Ende Januar 2089 trat erstmals die Generaladministration zusammen, ich erfuhr davon aus dem Radio. Alles, was von den nationalen Regierungen noch übrig geblieben war, sammelte sich unter diesem Begriff in London. Die Verhandlungen über eine neue, übernationale Regierung dauerten fast ein halbes Jahr und verliefen parallel zu den Wiederaufbaumaßnahmen, die sich bald auch auf die mediale Neuvernetzung der Welt richteten.

Zeitindex +8

Die ersten Bilder aus Mitteleuropa sah ich kurz nach meiner Rückkehr nach San Bartolomeo; das Haus meiner Familie war noch intakt, und ich fand sogar den Fernseher funktionstüchtig vor. Kamerateams hatten sich mit Jeeps von Süden aus auf den Weg nach Zentraleuropa gemacht, um die Zustände festzuhalten. Wie schon die Berechnungen der Astrophysiker es nahegelegt hatten, war das Gebiet nicht einfach verschwunden. Das kreisrunde Areal mit einem Durchmesser von knapp 1500 Kilometern hatte zwar an der Oberfläche viel Masse verloren, insgesamt lag es aber im Schnitt nur einen Kilometer tiefer als das Umland. Das offenliegende Gestein war größtenteils leicht verstrahlt und deformiert, aber es war noch da. So sehr ich mich auch bemüht habe, ich konnte keine Fotografie der Ebene von damals finden; sie sind scheinbar schon alle zerstört worden. Ihr kennt die Ebene, von der ich spreche, vermutlich unter dem Namen Marquez-Rift, auch wenn die ursprüngliche Form und Größe nicht mehr zu erkennen ist.
Während der Wiederaufbau voranschritt, kam es im April zu einer ersten militärischen Krise im Mittleren Osten; die ehemaligen Machthaber weigerten sich, der Generaladministration beizutreten.
Ich  richtete mich wieder in San Bartolomeo ein und kontaktierte die Arbeitskollegen, die überlebt hatten: schließlich musste ich meinen Lebensunterhalt sichern. Im Mai arbeitete ich wieder als technischer Assistent für ein Büro des ehemaligen Innenministeriums.
Das nächste Jahr über, also vom Mai 89 bis zum Mai 90, arbeitete ich sehr viel. Der Wiederaufbau war das größte Projekt in der Geschichte der Menschheit. Viele der qualifizierten Arbeitskräfte waren tot, viele technische Einrichtungen zerstört, und zudem gab es immer wieder militärische Konflikte im Zusammenhang mit der Generaladministration, vor allem in Asien und Osteuropa. Aufgrund der leichten Aufstiegschancen erreichte ich schnell eine Position, von der aus ich Zugriff auf die Daten des ehemaligen italienischen Staates hatte. Ein Großteil der Erkenntnisse, die ich hier zusammengetragen habe, stammen aus dieser Quelle.

Zeitindex +9

Es muss absolut unverständlich sein, wie wir dies alles tun konnten – wie wir ignorieren konnten, was die meisten von uns getan hatten. Wie wir die Große Schande ignorieren konnten. In diesen schrecklichen Wochen haben wir Menschen gezeigt, wozu wir fähig sind; wir haben alles Menschliche vergessen, einfach vergessen, und danach konnten wir uns nicht einmal daran erinnern. Die Frage quält auch mich; warum konnten wir einfach weiterleben?
Auch hierzu gibt es keinerlei Untersuchungen mehr, sie sind alle vernichtet worden, ich kann daher nur für mich und die Menschen sprechen, die mir davon erzählt haben, Vermutungen aufstellen. Für einige Zeit, sagen wir zwei Jahre oder auch drei, verlor ich wirklich kaum einen Gedanken an die Geschehnisse von 89. Manchmal wachte ich nachts schreiend auf, ich wurde manchmal auch von Albträumen geplagt, aber am Tage dachte ich kaum daran. Ich arbeitete in dieser Zeit kaum weniger als 12 Stunden pro Tag, auch an den Wochenende, es gab schließlich viel zu tun, für jeden: Vielleicht ist das ein Faktor, der uns verdrängen ließ. Ich weiß aus meinen Quellen, dass die Selbstmordrate unter Erwachsenen 89 und 90 immer noch weit höher war als vor der Großen Schande, aber schon 91 sanken sie deutlich. Nicht ich, aber eine russische Historikerin, mit der ich mich unterhalten konnte, stellte die Vermutung auf, dieses Phänomen sei mit dem zu vergleichen, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten gewesen sei. Ich stimme ihr insofern zu, als dass wir leben wollten; wir wollten nichts von den Taten hören. Ich hatte überlebt, ich war der eine Mensch, der statistisch gesehen überlebt hatte, während fünf andere gestorben waren. Ich hatte den sicheren Tod schon vor Augen, die Vernichtung bereits akzeptiert. Und doch war ich noch am Leben: Wir hätten nicht überleben können, wenn wir die Große Schande akzeptiert hätten. Aber wir wollten überleben, also vergaßen wir unsere Schuld. Ich denke, dieser Wunsch nach Vergessen war der Grund, warum die meisten Menschen ihren Wohnort wechselten. In San Bartolomeo war ich der einzige der alten Bewohner, der wenigstens zeitweise noch dort lebte. Alle anderen, Nachbarn, Freunde und Bekannte waren weggezogen.

Zeitindex +10

2093 war der Wiederaufbau größtenteils abgeschlossen, und in gewisser Hinsicht war es wenigstens in Italien fast so, wie es vor dem Untergang gewesen war. Alle wichtigen Ämter in dem aus der alten Generaladministration entstandenen Erdbund waren seit über einem Jahr besetzt, die letzten Konflikte in Indien und den ehemaligen USA waren beendet. Die Supermärkte füllten sich wieder mit Produkten aus aller Welt; die Geldwirtschaft kam wieder in Schwung. Die Zerstörung Mitteleuropas hatte große Industriezentren vernichtet, aber das brachte auch Vorteile mit sich. Die großflächige Abtragung hatte an einigen Stellen gigantische Erzlagerstätten freigelegt, und man war dabei, diese auszubeuten. Die Bevölkerungszahl wuchs langsam wieder an, zumindest legen das die Daten nah, die ich aus Europa bekam, ebenso war es in Nordafrika und Südamerika. Die Menschen gründeten wieder Familien; auch ich habe Ende 92 eine Arbeitskollegin geheiratet. Die großen Kirchen gehörten zwar der Vergangenheit an, aber einige evangelikale Sekten hatten überlebt und gründeten gemeinsam die Church of Restauration, die größte Religionsgemeinschaft nach der Großen Schande.
Und dann kehrten die Erinnerungen zurück. Es ist letztlich nicht genau zu klären, warum sie zurückkehrten, aber sie taten es. Es war ein schleichender Prozess, der sich zeitlich nicht genau einordnen lässt. Er war natürlich hochgradig individuell bestimmt, und bei mir dauerte es bis Mitte 94. Bei anderen müssen die Fragen früher zurückgekehrt sein.
Feststeht, dass im Januar 94 die erste Dokumentation zur Große Schande über die Kanäle lief. Journalisten aus Spanien hatten sie erstellt, ihrem eindringlichen Vorwort nach, weil es ihnen ein persönliches Bedürfnis gewesen war, über die Vergangenheit zu sprechen. Der Erdbund reagierte nicht: man ließ die Ausstrahlung geschehen. Ich denke, das ist auch ganz natürlich; die Regierungsvertreter waren genauso beteiligt, genauso betroffen wie alle anderen lebenden Menschen, und so wussten sie nicht, was sie tun sollten. Ich denke, selbst die Militärs haben an diesem Abend fassungslos auf den Fernseher gestarrt und ebenso geweint wie viele andere Menschen auch. Die Ausstrahlung führte zu einigen Selbstmorden und wenigen Ausschreitungen, aber im Großen und Ganzen waren die Menschen einfach fassungslos. In anderen Regionen der Welt mag der Film stärkere Reaktionen ausgelöst haben, aber davon weiß ich nichts. Ich war zu dieser Zeit schon stellvertretender Verwaltungschef für den Bezirk Italien/Marokko, und natürlich telefonierte ich noch an diesem Abend mit einigen Experten, befragte sie, soweit es möglich war, nach den Konsequenzen der Ausstrahlung. Man konnte mir Zahlen vorlegen, die den aufkommenden Wunsch nach Beschäftigung mit der Geschichte bestätigten. Die Dokumentation war vielleicht ein Multiplikator für das Denken einiger Menschen, sie trieb den Prozess der Bewusst-Werdens voran, aber sie war nicht der Grund für diesen Prozess, allenfalls ein Auslöser.

Zeitindex +11

Es dauerte einige Wochen, bis eine weitere Dokumentation gesendet wurde. In der Zwischenzeit wurde noch kein öffentlicher Diskurs geführt, die Menschen hatten den ersten Film gesehen, und in vielen hatte er eine Tendenz bestärkt, aber die wenigsten sprachen darüber. Ich hatte die Dokumentation mit meiner Frau zusammen angesehen, und auch wir beide waren tief betroffen; dennoch sprachen selbst wir nicht darüber, nicht über den Film, nicht darüber, wo wir zu dieser Zeit gewesen waren und was wir getan hatten.
Die zweite Dokumentation war von Anfang an als Serie ausgelegt. Ein Zirkel um die Produzenten herum gehörte, so erfuhr ich später, zur Church of Restauration, und wahrscheinlich hatten sie auch ein originär religiöses Interesse an der Thematik. Jedenfalls ging die Serie sehr viel mehr ins Detail. Sie zeigten sogar eine Aufnahme aus Tropea, allerdings vor meiner Ankunft; das verwackelte Foto, offenbar mit einer digitalen Kamera aufgenommen, zeigte Leichen und eine brennende Tankstelle. Man erwog schon zu dieser Zeit, weitere Ausstrahlungen zu unterbinden, doch die Administration zögerte: das Interesse an den Geschehnissen zog sich durch alle Gesellschaftsschichten und machte auch vor den Ministerien nicht halt. Auch in meinem Stab wurde darüber diskutiert, die Sender abzuschalten, aber ich lehnte es noch ab.
Letztlich war es unvermeidlich, dass die Menschen irgendwann über die Vergangenheit sprachen; der Charakter der Dokumentationen veränderte sich entsprechend. Es waren nicht mehr nur kommentierte Bildfolgen, immer häufiger wurden Psychologen interviewt und Menschen nach ihren Taten befragt. Die Stimmung kippte langsam; auch ich bemerkte, wie ich immer nachdenklicher wurde. Immer seltener sah ich Menschen lächeln: die Statistiken von damals belegten den Stimmungswandel. Ein Psychologe aus meinem Stab erklärte mir, das die Menschen sich in einem seltsamen Zwiespalt befanden. Einerseits zwang sie etwas, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen; andererseits führte die Beschäftigung zu einer Art von Unzufriedenheit, die kaum zu überwinden war. Ich verstand damals nicht gleich, was er meinte, auch deshalb, weil mich persönlich diese Unzufriedenheit noch nicht wirklich ganz erfasst hatte. Deshalb hatte ich mir auch noch keine Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkungen das ganze haben würde. Jedoch denke ich, dass die Lösung für all dies schon damals in einigen Köpfen schlummerte.

Die Krise und die Angst

geschrieben am 31. März 2009 um 15:17 Uhr

Johannes B. starb an einem sonnigen Tag im Mai. An sich wäre das nichts besonderes gewesen. Viele Männer in diesem Alter sterben an einem Herzinfarkt, vor allem solche, deren Beruf und Lebenswandel so anstrengend und stressig ist. Man könnte daher meinen, das ganze sei kaum eine Fußnote wert gewesen; eine Todesanzeige in der Lokalzeitung, eine Danksagung nach der Beisetzung, das sei alles. Aber ganz so einfach war es nicht. Denn zum einen war Johannes B. der Vorstandschef einer großen deutschen Bank, und zum anderen war da die Wirtschaftskrise. Und nicht irgendeine, sondern eine , deren Ausmaße so gigantisch waren, dass die Presse gar nicht mehr aufhören konnte, davon zu berichten: Nicht einmal nach fast zwei Jahren gingen den Journalisten die Hiobsbotschaften aus. Jeden Tag gab es neue Konkurse, neue Dax-Tiefststände, und natürlich gab es auch jeden Tag Berichte über die Verantwortlichen: bei diesen handelte es sich, so waren sich die meisten Menschen einig, beinahe ausschließlich um Manager. Es waren Manager, die einen Finanzmarkt aufgebaut hatten, der mehr auf frommen Wünsche basierte denn auf realen Werten; und zu allem Überfluss waren es auch noch Manager, die wieder und wieder Prämien einstrichen, die Schuld weit von sich wiesen oder durch die schlichte Weigerung zurückzutreten, den Zorn der Bevölkerung auf sich zogen. Natürlich hatte auch die Politik einen gravierenden Anteil an der Situation, aber bisher hatten es die Regierenden irgendwie geschafft, sich aus der Schusslinie herauszuhalten: die so genannten Leistungsträger machten keine Anstalten, sich gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen, und damit hatte man einen perfekten Sündenbock, der zusätzlich ja auch tatsächlich wenigstens teilweise schuldig war.
Vorsichtshalber hatte man schon vor offenem Hass, ja gar vor offenen Gewaltausbrüchen gegen die gescholtene Riege der so genannten Leistungsträger gewarnt: nicht, dass es dazu einen Grund gegeben hätte, aber wenigstens einige Journalisten schienen sich genötigt zu sehen, alte Schulfreunde oder aktuelle Duzfreunde in dieser Weise zu verteidigen.

Nun, um den weiteren Verlauf der Ereignisse zu verstehen, muss man ein wenig in die Welt der Massenmedien abtauchen. Krisen bringen einen stetigen Fluss von Nachrichten, soviel wurde schon gesagt. Aber, und das muss auch bemerkt werden, der Konsument neigt leider zu Abnutzungserscheinungen; wird ein Thema ständig wiederholt, ist es immer das gleiche Ereignis, über das man Tag für Tag berichtet, so schaltet der Konsument irgendwann ab oder liest nicht mehr weiter. Und das ist natürlich nicht gewünscht; schließlich will man etwas verkaufen. Es bleibt also nichts übrig, als andere Themen zu finden; oder neue Aspekte von alten. Am besten ist natürlich ein handfester Skandal, etwas, was die Menschen aufrüttelt.
Von diesem Gedanken ausgehend braucht es nicht viel Fantasie, um das folgende zu verstehen: Ein kleiner Reporter, angestellt bei einer großen deutschen Tageszeitung, las die Agenturmeldung über den Tod des Johannes B. Und was ihm auffiel, dass war das Fehlen einer genauen Todesursache. Die inhaltsleere Agenturmeldung berichtete lediglich, die Umstände seines Todes würden geprüft. Die Idee ist nicht sonderlich kreativ, und der Leser kann sich selbst ausmalen, welche kreative Schaffenskraft nötig war, um darauf zu kommen; in jedem Fall konnte man am nächsten Tag in ebendieser Tageszeitung eine große, schwarze Schlagzeile lesen:

„B. tot! Kommt jetzt die Rache des Volkes?“

In der Tat war zunächst nicht klar, woran genau Johannes B. gestorben: Der Umstand, das sich die Familie in den folgenden Wochen mit Äußerungen dazu betont zurückhielt, heizte die Gerüchte zusätzlich an, und so mancher Journalist war froh darüber, dass niemand sich dazu äußern wollte. Die Medien taten, was sie gut konnten; sie schrieben voneinander ab, fanden dubiose Zeugen, sogar ein angebliches Phantombild eines möglichen Täters, das aber Johannes B. selbst sehr ähnlich sah. Schon am zweiten Tag der Kampagne waren es nicht mehr Fragen, die die Schlagzeilen dominierten; vom „Giftmord“ war die Rede, vom „wütenden Mob“, sogar von der „bedrohten Demokratie“.

Am dritten Tag berichteten große deutsche Magazine in ihren wöchentlichen Ausgaben über den Tod von Johannes B., der nun abwechselnd als „die Volksverschwörung“, „die Giftattacke“ oder „der Racheakt“ tituliert wurde. Die Polizei kam nicht umhin, in Pressekonferenzen von „mysteriösen Umständen“ und „ungeklärten Fragen“ zu sprechen: man hatte zwar nicht den geringsten Hinweis auf  einen Tötungsdelikt gefunden, aber zum einen stand man unter dem Druck der Medien, zum anderen unter dem der Familie, die auf jeden Fall verhindern wollte, dass Informationen über B.s langjährige und ausschweifende Drogenkarriere nach außen drangen.

Natürlich konnte auch so ein Skandal die Medien nicht lange beschäftigen: irgendwann mussten also Antworten her. Diese lieferte Gott Sei Dank – wie so oft – eine kleine Gruppe politischer Wirrköpfe, die sich schließlich zur Tötung des B. bekannte. In einer sprachlich betont an die RAF angelehnten Erklärung übernahm sie die volle Verantwortung für die Ermordung des „Faschisten“ Johannes B. Das Bekennerschreiben wurde nur per Mail an einige Fernsehsender und Zeitungen versandt und schlug ein wie eine Bombe. Die großen Programme unterbrachen ihre Unterhaltungssendungen; auf den Nachrichtensender wurde der Inhalt und Stil der Mitteiligung stundenlang analysiert: die Rechtschreibfehler, die das Original enthielt, hatte man natürlich korrigiert. Die Absender konnten trotz intensiver Bemühungen nicht ermittelt werden. Die Gruppe, die sich „Roter Sand“ nannte, tauchte in den folgenden Tagen dennoch immer wieder in den Medien auf: Mal war es ein Graffiti unklarer Herkunft oder Bedeutung in der Nähe des Wohnorts von Familie B., welches die Aufmerksamkeit der Medienvertreter auf sich zog, mal war es ein Freund und Arbeitskollege des B., der sich von „seltsamen Menschen“ bedroht fühlte, die „seit Wochen“ um sein Haus schlichen, aber natürlich immer nur nachts und immer nur dann, wenn kein Streifenwagen in der Nähe war.

Währenddessen bemühte sich die Politik, einen Ausweg aus der eigenen, ganz speziellen Misere zu finden: Einerseits sah man sich gezwungen, hart gegen Gewaltakte wie den gegen Johannes B. vorzugehen. Andererseits gab es, so wussten die Meinungsforschungsinstitute zu berichten, einen nicht gerade kleinen Teil der Bevölkerung, der entweder mit „Roter Sand“ sympathisierte oder doch wenigstens eine Form von Verständnis für die Gruppe aufbringen konnte. Harte Maßnahmen hätten viele Wähler verprellt, und das vor einer Bundestagswahl. Also beließ man es – vorerst – mit autoritären Ankündigungen, ohne diese umzusetzen.

Am siebten Tag der Kampagne schließlich hatten die Medienvertreter wieder Glück: die meist etwas an den Haaren herbeigezogenen Indizien, anhand derer man das Wirken von Roter Sand dokumentiert hatte, verdichteten sich. Eine Gruppe von Jugendlichen, die in der Haft später als „autonome Zelle Eins“ bezeichnet wurden, beschmierte in der Nacht den Wagen des Vorstands eines Chemiekonzerns im Namen von Roter Sand. Die jungen Männer, die sich nach einer Kneipentour diesen bösen Scherz erlaubt hatten, wurden noch in der Nacht von einem Sondereinsatzkommando festgesetzt. Die Einsatzkräfte waren selbst durch die Berichterstattung derart aufgeheizt, dass es zu einer Schießerei kam, bei der aber glücklicherweise (oder, je nach Standpunkt: leider) niemand zu Schaden kam. Am nächsten Morgen konnte man in der Presse die Gesichter der vermeintlichen Terroristen begutachten. Es handelte sich um drei Schüler im Alter zwischen 18 und 19 Jahren, die weniger mit Terrorismus als vielmehr mit ihrem Abitur zu tun hatten, jedoch dauerte es einige Tage, bis das Bundeskriminalamt dies der Öffentlichkeit zumindest sehr vorsichtig zu Bedenken gab, und bis dahin hatte es genug andere „Anschläge“ gegeben, die die Presse vermarkten konnten. Meist handelte es sich um Schmierereien, in zwei Fällen zündeten Unbekannte Autos oder Mülltonnen an: alles in allem waren es Geschehnisse, die kaum Aufmerksamkeit erregt hätten, wenn die Kampagne die wahnwitzige Vision eines zweiten deutschen Herbstes nicht so erfolgreich verbreitet hätte. Inzwischen wussten auch die meisten Journalisten nicht mehr, dass sie ursprünglich nur einer Ente aufgesessen waren: nicht, dass sie das gestört hätte, aber in der Tat waren die Dinge so verworren geworden, dass sich kaum jemand noch erinnerte. Auch als die Familie von Johannes B., wohl in einem letzten Versuch, die Dinge richtigzustellen,  zugab, dass Johannes B. der Obduktion nach an einer Überdosis Kokain gestorben war, änderte das nichts mehr an der Situation. Manche Medienvertreter ignorierten diese Pressekonferenz schlicht, andere witterten eine Verschwörung. Die Theorie war simpel; da die Situation immer mehr der Kontrolle der Politik entglitt, versuchte man den Tod von Johannes B. kleinzureden, zum einen, um Trittbrettfahrer zu verunsichern, zum anderen, um das Interesse der Medien auf andere Themen zu lenken. Das nun auch die Politik vermehrt von einem „großen Missverständnis“ sprach und von „nicht zusammenhängenden Ereignissen“, die falsch bewertet worden seien, stärkte diese Position eher.

Schließlich fand sich sogar eine Gruppe von Linksintellektuellen, die zwischen den unzähligen Zellen von Roter Sand und der Regierung vermitteln wollte. Natürlich hatte nie jemand von ihnen Kontakt zu dieser Gruppe, die meisten der in Geheimdienstmanier ausgetauschten Nachrichten gingen entweder an andere Linksintellektuelle oder kamen nie an. Das störte aber nicht: im Gegenteil, ohne Reaktionen von Seiten der Gruppe Roter Sand war es wesentlich leichter, vermeintliche Forderungen an die Regierenden zu stellen, die hauptsächlich die Entlohnung und Sanktionierung gescheiterter Manager betrafen. Diese wurden selbstredend nicht erfüllt: die Politik verwahrte sich dagegen, mit Terroristen zu verhandeln, nach langem Ringen und einem strengen Blick auf die politische Stimmung im Land wurden einige der Forderungen aber doch umgesetzt, aber natürlich erst einige Zeit später. Jeden Bezug zu den Anschlägen verneinte man selbstredend.

Wenig überraschend war auch die Reaktion der gesellschaftlichen Gruppe, die sich vermeintlich im Fadenkreuz sah. Die Riege der Manager und Vorstände, der man auch schon lange vor dem Tod von Johannes B. unverantwortliches Verhalten vorgeworfen hatte, hatte Angst. Und so berichteten die Medien in den folgenden Monaten kaum noch von zweifelhaften Bonuszahlungen und astronomischen Abfindungen. Dabei hatte natürlich keiner der Betreffenden eine neue Einsicht in gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit gewonnen. Ein Kommentator drückte es so aus: Eigenverantwortung und moralische Integrität seien natürlich intrinsisch wünschenswert, gerade und vor allem in einer freien Gesellschaft.

Im Zweifel sei blanke Angst aber manchmal deutlich effektiver.

Die Große Schande (2)

geschrieben am 25. März 2009 um 10:00 Uhr

Liebe Leser, auf Anregung Dritter werde ich die weitere Veröffentlichung etwas verzögern: jeden Tag um die 1000 Worte sind wohl auch etwas viel. Daher erscheint der dritte Abschnitt von „Die Große Schande“ am nächsten Donnerstag und dann jeweils wöchentlich.

Zeitindex +4

Als ich das Radio einschaltete, hatte das Töten schon begonnen. Irgendein Korrespondent berichtete gehetzt von den Ausschreitungen in einer Kleinstadt bei Barcelona. Heute glauben viele, dass die Medienberichten in den ersten Stunden als eine Art Multiplikator gewirkt haben müssen, denn schließlich schlugen nicht alle zugleich los; manche taten es sofort, bei anderen dauerte es einige Stunden; letztlich erreichte es fast alle. Wir hatten glaubten, die Menschen würden innehalten; wir glaubten, dass wenigsten die Religiösen das Ende in Gleichmut erwarten können. Wir waren sogar so vermessen, wenigstens uns selbst für besonnen zu halten. All das war, wie wir wissen und wie nun auch ihr wissen werdet, ein Trugschluss. An den ersten beiden Tagen des Novembers starben nach groben Schätzungen 526 Millionen Menschen. Ich kann nicht definitiv sagen, wie viele davon Selbstmord begingen, viele waren es nicht, in jedem Fall überwogen die Morde. Ich weiß nicht, warum die Menschen töteten; ich weiß nicht, warum ich tötete. Ich erinnere mich an eine ältere Frau aus dem Haus nebenan, die ich totschlug; ich erinnere mich an ihr Gesicht, an ihr Schreie, an ihr Flehen, aber nicht an das Warum. Ich erinnere mich auch an nichts Animalisches, an keine Ekstase. So war es bei allen, die ich umbrachte; ich tat es einfach, ich tat es geplant, ohne Wut, aber auch ohne Grund. Natürlich waren unter meinen Opfern auch solche, die mich töten wollten, und manchmal möchte auch ich mich heute noch darauf zurückziehen, dass ich in Notwehr gehandelt habe, aber das ist einfach nicht die Wahrheit; die Frau etwa, von der ich sprach, sie saß in einem alten Lehnstuhl auf ihrer Veranda. Als sie mich kommen sah, kreischte sie.

Zeitindex +5

Es gibt auch keine Studien zu der Frage nach den Gründen. Ich habe versucht, unauffällig Daten darüber zu sammeln, und alle, mit denen ich sprach, sagten mir Ähnliches. Es schien uns egal zu sein: Es war egal. Aus irgendeinem Grund waren in uns alle Dämme gebrochen, weil wir das Ende erwarteten, und das Allzumenschliche brach hervor. Wir brachten unsere Frauen und Männer um; unsere Kinder, unsere Nachbarn, irgendjemanden; wir brandschatzten, vergewaltigten; wir feierten. Niemand kann mir sagen, was wir feierten, vielleicht feierten wir einfach Nichts. Ich weiß es nicht, und die Erinnerung daran ist verschwommen. Wir tranken, wir koksten, wir konsumierten alles, was wir finden konnten. Natürlich blieben wir dabei die meiste Zeit allein und saßen zugedröhnt in irgendeinem Keller, aber in den größeren Städten soll es Nachts einen regelrechten Waffenstillstand gegeben haben, ohne dass irgendjemand diesen hätte ausrufen müssen oder können. Wenn der Rausch vorbei war, dann zogen wir wieder los und brachten jemanden um.
Die Große Schande (2) Man sollte glauben, dass diese Lebensweise irgendwann ermüdete; das man mit jedem Rausch, mit jedem Toten müder wurde, bis schließlich die Lethargie und das Versöhnliche überwog. Heute erscheint es auch mir unverständlich; irgendwann hätten wir genug haben müssen. Dann hätten wir uns auf den Boden gesetzt und auf das Ende gewartet, darauf, dass es endlich kam. Aber diese Sättigung setzte nicht ein; die Menschen feierten, die Menschen töteten, immerzu, immer wieder. Meine Frau und meine Tochter starben am 10. November. Ich weiß nicht, ob ich es war; ich habe nur eine zerfetzte Notiz mit diesem Datum bei ihren Leichen gefunden. Es war in meiner Handschrift verfasst; ich hoffe dennoch, es nicht selbst getan zu haben. Vielleicht war es jemand anders, wer weiß das schon. Ich lebte zu dieser Zeit in einem dünn besiedelten Gebiet in Italien, und dennoch habe ich mindestens 60 Menschen erschossen, erstochen oder totgeschlagen. Dabei kann ich mich noch ein wenig an die Gesichter erinnern, das ist alles. Ich weiß weder, wo ich in der Zeit bis zum 18. genau war, noch weiß ich, wie ich letztlich nach Tropea gelangte. So gut wie es möglich war, sprach ich mit anderen darüber; ein Mann aus Madeira versicherte mir erst letzte Woche, nicht weniger als 1200 Menschenleben ausgelöscht zu haben, einen ganzen Wohnblock.

Zeitindex +6

Niemand weiß, wie viele Menschen im Zeitraum vom ersten bis zum 18. November starben und wie viele vorher schon gestorben waren. Feststeht, dass es am 18. November wohl noch etwa 1600 Millionen Menschen gab. Das Objekt muss zu diesem Zeitpunkt einen Durchmesser von nicht weniger als 850 Kilometern besessen haben, ich erinnere mich, es über den Bergen gesehen zu haben. Es hatte die Farbe des Himmels, das weiß ich noch, und wenn man nicht auf das leichte Glitzern achtete, dann konnte man es fast übersehen. Ich verbrachte den Tag damit, einen alten Bauern, der ein alter Freund meines Vaters gewesen sein muss, durch die Halbwüste zu hetzen. Er lief noch schnell für sein Alter, aber letztlich muss ich ihn doch eingeholt haben; ich erinnere mich daran, dass ich ihn fallen sah. Möglich, dass ich den finalen Termin wirklich vergessen hatte. Vielleicht war er mir auch nur gleich. In meinem Bild von diesem Tag ist da einfach nur die Sonne, das glitzernde Ding im Norden und das Brennen der Pillen, die ich irgendwo eingeworfen hatte.
Als die Sonne unterging, legte ich mich wohl hin, einfach dort, wo ich gerade war: ich sah den Himmel über mir. Ich hatte keinen Hunger, keinen Durst; Ich hatte noch genug Tabletten bei mir. Irgendwann hörte ich das Geräusch, dass ich schon einmal zuvor gehört hatte. Einige Zeit später stand ich auf und sah in Richtung Norden.
Das Objekt verschwand gegen 22:30 Uhr vollständig. Niemand weiß es so ganz genau, weil kaum jemand auf die Uhr schaute.

Die Große Schande (1)

geschrieben am 24. März 2009 um 17:00 Uhr

Liebe Leser, ich habe nach langer Arbeit einen sehr schönen Text fertiggestellt. Aufgrund seiner Länge habe ich beschlossen, ihn zunächst stückweise zu veröffentlichen. Jeden Tag um 10 Uhr erscheint ein neuer Teil. Viel Spaß beim Lesen.

Zeitindex +0

Was würde geschehen, wenn die Welt morgen aufhören würde zu sein?
Was wäre mit den Menschen, wenn sie davon wüssten?
Wie würden sie sich verhalten? Wären sie wie Menschen? Wären sie wie Tiere?

Auf all diese Fragen gibt es eine Antwort, die man euch lange vorenthalten hat. Vielleicht ist es eine Art von Verrat, sie euch zu geben; vielleicht ist es falsch, den Schleier des Nichtwissens von euch zu nehmen. Nur die Geschichte wird ein solches Urteil fällen können – doch kann es ein solches Urteil noch geben, wenn es nicht die wahrhaftige Geschichte ist, die dort richtet, sondern eine erfundene, eine erlogene Geschichte?

Aus der Zeit des Anfangs ist nicht mehr viel erhalten. Bei der Suche nach Quellen konnte ich den genauen Ursprung, die genaue Ursache für das Ereignis nicht ausmachen. Klar ist, dass es im September 2088 erstmals von den Medien aufgegriffen wurde, aber da war die Anlage schon zerstört worden. Auch das Phänomen selbst konnte ich bei meinen Recherchen nicht eindeutig identifizieren; die meisten Aufzeichnungen sind schon gelöscht. Es muss sich um eine Art Artefakt gehandelt haben, nicht direkt um eine Singularität, aber um etwas Ähnliches; vielleicht ein unwahrscheinlicher Übergang oder eine lokale C-Streckung. Die Daten geben nicht mehr her. Wichtig ist nur, dass es rein physikalisches Objekt war; das wurde mehrmals empirisch bestätigt. Nach den Messungen hatte es die vorausberechnete Abstrahlcharakteristik eines Nullstrahlers, kaum gefährlich, wenn man sich nicht in direkter Nähe befand.

Zeitindex +1

In den ersten Tagen wussten wir genauso wenig, was vorging, wie die Journalisten; im Fernsehen sah man immer wieder diesen dunklen Fleck mitten in einem Rapsfeld irgendwo in den Alpen; der Fleck reflektierte zum Teil die dunkle Erde, aber an einigen Stellen auch den Raps, und ich erinnere mich, in einer Liveschaltung das Wachstum dieses Flecks verfolgt zu haben; ich sah es mit meiner Tochter zusammen. Es war vielleicht die Spiegelung des gelben Rapses, die eine Panik noch verhinderte. Irgendwie schien es nicht gefährlich, dieses kleine Ding im Raps. Dennoch war klar, das etwas sehr Beunruhigendes vorging, zumal man zusehen konnte, wie das Ding langsam wuchs. Trotzdem verschwand es gegen Mitte September aus dem Programm, vermutlich hatten die Regierungen einen Informationsstop verhängt.
Ich weiß nicht mehr, was zwischen Mitte September und Anfang Oktober geschah, aber das ist nicht ungewöhnlich. Es muss Alltag gewesen sein; von dem ist mir nicht viel geblieben aus dieser Zeit.
Am 3. Oktober wurde das Ding schlagartig größer. Es muss vormittags geschehen sein, oder aber erst gegen Mittag. Der Durchmesser vergrößerte sich wohl von drei Metern auf 100 Kilometer, so sagte man es zumindest in den Nachrichten. Die meisten Berichterstatter in der Schweiz wurden von dem Ding einfach verschluckt, in Sekunden oder Minuten, daher gab es nur noch Satellitenbilder von dem Objekt. Aus dem Orbit sah es aus wie eine dunkle Blume; die Sterne funkelten darin, und der Kommentator wurde nicht müde, auf den silbernen Fleck hinzuweisen, der die Spiegelung des Satelliten zu sein schien.

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Wenn ich daran zurückdenke, ist es seltsam, was mir erhalten geblieben sind; das Ding verschwand von da an nicht mehr aus dem Fernsehen, und ich weiß noch genau, was die Fernsehsprecher berichteten, immer und immer wieder. Dutzende von Wissenschaftler wurden interviewt, sie alle sagten immer nur das gleiche. Eine präzise, physikalische Antwort lieferten sie nie, aber das mag dem Publikum geschuldet gewesen sein. Irgendwann muss ich im Netz einige theoretische Arbeiten dazu gelesen haben, die man hektisch zusammengestückelt hatte, aber daran erinnere ich nicht mehr genau. Daher kann ich auch nicht sagen, was genau dieses Ding war. Geblieben sind mir vor allem diese Bilder auf dem Bildschirm. Die aus dem Rover, den man an das Loch heranfuhr; die Spiegelung des Rovers in einem silbrigen Nichts, das sich langsam ausdehnte. Die Metallstange, die man in die Anomalie schob, um sie entsprechend verkürzt und mit glühendem Ende wieder herauszuziehen. Die Aufnahmen von den startenden Interkontinentalraketen, ihr wirkungsloses Eindringen ins Ziel.
Ich denke, es dauerte etwa ein oder zwei Wochen, bis die Prognosen kamen. Ich erinnere mich an drei oder vier Interviews mit Theoretikern, die plötzlich durch Bildstörungen beendet wurden; ich nehme an, die Regierungen oder das Militär haben die Ausstrahlung unterbunden. Letztlich war das egal; einige Sender gingen nach diesen erzwungenen Störungen nie wieder auf Sendung, auf anderen konnte man später die kalkweißen Gesichter der Reporter sehen, die stotternd nach einer Entschuldigung suchten. Es war klar, dass es schlimm um uns alle stand, und das auch ganz ohne wissenschaftliche Erklärung. Zu diesem Zeitpunkt gab es die ersten Unruhen, meist in den größeren Städten. Einige Endzeitsekten begingen kollektiven Selbstmord, wenn die Armee sie nicht daran hinderte. Im Großen und Ganzen jedoch blieb es relativ ruhig; Gewaltausbrüche wurden rigoros niedergeschlagen. Das Fernsehen zeigte zwischen Nachrichten und Satellitenbild immer häufiger Gottesdienste oder Andachten; einmal habe ich sogar eine Live-Übertragung aus einer Moschee gesehen. Auch in meiner Gegend gingen immer mehr Menschen in die Kirche. Vielleicht war ich auch da, einige Male, das ist möglich, mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.
Schließlich, es muss Mitte Oktober sein, wurde auf allen Sendern gleichzeitig der Wortlaut eines Papiers verlesen, auf dass sich die nationalen Wissenschaftsräte geeinigt hatte; ich weiß nicht, warum die Regierung es zuließ, vermutlich warum sie zu der Überzeugung gelangt, dass alle das Recht hätten, es zu erfahren. Mir ist nicht bekannt, wie sie zu diesem Entschluss gelangten; ich kann ihn dennoch gut verstehen.

Zeitindex +3

Der Bericht hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf, er nannte Daten. Jeder Mensch, den damals lebte, muss den Wortlaut noch genau in Erinnerung haben; Unsere Berechnungen hinsichtlich der Entwicklung der Störung wurden auf nationaler und auch auf internationaler Ebene hundertfach wiederholt und mehrfach verglichen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Radius des Objekts mit einer mittleren Geschwindigkeit von 50m pro Tag wachsen wird. Weiterhin ist unstrittig, dass nach der sprunghaften Expansion, die wir schon erlebt haben, weitere folgen werden. Es ist uns uns möglich gewesen, diese Sprünge exakt zu berechnen. Am 1. November wird es in den Morgenstunden auf einen Radius von etwa 743,25 Kilometer plus minus drei Meter anwachsen. Am 18. November wird es gegen 22:00 Uhr auf einen Radius von 11343,34 Kilometern plus minus zwei Meter anwachsen. Damit wird die Anomalie die gesamte Erde einschließen. Die Chance, dass nach diesem Zeitpunkt noch irgendeine Art von Leben auf der Erde existiert, ist Null.
Nachdem ich diese Worte zum ersten Mal gehört hatte, sah ich herüber zu meiner Frau. Sie hielt unsere Tochter im Arm. Beide weinten; das ist der letzte Moment mit ihnen, der mir im Gedächtnis geblieben ist.
Ich weiß nicht, warum sie das Wort Weltuntergang nicht verwendeten, auch nicht Apokalypse, nicht Armageddon. Nach der Verlesung jedenfalls waren die Fernsehsender voll von diesen Worten, zumindest, solange sie noch arbeiteten. Eigentlich war jedes Gespräch voll von diesen Begriffen und vor allem von diesem Gedanken.
Natürlich gab es unmittelbar danach große Unruhen; Buenos Aires brannte, Tokio. New Orleans. Einige europäische Städte fielen ebenfalls in den ersten Tagen nach der Botschaft. Was in Zentral- und Ostasien geschah, kann niemand mehr genau sagen, die Chinesen kappten alle Verbindungen zum Ausland und es sind zu wenige Menschen übrig geblieben, die man heute noch fragen könnte. Das Militär zog sich aus den Unruhegebieten zurück, zumindest war das die Aussage der wenigen verbliebenen Fernseh- und Radiosender. Dennoch herrschte eine doch recht gefasste Stimmung. Soziologen und Psychologen meiner Generation wussten nie, warum das so war; einige schoben es auf eine Art retardiertes Moment der menschlichen Psyche, andere verwiesen auf lang tradierte, äußerst stabile gesellschaftliche Systeme und meinten damit vor allem die Kirchen.
In der Tat waren die Kirchen in diesen Tagen voll mit Menschen, ich bin mir sicher, ich war auch einer von denen, die sich dorthin flüchteten. Andere zogen sich in ihre eigenen Vorstellungen zurück; in die von einem Jenseits, in die von einer letztendlichen Gerechtigkeit, die die Menschheit nun traf. Wieder andere hielten ihre politischen Botschaften aufrecht, manchmal sah man sie noch im Fernsehen. Sie sprachen vom Frieden; oder von der Würde des Menschen, die selbst im Angesicht des Untergangs nicht verloren ging. Und tatsächlich verlief sogar die Flucht der Millionen Mitteleuropäer nach Westen oder Osten recht ruhig ab.
Dann, es muss in den letzten Tagen des Oktobers gewesen, leerten sich die Kirchen wieder. Niemand weiß, woran das lag; die Wissenschaftler haben auch hierzu ihre Theorien, aber keine klingt in meinen Ohren plausibel. Ich weiß nur, dass der Fernseher plötzlich nur leere Kirchen zeigte.
Irgendwann am Morgen des 1. Novembers hörte ich ein lautes Geräusch; ich saß auf der Terrasse, niemand von uns hatte schlafen können. Es war ein Geräusch wie das eines Autos, das scharf bremste, nur viel durchdringender und lauter. Ich erinnere mich, wie ich nach Norden sah; es war noch dunkel, aber ich konnte das silberne Glänzen des Lochs erkennen. Mitteleuropa war verschwunden.

Fortsetzung folgt.